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Serie: Jüdisches Leben in Göttingen, Teil 9


Foto: Christine Hinzmann „Ermordet in Auschwitz“ steht auf einigen Stolpersteinen in Göttingen. Dahinter verbergen sich dramatische Schicksale von Göttinger Bürgerinnen und Bürgern. Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erzählt Historiker Peter Aufgebauer ihre Geschichte.

Göttingen. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, das größte nationalsozialistische Vernichtungslager. Mehr als eine Million Menschen waren hier systematisch ermordet worden. Sechzig Jahre später erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 27. Januar zum Tag des jährlichen Gedenkens an die Opfer des Holocaust. In Deutschland galt dieser Tag bereits seit 1996 als bundesweiter gesetzlicher Gedenktag. Weltweit steht der Begriff „Auschwitz“ für organisierten nationalsozialistischen Massenmord aus rassischen Gründen. Bundespräsident Roman Herzog führte anlässlich der Proklamation des 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus aus: „Die Erinnerung darf nicht enden, sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“

In Auschwitz ermordet

Auch in Göttingen wird jedes Jahr am 27. Januar der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass „Auschwitz“ auch direkt und unmittelbar mit Göttingen und seiner Geschichte zu tun hat: „Ermordet in Auschwitz“ steht auf dem Stolperstein für Änne Meininger, der vor vier Jahren in der Lotzestraße, vor ihrer letzten Göttinger Wohnung, verlegt wurde. Im Frühjahr 1938 war ihr noch die Flucht nach Luxemburg und dann weiter nach Frankreich gelungen. Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht wurde sie verhaftet und mit Tausenden französischer Juden in das Sammellager Drancy nordöstlich von Paris verbracht. Mit einem Sammeltransport wurde sie 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ihrer Tochter Hildegard war schon 1935 die Flucht nach Bulgarien gelungen, ihr Sohn Franz Josef konnte 1938 nach Palästina fliehen.

Vor dem Haus Rote Straße 16 wurde vor sechs Jahren ein Stolperstein für Herbert Meyerstein verlegt; er hatte die Albanischule und die Vogtschule besucht und eine kaufmännische Lehre absolviert. 1939 gelang ihm die Flucht nach Holland, wo er dann nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht verhaftet und in das Sammellager Westerbork in der Provinz Drenthe verbracht wurde. Mehr als 100 000 Häftlinge, darunter auch Anne Frank, wurden von hier aus in die Vernichtungslager transportiert, der siebzehnjährige Herbert Meyerstein im Jahr 1942 nach Auschwitz; hier wurde er am 28. August ermordet.

Vor drei Jahren wurden in der Weender Straße 19/21 vor dem heutigen Geschäftshaus C&A neun Stolpersteine verlegt, darunter auch der für Anneliese Gräfenberg. Zusammen mit ihrem Mann Jacob Dickstein und dem gemeinsamen Sohn Peter floh sie 1937 in die Tschechoslowakische Republik. Im Jahre 1942 wurden sie verhaftet, zunächst nach Theresienstadt und 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

„Ermordet in Auschwitz“ steht auch auf den Stolpersteinen, die am 21. September des vergangenen Jahres in der Wöhlerstraße 6 zur Erinnerung an Arnold und Betty Meyerstein verlegt wurden.

Mehr als 40 jüdische Kinder, Frauen und Männer aus den damaligen Landkreisen Göttingen, Duderstadt und Hann. Münden sind nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden, andere wurden nach Theresienstadt, Warschau, Minsk, Treblinka und Sobibor verschleppt und umgebracht.

fünf Bronzetafeln an die 282 hier namentlich genannten jüdischen Bürger aus Stadt und Kreis Göttingen, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geworden sind. Rund 90 Stolpersteine sind in den vergangenen zehn Jahren in Göttingen vor der letzten selbst gewählten Wohnstätte verlegt worden; so soll nach und nach – entsprechend dem Konzept des Kölner Künstlers Gunter Demnig – die Erinnerung an jeden Einzelnen der Verfolgten und Ermordeten in unsere Stadt und unseren Alltag zurückgeholt werden.

Der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ unterstützt das Projekt der Stolpersteine ausdrücklich: „Durch die Stolpersteine kommen die Menschen im Alltag mit dem Thema – für sie überraschend und unvorhergesehen – in Berührung. Stolpersteine verdeutlichen, dass jene Menschen, die grausam ermordet wurden, mitten unter uns gelebt haben und dass ihre Entrechtung und Verfolgung vor aller Augen passiert ist. Durch das Lesen der Inschriften der Messingsteine verbeugen wir uns wortwörtlich vor den Menschen, die dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen.“

Im Februar 2018 wurden in der Groner Straße vor dem Haus Nr. 52 vier Stolpersteine für Angehörige der Familie Silbergleit verlegt; Paul und Rosa Silbergleit, Inhaber eines Schuhgeschäfts, wurden jahrelang drangsaliert, dann 1942 zunächst in das Warschauer Ghetto deportiert und schließlich in Treblinka ermordet. Ihr Sohn Erich konnte 1938 in die USA fliehen.

Auschwitz überlebt

Die Tochter Gerda Silbergleit war von ihren Eltern schon 1933 nach Lubochna in der Tschechoslowakei geschickt worden, auch um die gerade 21 Jahre alte junge Frau vor öffentlicher Anpöbelei durch organisierte Nazis zu schützen. Sie trat eine Stelle in einem Hotel an, dessen Inhaber Mundek Buergenthal noch im selben Jahr ihr Mann wurde. Im Jahr darauf wurde ihr Sohn Thomas Buergenthal geboren. Als im Winter 1938/39 die sogenannte Hlinka eine von Deutschland unterstützte faschistische Miliz, das Hotel okkupierte, flüchtete die Familie über Kattowitz und Warschau schließlich, schon unter den Bedingungen des von Deutschland begonnenen Krieges, nach Kielce, rund 180 Kilometer südlich von Warschau gelegen.

1941 wurde der mehrheitlich von Juden bewohnte Bezirk der Stadt zum Ghetto erklärt. 1942 konnten Gerda und Mundek Buergenthal, Gerdas Eltern, Rosa und Paul Silbergleit, aus dem Warschauer Ghetto zu sich nach Kielce holen und sie so vor der mörderischen Liquidierung des Warschauer Ghettos durch die SS retten. 1944 wurde das Ghetto Kielce auf Weisung der Gestapo aufgelöst und seine jüdischen Bewohner in die Vernichtungslager deportiert; Paul und Rosa Silbergleit wurden nach Treblinka gebracht und dort bald nach der Ankunft ermordet.

Mundek Buergenthal, seine Frau Gerda und der zehnjährige Sohn Thomas wurden nach Auschwitz gebracht. Sie überlebten unter unsäglichen Bedingungen – getrennt voneinander – das Vernichtungslager Auschwitz, und sie überlebten schließlich sogar, getrennt voneinander, die Todesmärsche. Mundek Buergenthal wurde in Flossenbürg, wenige Tage vor der Befreiung des Lagers, zusammen mit vielen anderen Häftlingen erschossen, damit sie nicht in die Hände der Alliierten fielen.

Gerda kam zunächst nach Ravensbrück, wo sie am 28. April 1945 im Außenlager Malchow von der Roten Armee befreit wurde. Thomas Buergenthal überlebte als elfjähriges Kind den Todesmarsch nach Sachsenhausen, wo er ebenfalls im April 1945 befreit wurde. Erst eineinhalb Jahre später, nach Suchaktionen mit Hilfe der Jewish Agency, trafen Gerda Buergenthal und ihr Sohn Thomas im Dezember 1946 hier in Gerdas Heimatstadt Göttingen wieder zusammen. Nach längerer Vorbereitung durch einen Privatlehrer konnte Thomas Buergenthal das Felix-Klein-Gymnasium besuchen und seinen Abschluss machen.

1951 wanderten seine Mutter und er in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, wo Thomas Buergenthal schließlich als Jurist mit dem Interessenschwerpunkt Internationales Recht und Menschenrechte eine beeindruckende Laufbahn einschlug. Sie führte ihn über verschiedene Hochschulprofessuren schließlich als Richter an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, das hauptsächliche Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Heute lebt er mit seiner Familie in Washington D.C.

Vor zehn Jahren ehrten ihn Stadt und Universität Göttingen durch Verleihung der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät und die Umbenennung des Hauses der Stadtbibliothek in „Thomas-Buergenthal-Haus“. 1939 hatte sich in diesem Haus das Polizeigefängnis befunden, wo seine Großeltern Paul und Rosa Silbergleit nach dem Novemberpogrom inhaftiert worden waren. Im Jahre 2017 wurde ihm das Große Bundesverdienstkreuz verliehen für seine Arbeit auf dem Gebiet der Menschenrechte. Thomas Buergenthal und seine Frau Peggy sind im Februar 2018 mit Kindern und Enkeln nach Göttingen gekommen, um an der Verlegung der Stolpersteine für Paul und Rosa Silbergleit und ihre Kinder Gerda und Erich teilzunehmen.

Info:

Peter Aufgebauer ist ein Göttinger Historiker. Bis 2013 war er Professor am Institut für Historische Landesforschung. Seit seiner Emeritierung ist Aufgebauer Vorsitzender des „Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung.