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Serie: Jüdisches Leben in Göttingen, Teil 7
Der Wiederbeginn nach 1945


Fotos: Christine Hinzmann Die Fachwerksynagoge an der Angerstraße steht im Garten der Jüdischen Gemeinde Göttingen.


Das Bistro Löwenstein an der Roten Straße in Göttingen. Liam Bouziboudja ist Koch im Bistro, er zeigt das Wasserbecken, und den Becher für das rituelle Händewaschen vor dem Essen mit Brot.

Am 8. April 1945 rückten amerikanische Truppenteile von Grone her in Göttingen ohne Widerstand ins Stadtzentrum vor – vier Wochen, ehe am 8. Mai die deutsche Wehrmacht kapitulierte, war hier der Krieg beendet. Göttingen war zur „offenen Stadt“ erklärt worden und weitgehend unzerstört geblieben. Ehe halbwegs Normalität in den Alltag einkehrte, dauerte es noch Monate, aber zum Wintersemester 1945/46 konnte die Georgia Augusta als erste deutsche Universität den Studien- und Lehrbetrieb aufnehmen. Noch im selben Jahr kehrten auch einige jüdische Überlebende zurück. Der Bankier Ernst Benfey, der Malermeister Robert Heymann und der Kaufmann Kurt Metzger kamen aus dem Ghetto Theresienstadt, wenig später auch Bertha Müller und der Schlachter Max Lilienthal, die 1942 aus dem Judenhaus an der Weender Landstraße deportiert worden waren; der Kaufmann Selmar Müller, Berthas Mann, war im Warschauer Ghetto umgekommen.

Neben den wenigen Überlebenden gab es bald auch Rückkehrer aus der Emigration. Aus den Niederlanden kehrte Bruno Benfey zurück und konnte als Pfarrer an der Albanikirche wirken. Albert Rosenberg, der 1936 am Göttinger Staatlichen Gymnasium (heute MPG) sein Abitur abgelegt hatte und ein Jahr später als Neunzehnjähriger in die USA emigriert war, kehrte als Leutnant des Intelligence Service der amerikanischen Armee zurück; er gehörte drei Tage nach der Befreiung Göttingens zu dem Truppenteil, der das KZ Buchenwald bei Weimar erreichte. Hier waren die Sieger zum ersten Mal mit dem Grauen konfrontiert, das in deutschem Namen angerichtet worden war. Albert Rosenberg veranlasste den befreiten KZ-Insassen Eugen Kogon zu einer Dokumentation über die Verbrechen der SS. Das auf dieser Grundlage von Kogon verfasste Buch „Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager“ erschien 1946, wurde mehr als vierzigmal neu aufgelegt und ist bis heute ein Standardwerk.

▶ 1951 Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften

Aus der Emigration kamen Gerhard Leibholz und Helmuth Plessner wieder nach Göttingen. Leibholz, der wegen seiner jüdischen Herkunft 1935 seinen Göttinger Lehrstuhl für Öffentliches Recht verloren hatte, kehrte 1947 aus Großbritannien zurück, wurde hier zunächst Gastprofessor und Lehrbeauftragter, ehe er 1959 wieder als Ordentlicher Professor für politische Wissenschaften und allgemeine Staatslehre arbeiten konnte. Als einer der führenden deutschen Staatsrechtler gehörte er seit 1951 über zwanzig Jahre lang dem neu geschaffenen Bundesverfassungsgericht an. Der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner, 1933 wegen jüdischer Herkunft von seinem Kölner Lehrstuhl vertrieben, hatte in den Niederlanden, zuletzt im Untergrund, überlebt und kam 1952 nach Göttingen. Hier lehrte er zehn Jahre lang als Professor für Soziologie und Philosophie, war Direktor des Philosophischen Seminars, seit 1951 Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften und 1960-1961 Rektor der Universität. Seine Untersuchung zu den Entstehungsbedingungen des Nationalsozialismus, „Die verspätete Nation“, 1935 in der Schweiz veröffentlicht, erschien seit 1959 in der Bundesrepublik in mehreren Neuauflagen. Von der Architektin Lucy Hillebrand, die 1938 wegen ihrer jüdischen Herkunft ihr Frankfurter Büro aufgeben musste und in Göttingen nach 1945 ein neues Atelier eröffnete, ließ sich Plessner 1952 an der Herzberger Landstraße ein architektonisch bemerkenswertes Wohnhaus erbauen.

Eine kleine jüdische Gemeinde bildete sich unter dem Vorsitz von Richard Gräfenberg, der wegen seiner Ehe mit einer Nichtjüdin in Göttingen überlebt hatte. Die Gemeinde griff den weiterhin bestehenden Status der zerstörten Gemeinde als „eingetragener Verein“ wieder auf und konnte in Gräfenbergs Haus an der Planckstraße eine Betstube einrichten. Neben Gräfenberg engagierten sich besonders Ernst Engwicht, Vertriebener aus Oberschlesien, und Max Lilienthal. Engwicht, nach Gräfenbergs Tod 1951 Vorsitzender, setzte sich vor allem für die Rückerstattung jüdischen Eigentums und – gegen hinhaltenden Widerstand der Stadtverwaltung – für die Rückgabe des jüdischen Friedhofs ein. Er entwarf den Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof, den die Stadt 1955 errichten ließ. Erfolgreich konnte Engwicht zugunsten der jüdischen Gemeinde Entschädigungen für das Synagogengrundstück und das ehemalige Gemeindehaus an der Weender Landstraße erstreiten. Die kleine Göttinger Gemeinde bildete 1953 zusammen mit zwölf weiteren Gemeinden den Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen. Im Vorsitz der Göttinger Gemeinde folgte 1956 Max Lilienthal aus Bovenden, der sich besonders um die Betreuung jüdischer Studenten kümmerte. Zu seiner Amtszeit begann in Göttingen auch das öffentliche Gedenken an die Vernichtung der jüdischen Gemeinde: Am Gewerkschaftshaus, das an der Stelle der zerstörten Synagoge errichtet worden war, wurde 1960 eine Gedenktafel angebracht. Als Max Lilienthal 1971 starb, erlosch jedoch die jüdische Gemeinde, die zuletzt nur noch aus elf Personen bestanden hatte und den Minjan, die zum Abhalten eines jüdischen Gottesdienstes erforderliche Mindestzahl, nicht mehr aufbringen konnte. Als „eingetragener Verein“ wurde sie rechtlich allerdings nicht formal aufgelöst, sondern bestand weiterhin.

▶ Erinnern, Gedenken und Aufarbeitung

Das Erinnern an die ermordeten und vertriebenen Göttinger Juden war auch wesentliches Anliegen der 1958 begründeten „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“. Ihr Gründungsvorsitzender Konrat Ziegler, Klassischer Philologe, war 1933 wegen seiner demokratischen Haltung von seinem Greifswalder Lehrstuhl verdrängt worden. Seine Hilfe für verfolgte Juden hatte ihn mehrfach selbst in Gefahr gebracht; in Osterode am Harz konnte er die NS-Zeit überleben. In Göttingen erhielt Ziegler zunächst nur einen Lehrauftrag, dann 1950 eine Honorarprofessur für klassische Philologie. Für die SPD saß er von 1948 bis in sein 80. Lebensjahr 1964 im Göttinger Rat und setzte sich besonders für die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ein. Die Stadt ernannte ihn 1969 zu ihrem Ehrenbürger, die israelische Gedenkstätte Yad Vashem zeichnete ihn 2001 posthum als „Gerechten unter den Völkern“ aus.


Bürgermeister Arthur Levis Porträt im Neuen Rathaus.

Die Aufarbeitung der NS-Zeit, die Erinnerung an die Geschichte der Göttinger Juden und das Gedenken der Ermordeten erfuhr nachhaltige Förderung durch den aus München stammenden Juden Artur Levi. Er war als 14-jähriger Schüler von seinen Eltern nach England geschickt worden, hatte eine Lehre als Feinmechaniker absolviert und sich in der Labour Party politisch engagiert. Auf Anraten politischer Freunde kam er 1946 nach Göttingen, um am demokratischen Aufbau mitzuwirken. Er trat der SPD bei und hielt Verbindung zu dem von Leonard Nelson begründeten „Internationalen Sozialistischen Kampfbund“, dessen Sekretär Willi Eichler 1959 zu den Urhebern des Godesberger Programms der SPD gehörte. Artur Levi arbeitete zunächst als Gewerkschaftssekretär und begann daneben ein Studium an der Pädagogischen Hochschule; auf einige Jahre als Lehrer an der Albert-Schweitzer-Schule folgte die Dozentur an der PH für Politikwissenschaft und seit 1978 die Tätigkeit als Akademischer Oberrat für das Fach Sozialkunde. Für die SPD war er seit 1956 im Göttinger Rat und bald auch Vorsitzender der Ratsfraktion. Von 1973 bis 1981 und von 1986 bis 1991 war Artur Levi Oberbürgermeister der Stadt, dazwischen, von 1981 bis 1986 war er Zweiter Bürgermeister. Artur Levi war „praktizierender Jude“ – selbstverständlich und ohne Aufhebens. In seine Amtszeit, durch ihn und den Kulturdezernenten Dr. Konrad Schilling befördert, erfolgte 1973 die Errichtung des Synagogenmahnmals, das der italienische Künstler Corrado Cagli entworfen hatte und das am 9. November, dem Tag des Gedenkens an den Pogrom von 1938, eingeweiht wurde. Corrado Cagli war selbst Jude, hatte vor dem Faschismus Mussolinis aus Rom fliehen müssen, war über Paris in die USA emigriert, hatte als Angehöriger der US-Armee an der Invasion in der Normandie teilgenommen und gehörte – wie der oben genannte Albert Rosenberg – zu dem Truppenteil, der das KZ Buchenwald befreite.

Aus Anlass der Einweihung des Denkmals zeigte das Städtische Museum vom 14. Oktober bis 9. Dezember die vielbeachtete Ausstellung „700 Jahre Juden in Südniedersachsen. Geschichte und religiöses Leben“, in der erstmals die Geschichte, Religion und Kultur der jüdischen Gemeinde in Göttingen und dem Umland aufgearbeitet und öffentlich vermittelt wurde. Ebenfalls 1973 konnte die von Peter Wilhelm erarbeitete Dissertation „Die jüdische Gemeinde in der Stadt Göttingen“ erscheinen, als eine der ersten wissenschaftlichen Monografien zur jüdischen Geschichte einer niedersächsischen Stadt. Artur Levi unterzeichnete neben Oberstadtdirektor Kurt Busch das Geleitwort des Bandes, der in der Reihe „Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen“ erschien. Weitere Ausstellungen und Publikationen folgten in den kommenden Jahren; die jüdische Vergangenheit Göttingens ist vergleichsweise gut dokumentiert und erforscht.

▶ Die neue Gemeinde

Seit 1994 gibt es in Göttingen wieder eine lebendige jüdische Gemeinde, die an den Rechtsstatus der kleinen Nachkriegsgemeinde als eingetragener Verein anknüpfen konnte. Ihre rund 200 Mitglieder sind zum größten Teil als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach 1991 aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen, wo jüdisches Leben seit Stalin bedrängt und unterdrückt worden war. Artur Levi gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Gemeinde und wurde nach seinem Tod 2007 auf dem jüdischen Friedhof beerdigt. An der Angerstraße entstand mit Unterstützung durch einen Förderverein ein Jüdisches Gemeindezentrum mit dem ehemaligen Pfarrhaus der Mariengemeinde und der 2008 aus Bodenfelde translozierten Fachwerksynagoge. Aus den USA kamen 2020 restaurierte und „gekoscherte“ Torarollen, die die Zeit des Nationalsozialismus schwer beschädigt überstanden hatten, nach Göttingen. Die geistliche Betreuung nehmen auswärtige Rabbiner wahr.


Der neuere Teil des Jüdischen Friedhofs an der Kasseler Landstraße, mit dem Grab von Ernst Engwicht

▶ Spaltung der Gemeinde

Die Entscheidung der jüdischen Gemeinde für eine liberale Ausrichtung und ihr Anschluss an die „Union progressiver Juden“ sowie die Öffnung des „Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Niedersachsen“ für diese Union führte zur Entfremdung der konservativen Minderheit der Göttinger Juden, die schließlich unter der Führung von Eva Tichauer-Moritz 2005 eine eigene „Jüdische Kultusgemeinde“ begründete und an der Roten Straße – in dem von den Brüdern Löwenstein 1898 errichteten Haus – ein Lehrhaus mit einem Synagogenraum und dem angeschlossenen koscheren Restaurant „Löwenstein“ einrichtete. Der in Göttingen sichtbar gewordene Konflikt zwischen traditioneller Ausrichtung einerseits und liberaler auf der anderen Seite prägt das heutige jüdische Leben in Deutschland in vielen Städten.

Info:

Peter Aufgebauer ist ein Göttinger Historiker. Bis 2013 war er Professor am Institut für Historische Landesforschung. Seit seiner Emeritierung ist Aufgebauer Vorsitzender des „Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung.