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Serie: Jüdisches Leben in Göttingen, Teil 8
Göttinger Erinnerungskultur


Foto: Christine Hinzmann Auf den fünf Bronzetafeln im Synagogenmahnmal sind 282 Namen der im Nationalsozialismus ermordeten Juden aus Stadt und Landkreis Göttingen verzeichnet.

Göttingen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in Göttingen verschiedene Ausprägungen einer etablierten Kultur der Erinnerung an die jüdischen Einwohner der Stadt, ihre Geschichte und ihr Schicksal herausgebildet. Eine wichtige Grundlage dafür waren Forschungen zur Stadtgeschichte, deren Ergebnisse in Publikationen und Ausstellungen veröffentlicht wurden. Dabei haben kommunale Einrichtungen wie Stadtarchiv und Städtisches Museum mit der Universität und der Universitätsbibliothek zusammengearbeitet – ein charakteristisches Göttinger „Alleinstellungsmerkmal“.

Gedenken und erste Dokumentationen

An dem 1973 eingeweihten Mahnmal am Standort der im Novemberpogrom 1938 zerstörten Synagoge findet seit vielen Jahren jedes Jahr zum 9. November eine Gedenkveranstaltung statt, die von jeweils mehreren Hundert Teilnehmern besucht wird – hier zeigt die Zivilgesellschaft auf eindrucksvolle Weise Flagge. Die Einweihung des Mahnmals im Jahre 1973 wurde begleitet von der Veröffentlichung der Dissertation von Peter Wilhelm, „Die jüdische Gemeinde in der Stadt Göttingen“ und von einer vielbeachteten Ausstellung im Städtischen Museum über „700 Jahre Juden in Südniedersachsen. Geschichte und religiöses Leben“ unter der Verantwortung des Museumsleiters Dr. Waldemar Röhrbein. Peter Wilhelm ließ fünf Jahre später noch eine Untersuchung über „Die Synagogengemeinde Göttingen, Rosdorf und Geismar 1850-1942“ folgen, in der erstmals auch umfangreiche Personallisten zur Geschichte der Göttinger Juden veröffentlicht worden sind – eine auch heute noch wichtige Dokumentation. Im Verlauf seiner Forschungsarbeit hatte er auch Verbindungen zu überlebenden Juden in Israel und den USA aufnehmen können beziehungsweise zu deren Nachkommen.

Jeweils im Abstand einiger Jahre folgten dann weitere Publikationen und Veranstaltungen, welche die Erinnerung an die örtliche und regionale jüdische Geschichte aufrecht erhielten und vertieften. Hier kann nur ein kleiner Teil der zahlreichen Publikationen und Aktivitäten genannt werden.

Die Erinnerungen des letzten Rabbiners

Einen Höhepunkt bildeten dann im Jahre 1990 die zunächst im Göttinger Verlag Schwartz & Co. erschienenen Erinnerungen des letzten Göttinger Rabbiners Dr. Hermann Ostfeld, der wenige Wochen vor dem Novemberpogrom Göttingen und Deutschland verlassen und 1951 in Israel seinen Namen in Zvi Hermon hebraisiert hatte. Er bildete sich als Psychotherapeut aus, arbeitete im Strafvollzug und wurde schließlich wissenschaftlicher Direktor der israelischen Gefängnisverwaltung; von 1968 bis 1973 lehrte er als Gastprofessor für Kriminologie an der Southern Illinois University in den USA. Die Anregungen zur Niederschrift des mehr als 600 Druckseiten umfassenden Werkes waren aus seiner Familie und von dem Göttinger Geschichtslehrer Ulrich Popplow gekommen; Popplow hatte im „Göttinger Jahrbuch“, der Zeitschrift des Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung, unter anderem eine auf umfangreiche Archivstudien gegründete Untersuchung zum Novemberpogrom veröffentlicht. Kommunale Institutionen und Gremien von Stadt und Landkreis förderten Zvi Hermons Erinnerungswerk und luden ihn zur Vorstellung nach Göttingen und Duderstadt ein. Im Rahmen von Podiumsgesprächen und durch Interviews kam nach mehr als einem halben Jahrhundert wieder ein lebhafter Kontakt des letzten Rabbiners für Göttingen und Südhannover mit der Stadt und der Region zustande. In Hermons umfangreichem Erinnerungswerk machen die Göttinger Jahre mit rund 80 Druckseiten zwar nur einen verhältnismäßig geringen Teil aus, aber diese Jahre waren – wie er schrieb – trotz aller Drangsal für den jungen Rabbiner „die schönste Zeit meines Lebens“. Das Buch ist im Göttinger Wallstein Verlag noch heute lieferbar.

Das Gedenkbuch von 1992

Während Zvi Hermon in Israel an seinen Memoiren arbeitete, besuchte ihn 1987 Prof. Dr. Karl-Heinz Manegold, Göttinger Kreistagsabgeordneter (CDU) und Historiker an der Universität Hannover. Im folgenden Jahr initiierte Manegold ein an der Göttinger Kreisvolkshochschule angesiedeltes Forschungsprojekt des Landkreises, und der Göttinger Kulturdezernent Joachim Kummer (CDU) parallel dazu eins der Stadt Göttingen. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschungsaufträge erarbeiteten Uta Schäfer-Richter, Jörg Klein, Rainer Sabelleck und Matthias Manthey das Werk „Die jüdischen Bürger im Kreis Göttingen 1933-1945. Göttingen – Hann. Münden – Duderstadt. Ein Gedenkbuch“; es erschien 1992 im Göttinger Wallstein Verlag und bot auf mehr als dreihundert großformatigen Druckseiten mehr als 800 Einzelbiographien jüdischer Schicksale aus dem Gebiet von Stadt und (damaligem) Landkreis Göttingen. Wie Zvi Hermons Erinnerungen hält der Verlag auch dieses Grundlagenwerk lieferbar.

Erweiterung des Synagogenmahnmals

Das Gedenkbuch von 1992 bildete dann drei Jahre später die verlässliche Grundlage für eine Erweiterung des Synagogenmahnmals: An den Innenwänden des Untergeschosses wurden 1995 auf Initiative der Kulturverwaltung fünf Bronzetafeln angebracht, auf denen die 282 Namen der im Nationalsozialismus ermordeten Juden aus Stadt und Landkreis Göttingen verzeichnet und damit öffentlich bekannt gemacht sind. Auch an anderen Plätzen der Stadt sind das mahnende Erinnern und die öffentliche Nennung von Namen der Verfolgten sichtbar: Bereits 1989 war im Vorraum der Aula eine Gedenktafel angebracht worden; namentlich sind hier 53 Universitätsangehörige erwähnt, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und vertrieben wurden. Einer privaten Initiative der Göttinger Hinrich Lange und Prof. Friedhelm Zubke folgend, ließ die Universitätsleitung dann 2017 neben dem Eingang eine Tafel anbringen, die 95 Namen verfolgter Universitätsangehöriger nennt. „Viele kehrten nicht mehr zurück. Die Erinnerung an sie wachzuhalten und sich der Verantwortung für das ihnen zugefügte Leid zu stellen, bleibt Pflicht der Universität“ – so beginnt der Text, den Studenten des Göttinger Historikers Dirk Schumann entworfen haben. Ebenfalls mit seinen Studenten hatte Prof. Schumann bereits 2016 die Initiative für eine Stele ergriffen, die am Standort des ehemaligen „Judenhauses“ an der Weender Landstraße enthüllt wurde und die Namen der dort zur Vorbereitung der Deportation eingewiesenen Juden nennt.

Ausstellung „Jüdischer Glaube – Jüdisches Leben“

Im Jahre 1996 fand in der Paulinerkirche die Ausstellung „Jüdischer Glaube – Jüdisches Leben. Juden und Judentum in Stadt und Universität Göttingen“ statt, begleitet von einem umfangreichen Katalog, der auch einen Aufsatzteil enthält, ferner einem Rahmenprogramm von fünf Vorträgen. Thematisiert wurden die Architektur niedersächsischer Synagogen, religiöse jüdische Gebräuche, jüdisches Schrifttum des Theologischen Seminars und der Universitätsbibliothek, ferner Exponate und Aufsätze über „Juden und Judentum an der Georgia Augusta“ sowie zur „Geschichte der Juden in Niedersachsen und schließlich ein Kapitel „Geschichte der Juden in Göttingen und Südniedersachsen“.Mit diesem Obertitel und dem Untertitel „Die ‚Entjudung‘ der Wirtschaft am Beispiel Göttingens“ erschien 1997 die mehr als 300 großformatige Druckseiten umfassende Darstellung des Geologie-Studenten Alex Bruns-Wüstefeld. Er forschte aus eigenem Antrieb, höchst motiviert, und mit entschiedenem, auch sehr subjektivem Urteil. Erstmals ging er für Göttingen der Frage nach, wie die Zerstörung der jüdischen Geschäftswelt, die sogenannte „Arisierung“ konkret organisiert wurde, wer die Opfer, wer die Täter und wer die Nutznießer – noch lange nach dem Ende der NS-Zeit – waren. Da er zunächst ohne eine verantwortliche wissenschaftliche Betreuung blieb, hatte er beim Zugang zu manchen personengeschützten Unterlagen erhebliche Widerstände zu überwinden. Aber das Ergebnis war eine eindrucksvolle, über Göttingen hinaus beachtete Forschungsleistung. Im zweiten Teil des Werkes sind alle jüdischen Geschäfte, die 1933 in Göttingen bestanden, aufgeführt und das Schicksal der Eigentümer und ihrer Familien im Einzelnen beschrieben.

Stolpersteine zum „Innehalten im Alltag“

Das Buch „Lohnende Geschäfte“ und das „Gedenkbuch“ von 1992 bilden in Göttingen die wichtigste Grundlage für das Projekt der „Stolpersteine“. Der Kölner Künstler Gunter Demnig hatte im Jahre 1992 begonnen, Betonwürfel mit einer Kantenlänge von etwa 10 cm, die eine beschriftete Messingplatte mit Namen und Daten von Opfern des NS-Regimes tragen, im öffentlichen Raum zu verlegen. Rasch verbreitete sich die Idee, durch Verlegung solcher Steine vor den letzten selbst gewählten Wohnstätten verfolgter und ermordeter Juden die Erinnerung an sie in die Gegenwart und den heutigen Alltag zurückzuholen. Innerhalb jüdischer Gemeinden und unter Rabbinern wurde das Projekt kontrovers diskutiert. Jüdische Namen, die auf -el enden – wie Michael, Gabriel, Samuel – beziehen sich auf Gott (hebr. Elohim), und so würde der Name Gottes „mit Füßen getreten“ und „dem Schmutz ausgesetzt“. Entgegen dieser auch in Göttingen vertretenen Position hat sich das Projekt selbst aber zu einem europaweiten, stetig wachsenden Flächenmahnmal von Sizilien bis Norwegen entwickelt; mehr als 75 000 Stolpersteine sind mit Unterstützung durch örtliche jüdische Gemeinden, Geschichtsvereine und Arbeitskreise, gefördert von Kommunen und den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, verlegt worden.


Foto: Christine Hinzmann Schülerinnen der KGS putzen die Stolpersteine.

Für Göttingen gilt, dass Angehörige oder Nachkommen der Verlegung zustimmen müssen. So konnten bisher in Göttingen mehr als dreißig Stolpersteine unter großem Zuspruch und Anteilnahme aus der Zivilgesellschaft verlegt werden. Aus Südamerika, den USA, den Niederlanden, aus München, Hamburg, Berlin und Schleswig-Holstein sind Angehörige der durch die Verlegung Geehrten eigens nach Göttingen gekommen. Vielfach haben sie geäußert, dass die Verlegung der Stolpersteine ihnen ein dringendes persönliches Anliegen sei.

Die Bedeutung der Stolpersteine benennt Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, folgendermaßen: „Die kleinen Messingsteine lassen uns immer Die Bedeutung der Stolpersteine benennt Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats wieder mitten im Alltag innehalten: Wir beugen uns hinunter, um den Namen lesen zu können. Wir verbeugen uns vor den Menschen, die den Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Und uns wird bewusst: Sie lebten hier, mitten unter uns. Es waren Nachbarn. Und auch wenn es heute keine Angehörigen mehr gibt: Sie sind nicht vergessen!“

Info:

Peter Aufgebauer ist ein Göttinger Historiker. Bis 2013 war er Professor am Institut für Historische Landesforschung. Seit seiner Emeritierung ist Aufgebauer Vorsitzender des „Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung.