Kennkarte von Lissy Asser in einem Karteikasten im Göttinger Stadtarchiv: In einem Sammeltransport am
26. März
Foto: Christine Hinzmann
Göttingen. Im September 1935 trat der erst 23 Jahre alte Dr. Hermann Ostfeld, der sich später in Israel Zvi Hermon nannte, sein Amt als Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Göttingen an. In seinen Erinnerungen schildert er auch folgende Begebenheit: An einem Schabbat Vormittag, schon während des Gottesdienstes, trat der Synagogenvorsteher Max Hahn an ihn heran und berichtete: Er habe soeben erfahren, dass Georg Nußbaum, der Sohn desKaufmanns Isidor Nußbaum, den die Eltern im Jahr zuvor zu Verwandten in die USA geschickt hatten, um ihn vor Anfeindungen in der Schule, dem heutigen Felix-Klein-Gymnasium, zu schützen, an eben diesem Tag Barmizwa feierte und damit religionsmündig würde.
Der Vorsteher bat den Rabbiner, in der Predigt darauf einzugehen, damit die Gemeinde in Gedanken und im Gebet bei dem ja gerade erst Dreizehnjährigen sein könne, der diesen für ihn und seine Familie wichtigen Tag von den engsten Angehörigen getrennt begehen müsste. Zvi Hermon schreibt: „Aus meinem Herzen kamen auch Worte der Liebe, der warmen Anteilnahme an dem Geschick der Familie, die an diesem Tage nicht stolz und glücklich ihren Sohn, ihr Kind, in die Arme schließen konnte. Bald brach ein hartes Schluchzen aus den Eltern, die ganze Gemeinde weinte mit ihnen, und auch meine eigenen abschließenden Worte wurden von Tränen erstickt.“
Judenfeindliche Stimmung: Georg Nußbaum überlebte
Georg Nußbaum konnte das wichtige Fest der religiösen Mündigkeitsfeier wegen der judenfeindlichen Stimmung in Göttingen nicht mit seiner Familie begehen, aber er hat überlebt. Andere Kinder aus jüdischen Göttinger Familien konnten nicht gerettet werden, wurden deportiert und kamen in den Vernichtungslagern um.
Denn die NS-Rassenpolitik machte vor den jüdischen Kindern nicht Halt. Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, verfügte im September 1935 eine „völlige Rassentrennung in den Volksschulen“, wie das Göttinger Tageblatt unter der Schlagzeile „Besondere Schule für Juden in Göttingen“ meldete. Im Artikel heißt es dann: „Der rassenfremde Schüler bildet in der Klassengemeinschaft der arischen Schüler und Lehrer einen „Fremdkörper“, der sich als außerordentliches Hindernis im deutschbewußten nationalsozialistischen Unterricht bemerkbar macht. Derartige Zustände sind für die Durchführung eines ordnungsgemäßen Schulunterrichts unhaltbar."
Bei einer Mindestzahl von 20 „nichtarischen“ Schülern sollte eine separate jüdische Schule eingerichtet werden. Diese Mindestzahl wurde in Göttingen aber nicht erreicht, so dass die jüdischen Jungen und Mädchen zunächst weiterhin die Volksschulen besuchten – und weiterhin alltäglichen Anfeindungen ausgesetzt waren.
Reichspogromnacht: Keine Juden mehr indeutschen Schulen
Unmittelbar nach der Reichspogromnacht bestimmte Minister Rust im November 1938 durch Erlass, es könne „keinem deutschen Lehrer mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen. [...] Juden ist der Besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen.“
Den nun von der jüdischen Gemeinde notdürftig organisierten Privatunterricht für die etwa zehn jüdischen Kinder übernahm der Kantor der jüdischen Gemeinde, Heinz Junger. Er war im September 1935 nach Göttingen gezogen und wohnte mit seiner Frau Else im Gemeindehaus, einem Anbau der Synagoge in der Unteren Maschstraße. Ihre Tochter Jenny war gerade zwölf Tage alt, als in der Pogromnacht die Synagoge niedergebrannt und die Wohnung der Familie vor ihren Augen zerstört wurde. Heinz Junger flüchtete mit dem Säugling in das Krankenhaus Neu Maria Hilf, wo seine Frau entbunden hatte.
Kantor der jüdischen Gemeinde Göttingen unterrichtet Schüler
Nachdem seine Familie notdürftig anderweitig untergebracht worden war, nahm Heinz Junger im Januar 1939 die Unterrichtung der jüdischen Schulkinder auf, als Schulstube diente ein Raum im Gemeindehaus. Mit Beginn der Osterferien 1941 musste auch dieses Provisorium geschlossen werden und jüdische Kinder konnten keinerlei Unterricht mehr erhalten. Im folgenden Jahr, am 26. März 1942, wurde Heinz Junger zusammen mit seinerFrau Else und der dreijährigen Tochter Jenny in einem Sammeltransport aus Südniedersachsen in das Warschauer Ghetto verschleppt, wo sie ums Leben kamen.
Zu den Schülern, die der Kantor Heinz Junger unterrichtete, gehörten auch Kurt und Lissy Asser, die in Göttingen als Kinder des Kaufmanns Julius Asser und seiner Frau Jenny geboren geworden waren. Ihr Alltag war seit den späten zwanziger Jahren zunehmend von wirtschaftlich beengten Verhältnissen geprägt, innerhalb weniger Jahre mussten sie viermal umziehen. Seit der Mitte der dreißiger Jahre hatte die Familie, wie die meisten Juden in Deutschland, besonders unter den restriktiven und explizit judenfeindlichen Maßnahmen des Regimes zu leiden; so musste Julius Asser, der in den städtischen Meldeunterlagen als Kaufmann eingetragen ist, sich mehrfach als Hilfsarbeiter einer Tiefbaufirma verdingen. Als die politische Lage und die wirtschaftliche Situation es der Familie unmöglich machten, ihre Wohnung zu halten, stellte im September 1938 die jüdische Gemeinde einige Räume im Gemeindehaus zur Verfügung. Wie die Familie Junger verlor auch die Familie Asser in der Pogromnacht ihre Wohnung und musste mitansehen, wie ihr gesamter Besitz verbrannte.
Eine neue Bleibe fanden die Familie Asser und Bertha Fernich schließlich im Haus Papendiek 26. Eine Woche später mussten der zwölfjährige Kurt und die elfjährige Lissy Asser die Lutherschule am Ritterplan verlassen und in die notdürftige jüdische Privatschule von Heinz Junger gehen.
Als diese Notschule geschlossen werden musste, wurde die dreizehnjährige Lissy in einem jüdischen Internat in Kassel aufgenommen, der ein Jahr ältere Bruder Kurt begann eine Lehre. Mit dem Sammeltransport vom 26. März 1942 wurden Kurt und Lilly Asser zusammen mit ihren Eltern und ihrer Großmutter Bertha Fernich von Göttingen aus in das Warschauer Ghetto deportiert und ermordet.
Der Kinderkardiologe Dr. Wolfgang Ram, der zu den Nachkommen der Familie Asser zählt, hat in einem 2013 erschienenen Jugendroman „Das Feuermal – die verschwundenen Kinder“ das Schicksal von Kurt und Lissy Asser thematisiert; außerdem hat er sich an den fünf Stolpersteinenbeteiligt, die 2015 zum Gedenken der Familie in Göttingen verlegt wurden. In einer der bei diesem Anlass gehaltenen öffentlichen Ansprache hieß es: „Julius und Jenny Asser, ihre Kinder Kurt und Lissy und Jennys Mutter Bertha Fernich haben kein Grab, das Angehörige und Verwandte aufsuchen können. Diese Stolpersteine vor ihrer letzten Göttinger Wohnung sind von jetzt an der wichtigste Erinnerungsort an diese jüdische Göttinger Familie.“
Auch Eva und Ruth Barnaß wurden in der jüdischen Notschule von Heinz Junger unterrichtet. Eva, geboren 1931, hatte gerade die erste Klasse in der Volksschule absolviert, als der weitere Besuch öffentlicher Schulen für Juden verboten wurde. Sie nahm seit 1939 am Unterricht von Heinz Junger teil, ihre jüngere Schwester Ruth kam ein Jahr später dazu. Ihr Vater, der Kaufmann Hans Barnaß musste um dieselbe Zeit sein Geschäft aufgeben und sich als Hilfsarbeiter in der sogenannten Judenkolonne der Tiefbaufirma August Drege durchschlagen. Mit dem ersten Deportationszug am 26. März 1942 wurden die zehnjährige Eva Barnaß und ihre acht Jahre alte Schwester Ruth zusammen mit ihren Eltern über Hannover und Lublin in das Warschauer Ghetto verschleppt, wo sie umkamen; sie wurden nach dem Krieg für tot erklärt.
Löwensteins zogen von Gelliehausen nach Göttingen
Gerhard Löwenstein war neun Jahre alt, als sein Vater 1939 das Geschäft aufgeben musste und seine Eltern mit ihm und der gehbehinderten Schwester des Vaters, Hanny, von Gelliehausen nach Göttingen zogen. Wie andere, wirtschaftlich in den Ruin getriebene Juden fand auch Gerhards Vater Karl, von Beruf Kaufmann, eine Beschäftigung als Hilfsarbeiter bei der Tiefbaufirma August Drege. Gerhard besuchte, solange dies möglich war, den Unterricht von Heinz Junger in der jüdischen Notschule; sein Vater konnte für sich und die Familie ein Ausreisevisum nach Bolivien beschaffen, von dem er aber seiner behinderten Schwester zuliebe keinen Gebrauch machte. So wurde der zwölfjährige Gerhard Löwenstein mit seinen Eltern am 26. März 1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem in das Warschauer Ghetto deportiert, wo sie umkamen und nach dem Krieg für tot erklärtwurden.
Jüdisches Waisenhaus in Paderborn
Georg Meyerstein war zur Zeit des Novemberpogroms zehn Jahre alt und besuchte die Lutherschule. Als er am Tag nach der Niederbrennung der Göttinger Synagoge „verspätet, bleich und übernächtigt“ – so später ein Mitschüler – seine Klasse betrat, forderte ihn der Lehrer auf, sofort wieder nach Hause zu gehen und legte ihm nahe, er brauche überhaupt nicht mehr wiederzukommen. Ab Januar 1940 besuchte er zusammen mit neun anderen jüdischen Schulkindern den Notunterricht von Heinz Junger; nach Beendigung seines siebten Schuljahrs im April 1941 gab es für Georg Meyerstein keinen Unterricht mehr. Mit seinen Eltern gehörte er zum ersten Deportationstransport vom 26. März 1942, der im Warschauer Ghetto endete, wo Georg Meyerstein im Alter von 14 Jahren am 31. März 1942 ums Leben kam.
Otfried Rosenstein wurde 1929 in Gött ingen geboren und wuchs ohne Vater auf; im Alter von acht Jahren kam er nach Paderborn und wuchs dort mit rund 25 anderen Kindern in einem jüdischen Waisenhaus auf. Ab 1938 bemühte sich die Heimleiterin – vergeblich – um Ausreisegenehmigungen für ihre Schützlinge nach Palästina; schließlich nahm ihn seine Mutter, die als Hausgehilfin arbeitete, wieder zu sich und zog mit ihm und dem vier Jahre jüngeren Bruder Jürgen nach Frankfurt. Von dort wurden sie am 12. November 1941 nach Minsk deportiert, wo sie ums Leben kamen.
Sechzehn jüdische Kinder, im Alter vom Kleinkind bis zum Teenager, aus Göttingen und der Umgebung sind ihrer Kindheit und eines unbeschwerten Aufwachsens bestohlen und schließlich umgebracht worden – wegen einer Ideologie, für die eine angebliche Rassereinheit und das sogenannte Deutschtum als Grundlage für staatlich geplanten und organisierten Völkermord dienten.
Info Peter Aufgebauer ist ein Göttinger Historiker. Bis 2013 war er Professor am Institut für Historische Landesforschung. Seit seiner Emeritierung ist Aufgebauer Vorsitzender des „Geschichtsvereins für Göttingen undUmgebung.