Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Göttingen e.V.
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Erinnerung an die Familien Kahn, Baruch und Nussbaum
Video und Bilder © Stadt Göttingen; mit Erlaubnis. Link zum Original
Hier klicken für den Text des Vortrags über die Familie Kahn von Dr. Peter Kriedte (PDF-Datei)
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Teil I
Im Frühjahr dieses Jahres haben wir, der Geschichtsleistungskurs des Max-Planck-Gymnasiums, angefangen, uns im Rahmen des Seminarfachs intensiver mit dem jüdischen Leben Göttingens in der Zeit des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Infolge dessen haben wir uns mit dem Schicksal der Familie Nußbaum, zu deren Ehren im kommenden Mai Stolpersteine verlegt werden, auseinandergesetzt und wollen versuchen, sie mit unserem heutigen Beitrag zurück in die Erinnerung unserer Göttinger Stadtgemeinschaft zu holen.
Der Kaufmann Jacob Nußbaum, 1882 in Leipzig geboren, heiratete 1910 die Göttingerin Ida, geborene Pohly und lebte mit den 1910 und 1911 geborenen Töchtern Rosa, später Rosel oder Rose genannt und Hilde in der Weender Landstraße. Jacob übernahm den Ölgroßhandel seines Vaters Mendel und weitete das Geschäft, trotz aufkommender antisemitischer Strömungen in Göttingen nach dem 1. Weltkrieg, aus. Rosa und Hilde verbrachten ihre Schulzeit am Lyzeum, dem heutigen Hainberggymnasium. Für ihr geisteswissenschaftliches Studium ging Hilde Nußbaum zeitweise an die Universitäten Bonn und Berlin.
Wie viele andere jüdische Familien Göttingens, litt auch die Familie Nußbaum, unter einer sich stetig zuspitzenden judenfeindlichen Stimmung, die auch medial von Göttinger Zeitungen geprägt werden. Der Jude sei ein Fremdkörper des deutschen Staats- und Volkselements, der unbedingt entfernt werden müsse, schreibt das Göttinger Tageblatt in den frühen 1920er-Jahren und stößt bei der Göttinger Stadtbevölkerung, die unter anderem durch die antisemitisch und stark sozialdarwinistisch beeinflussten Werke des in Göttingen lebenden Theologen Paul de Lagarde geprägt ist, auf Zustimmung und Unterstützung. Neben diesem rassenideologischen Ansatz des Antisemitismus, diente die jüdische Bevölkerung als Sündenbock für die wirtschaftliche Erfolglosigkeit des Bürgertums nach Ende des Krieges 1918. Unter Berücksichtigung dieser Umstände erscheint es umso beeindruckender, dass die Familie Nußbaum in der Lage war, ihr Geschäft weiterhin erfolgreich zu führen und in den folgenden Jahren sogar zu vergrößern. Mithilfe angesparten Vermögens überstand der Ölgroßhandel auch die Weltwirtschaftskrise 1929, der zahlreiche andere Geschäfte zum Opfer fielen.
Obgleich die jüdische Gemeinschaft in wirtschaftlicher Hinsicht ein wichtiger Faktor Göttingens blieb, wurde sie immer häufiger Opfer von offen antisemitisch motivierten Übergriffen. So erfuhr auch die Familie Nußbaum Vandalismus, als 1931 der Sandsteinsockel in ihrem Garten, vermutlich von Parteimitgliedern der NSDAP, umgestoßen wurde und somit die Mauer beschädigte.
Die Situation spitzte sich in der Endphase der Weimarer Republik reichsweit und auch in Göttingen zunehmend zu und gipfelte 1933 in der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Durch neu erlassene Gesetze, Verordnungen und sogenannte „Führererlasse“ wurde der strukturelle Antisemitismus nun auch staatlich legitimiert. Auch hier bei uns übernahm zeitnah der systemtreue Albert Gnade, ein Parteimitglied der frühesten Stunde und SS-Standartenführer, das Amt des Bürgermeisters und etablierte auch regional eine judenfeindliche Politik. Durch die stetig drängender werdenden Repressalien, die Ausgrenzung auf dem beruflichen und gesellschaftlichen Leben werden von 1933 bis 1941 viele jüdische Bewohner Göttingens, darunter auch die Familie Nußbaum, zur Flucht gezwungen.
Teil II
Die antisemitische Stimmung im Reich, geschürt von der nationalsozialistischen Propaganda, führte immer häufiger zu offenen Anfeindungen, Gewalt und dem Boykott jüdischer Unternehmen. Außerdem wurden seit dem Frühjahr (1933) alle im Reich lebenden Juden zur Auswanderung aufgefordert. Auch in Göttingen hatte der Aufmarsch von etwa 200 Mitgliedern der SA am Abend des 28. März 1933 Vandalismus gegen zahlreiche jüdische Geschäfte und die Synagoge zur Folge. Selbst den außerhalb der Innenstadt wohnenden Nussbaums wurden in Folge dieses Märzpogroms die Fensterscheiben ihres Geschäfts und ihrer Wohnung in der Weender Landstraße Nr.33 eingeworfen. Tatsächlich gelang es, Robert Ruch jun. als Täter festzustellen. Seine Begründung: Er habe sich an Nussbaum für angeblich abfällige Äußerungen gegenüber der NSDAP rächen wollen. In den folgenden Jahren verschlechterte sich die Lage der Familie zunehmend, die Spätfolgen der Weltwirtschaftskrise trafen nun den Handel mit Öl und chemisch-technischen Produkten und so auch das Geschäft der Familie Nussbaum. Wirtschaftlich auf diese Weise geschwächt, sah sich Jakob Nussbaum im Jahr 1935 dazu gezwungen, Teile seines Grundbesitzes zu verkaufen. Dazu gehörten ein großer Hausgarten in Weende, Teile des Fabrikgebäudes und das anliegende Wohnhaus in der Weender Landstraße Nr.29. Der Eigentümer der "Göttinger Automobil-Werkstätten", August Münstermann, bezahlte Nussbaum hierfür knapp 32.000 RM, weniger als den Jahresumsatz von Nussbaums Unternehmen im Jahr 1934. Für die Familie Nussbaum bedeutete diese Entwicklung einen plötzlichen Einschlag. Zu den vandalistischen Taten gegen die Familie kamen nun auch die tiefgreifenden Folgen der Boykotte gegenüber der jüdischen Bevölkerung spürbar hinzu. Der offene Antisemitismus erlangte bald eine Omnipräsenz im gesellschaftlichen Leben, auch des Lebens hier in Göttingen. An Ortseingängen, Bädern und Geschäften wurden judenfeindliche Schilder aufgehängt: "Juden haben in diesem Ort nichts zu suchen", "Juden sind hier unerwünscht", "Jude bleibt Jude! Darum [...] verschwinde!". Vermutlich sahen sich auch Rosa und Hilde Nussbaum, wie viele andere Juden, der Perspektivlosigkeit ausgesetzt. Ein zukünftiges Leben im deutschen Reich war wohl für die beiden jungen Frauen zu dieser Zeit kaum vorstellbar. Sehr wahrscheinlich verließen deswegen Hilde und Rosa Nussbaum im Jahr 1936 das Deutsche Reich. Über Hamburg emigrierte Hilde wie über 200.000 Jüdinnen und im nächsten Jahr zunächst nach Palästina, wo sie 1938 die dortige Staatsbürgerschaft erhielt. Allerdings verließ sie das Land kurz darauf und wandert nach New York aus. Ihre Schwester Rosa hingegen lebte dort bereits seit zwei Jahren. Rosa heiratete in New York Samuel Goldenstein. Auch Hilde immigrierte, nachdem sie 1936 nach Palästina geflohen war, im Mai 1941 in die USA und heiratete Karl-Heinz Meissner, den sie auf der Flucht kennengelernt hatte. Im Deutschen Reich ging 1937 es für das Geschäft der Eltern in Göttingen unweigerlich bergab. In den vorherigen zwei Jahren hatte sich die Branche zwar teilweise wieder erholt und auch der Laden der Nussbaums konnte einen kleinen Aufschwung verbuchen, doch immer mehr Kunden und Mieter weigerten sich, offene Rechnungen zu bezahlen und die Bank drohte mit der Kündigung von Hypotheken. Mit Konsequenzen hatten diese Leute damals nicht zu rechnen. Trotz alledem konnte sich das Geschäft noch bis in den Herbst 1938 halten, bis wohin die verbleibenden Lagerbestände verkauft und Ersparnisse aufgebraucht werden mussten. Letztendlich rang sich Jakob Nussbaum zum Verkauf der verbliebenen Teile seines Geschäfts durch. Der Hamburger Paul Miehlmann, der sich durch günstigen Erwerb selbstständig machen wollte, bekundete Interesse als Käufer. Die von Nussbaum verlangte Summe entsprach mit 30.000 RM dem Wert des Auftragsbestandes, doch wurde dieser Preis vom Hildesheimer Regierungspräsidenten Hermann Muhs, der Einschätzung der Historikerin Cordula Tollmien nach „einer der führenden Köpfe der Göttinger Nationalsozialisten“, nicht genehmigt und auf 5000 RM gesenkt. Mielmann hingegen schien nicht bereit zu sein irgendetwas für das Geschäft zu bezahlen und berief sich darauf, dass es verboten sei, überhaupt etwas für jüdische Geschäfte zu bezahlen. Die damalige Reichsregierung hatte dafür gesorgt, dass Jüdinnen und Juden Schritt für Schritt aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben verdrängt wurden. Beispielsweise wurden alle jüdischen Beamten im Jahr 1936 zwangspensioniert und drei Jahren später sogar allen Juden die Teilhabe an Gewerben verboten. Durch die Ereignisse in der Reichspogromnacht verlor Jakob Nussbaum sein Geschäft aber schon vorzeitig und mit ihm seinen Lebensunterhalt und seine Perspektive in Göttingen. Er wurde am 10. November 1938 mit vielen anderen in Göttingen verbliebenen Juden der Gemeinschaft, unter anderem Nathan Hahn, in so genannte Schutzhaft ins Gerichtsgefängnis von Reinhausen genommen. Dort wurde er nun massiv gedrängt sein Geschäft zu veräußern. Die restlichen Besitztümer, die ursprünglich für mehr als 30.000 RM hätten verkauft werden sollen, wurden für nicht einmal 3000 RM an Paul Miehlmann abgetreten. Jakob Nussbaum wurde im Gegenzug die Entlassung versprochen. Durch den Verlust des Geschäfts wirtschaftlich stark getroffen und als Juden aus der Göttinger Stadtgemeinschaft ausgeschlossen, verließen Ida und Jakob Nussbaum über Hamburg und Spanien Deutschland und emigrierten so wie ihre beiden Töchter in die USA, wo sie 1941 in New York ankamen.
Teil III
Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg und damit die nationalsozialistische Terrorherrschaft in Deutschland. Es beginnt jedoch die Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung. Wen trifft wo die Schuld und wer erlangt sein ehemaliges Besitztum wieder?
Das Schicksal der Familie Nussbaum ist kein Einzelfall, sondern steht exemplarisch für das Leben vieler anderer jüdischer Familien nach dem zweiten Weltkrieg. Etwa 60% der jüdischen Bevölkerung Deutschlands gelang ab 1933 die Flucht ins Ausland – knapp die Hälfte davon emigrierte in die USA. Durch die Ausreise wurde den 140 Tausend in die USA geflüchteten Jüdinnen und Juden, unter ihnen auch Jakob, Ida, Hilde und Rosa, das Leben ermöglicht, welches ihnen in Deutschland zu führen verwehrt blieb. Den wenigen in Deutschland verbliebenen Teilen der jüdischen Bevölkerung, die den Völkermord der Nationalsozialisten überlebten, stand eine harte Zeit der Wiedereingliederung in die Gesellschaft bevor. Sie sahen sich sowohl auf rechtlicher, als auch auf sozialer Ebene mit erheblichen Problemen konfrontiert. Eigens zu diesem Zweck ins Leben gerufene Entschädigungsgerichte, sollten den, im Zuge der Arisierung und Requirierung, geraubten jüdischen Besitz, zurück in die Hände der rechtmäßigen Besitzer führen oder für Entschädigung sorgen. Auch die Familie Nussbaum wurde im Jahr 1953, nach langwierigem Verfahren, finanziell, wenn auch weit unter dem eigentlichen Wert des Verlustes, entschädigt.
Die geflüchteten Jüdinnen und Juden bekamen die Möglichkeit, mithilfe der Wiedergutmachungskammer, ihre verlorenen Besitztümer und Grundstücke zurückzufordern.
Jakob Nussbaum versuchte seine Rechte geltend zu machen. Nach langwierigen Verhandlungen kam es 1953 zu einem Vergleich mit Paul Miehlmann, welcher ihn Ende 1938 aus seinem Geschäft verdrängte. Er zahlte für die Grundstücke 26.000 DM und für den Betrieb 9.000 DM. Diese hartnäckigen Verhandlungen und die Einigung auf einen Vergleich unterhalb der ursprünglichen Forderung zeigten, dass das antisemitische Gedankengut in Göttingen in der Bevölkerung nach dem Krieg nicht direkt verschwand. Es handelt sich ja eher um eine rechtliche Frage, deswegen muss dieser Satz geändert werden.
Bevor die Verhandlungen mit August Müstermann um das Grundstück Nr.29 und Teilgrundstück Nr.31 endeten, verstarb Jakob Nussbaum. Auch hier kam es, mit der dann Anspruchsberechtigten Ida Nussbaum, zu einem Vergleich über 28.000 DM.
Trotz des nurmehr symbolischen Wertes der Entschädigung, mit dem die jüdische Bevölkerung sich wieder nähern sollte, stellte sich unmittelbar bei Kriegsende ein jüdisches Gemeindewesen ein, welches parallel zur übrigen Gesellschaft stattfand, aber keinen integrierten Teil darstellte.
Obwohl zehntausende Familien einem gleichen oder ähnlichen Schicksal wie die Familie Nussbaum gegenüberstanden, sollen die vertriebenen Göttinger Jüdinnen und Juden heute besonders gewürdigt werden. Zwar haben es die Nussbaums geschafft, sich ins Ausland zu retten, allerdings war der Preis dafür ihr Leben in Göttingen.
Doch wie brutal und erschütternd muss es sein, alles, was man sich aufgebaut hat, zurücklassen zu müssen oder gewaltsam dessen beraubt zu werden?
Wie kann man die Ungewissheit der eigenen Zukunft sowie den Verlust von Freunden und Familie ertragen?
Wer kann schon sagen, inwieweit die Flucht die Aufgabe der eigenen Identität bedeutet und wie man weiterleben soll?
Für uns als Schüler*innen hat die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Familie Nussbaum und der Versuch, die damalige Stimmung zu begreifen, viele derartiger Fragen aufgeworfen.
Indem wir diejenigen, die damals hier in Göttingen alles verloren haben, die hier in Göttingen durch Göttinger Mitbürger*innen gesellschaftlich ausgegrenzt und um ihre Existenz gebracht wurden, in das Bewusstsein unserer Stadtgemeinschaft zurückholen, können wir einen Beitrag dazu leisten, sie zu würdigen und ihnen ein Weiterleben in unserer Erinnerung zu ermöglichen. Durch ihre Geschichten können wir inspiriert werden, die Welt zu einem friedlicheren und vielfältigeren Ort werden zu lassen. Denn auch heute sind viele Menschen gezwungen, ihr Leben aufzugeben und den bisherigen Umständen zu entfliehen.
Es ist ohne Zweifel die Aufgabe/Verantwortung der Gesellschaft als Ganzes, jede Form der Diskriminierung zu verhindern und Werte wie Toleranz, Freiheit und Gleichheit zu beschützen. Dies muss über eine rechtlich-abstrakte Ebene hinaus im persönlich-zwischenmenschlichen Rahmen geschehen. Es sind die alltäglichen Handlungen von Individuen, die eine Gemeinschaft ausmachen und Unrecht verhindern können. Es liegt also in der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, die Werte, die uns verbinden, zu leben, und derer zu gedenken, die unter dem Terror des NS-Regimes litten und von denen so viele ihr Leben ließen oder wie die Familie Nussbaum zur Flucht getrieben wurden.
Die jüdisch-deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin und Nobelpreisträgerin Nelly Sachs hat ausgedrückt, was so schwer in Worte zu fassen ist. Sie hat verdeutlicht, wie wichtig es ist, dem Vergessen entgegenzuwirken, und dennoch versuchen weiterzuleben. In ihrem Gedicht „Chor der Geretteten“ (1946) schreibt sie:
„Wir Geretteten Bitten euch: Zeigt uns langsam eure Sonne.Führt uns von Stern zu Stern im Schritt. Laßt uns das Leben leise wieder lernen.“
Erinnerung an die Familien Gräfenberg, Eisenstein, Rosenberg und Müller
Thema des Tages10.12.2019 © Göttinger Tageblatt
Symbole des Gedenkens an Judenverfolgung 08.12.19 21:20, ©HNA
Herr der Stolpersteine: Der Kölner Gunter Demnig ist Initiator der Aktion. Mehr als 63 000 Steine erinnern an das Schicksal jüdischer Menschen. Archivfoto: Judith Lacroix
Die Uni-Stadt erhält auf Betreiben der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit am Montag 17 weitere Stolpersteine.
Allein neun der glänzenden Pflastersteine werden ab 11 Uhr vor dem C&A-Kaufhaus von dem Kölner Künstler Gunter Demnig gesetzt. Acht Steine werden danach an der Bühlstraße 28a verlegt – in Erinnerung an das Schicksal jüdischer Kaufmannsfamilien in Göttingen.
Textilkaufhaus Gräfenberg
Beide Orte stehen in Verbindung mit einer Göttinger Unternehmerfamilie. Am Ort der heutigen C&A-Filiale betrieben die Familien Richard und Hugo Gräfenberg das Textilkaufhaus Louis Gräfenberg.
Urenkel kommen aus den USA
Bei der Verlegung werden zwei Urenkel von Meta Müller, geb. Gräfenberg, dabei sein. Auch kommen elf Mitglieder der Familie Gräfenberg aus den USA angereist
Familie Gräfenberg
Stolpersteine werden stets dort gesetzt, wo jüdische Mitmenschen wohnten, die von den Nazis verschleppt und meist in Konzentrationslagern getötet wurden. Die Geschichte, der ursprünglich aus Adelebsen stammenden Familien Gräfenberg ist eine tragische, auch, wenn nicht alle getötet wurden, steht ihr Schicksal exemplarisch für das Leid, dass die Nazis über jüdische Menschen, auch in Göttingen und der Region, brachten.
Pogromnacht-Gedenken
Daran erinnerten kürzlich auch die Schülerinnen und Schüler des Theodor-Heuss-Gymnasiums und Lehrer Mathias Behn während der von ihnen gestalteten Feierstunde am Platz der Synagoge zur Pogromnacht am 9. November 1938. „Auch die Überlebenden schreckliches Leid durch das Vorgehen der Nazis erleiden mussten.“
Geschäft 1935 verkauft
1875 eröffneten die Gräfenbergs in der Weender Straße 39 ein Bekleidungsgeschäft. Selbst nach der Weltwirtschaftskrise beschäftigt das Unternehmen 1933 noch mehr als 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Am 28. März 1933 werden Scheiben eingeworfen, auch Hugo Gräfenbergs Wohnung in der Baurat-Gerber-Straße wird überfallen. Das massive Vorgehen der NSDAP gegen jüdische Geschäftsleute aber zeigt auch bei den Gräfenbergs schnell Wirkung: 1935 wird das Geschäft unter Wert zwangsverkauft.
Kummertod
Von diesen Drangsalierungen schwer gezeichnet stirbt Hugo Gräfenberg gebrochen im Juni 1934, seine Frau im Dezember. Sie werden nur 64 und 55 Jahre alt.
Und es gibt weitere Opfer in der Großfamilie: Hugos Schwiegermutter, Anna Rosenberg, überlebt ihre Tochter Amalie und den Schwiegersohn. Sie wird 1942 deportiert – nach Theresienstadt ins KZ. Dort stirbt sie mit 85 Jahren sieben Monate später. Ihr Bruder Alfred stirbt im Ghetto von Riga.
Dank Ehefrau überlebt
Richard Gräfenberg überlebt, wird nicht deportiert, weil er mit der Nicht-Jüdin Helene verheiratet ist. Die Wohnung Gräfenbergs in der Planckstraße 12 ist nach dem Krieg Anlaufpunkt für viele Juden, vor allem für jene, die aus Osteuropa zurückkehren und für Mitglieder der jüdischen Gemeinde und meist Verwandte suchen, oft nicht finden. Es ist das Schicksal unzähliger, unschuldiger Menschen jüdischen Glaubens nach dem Krieg und der Verfolgung durch die Nazis. (tko)
Stolpersteinverlegung am 09.12.2019, 10 Uhr, Museum
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
mein Name ist Petra Broistedt. Ich bin Kulturderzernentin der Stadt Göttingen und habe heute die Ehre, Sie im Namen der Stadt Göttingen herzlich begrüßen zu dürfen. Ein besonderes Willkommen gilt unseren Gästen aus Übersee, den Nachkommen der ehemaligen Göttinger jüdischen Familie Gräfenberg. Unter uns sind Richard und Lilian Gray mit Kindern und Cousins. Ich freue mich sehr, dass Sie den weiten Weg von der Ostküste der Vereinigten Staaten (einige von Ihnen sogar von der Westküste) auf sich genommen haben, um heute unsere very important persons zu sein.
Wir verlegen heute zum fünften Mal Stolpersteine, um an jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger zu erinnern, die hier in Göttingen Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt haben und durch die Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945 verfolgt, verhaftet, gefoltert und in vielen Fällen auch deportiert und ermordet worden sind. Wir erinnern heute an das Leid der Betroffenen, die diesem Unrecht und der Brutalität der Deutschen schutzlos ausgeliefert waren. Das war eine Katastrophe für die Betroffenen. Und die Katastrophe war umso schrecklicher und unbegreiflicher, weil Jüdinnen und Juden in den ersten zwei Jahrzenten des 20. Jahrhunderts so fest in die deutsche Gesellschaft integriert schienen, wie in fast keinem anderen Land Europas – auch in Göttingen. Für mich persönlich ist der Kulturbruch nach 1933 auch deshalb so tief, weil die Verfolgung, Beraubung und Ermordung von Menschen jüdischen Glaubens nicht „nur“ das Werk einer Gruppe (der Nazis) war, sondern die gesamte deutsch-nichtjüdische Gesellschaft davon profitierte. Beleg hierfür ist unter anderem die umfassende sog. „Arisierung“, also der widerrechtliche Raub von Eigentum von Jüdinnen und Juden sowie anderen Opfergruppen.
Die Verantwortung für uns heutige Deutsche ist ungeheuer groß! Göttingen stellt sich dieser Verantwortung. Die Erinnerung an die Göttinger Opfer des Nationalsozialismus und ihre Ermordung ist zentraler Bestandteil der Göttinger Erinnerungskultur. Einige Schritte in Richtung Aufarbeitung und Versöhnung sind wir bereits gegangen. Lassen Sie mich nur drei Beispiele nennen: 1973 haben wir das Synagogenmahnmal am Platz der Synagoge eingeweiht. Seitdem erinnern wir in jährlichen Gedenkstunden am 9. November an die Zerstörung sowohl der Synagoge als auch etlicher Geschäfte jüdischer Einwohnerinnen und Einwohner in der Reichsprogramnacht von 1938. Diese Gedenkstunden sind äußerst gut besucht. Sie werden von Schülerinnen und Schülern Göttinger Schulen vorbereitet und sind jedes Jahr traurige, aber auch bewegende Momente der Versöhnung und des Miteinanders. 2007 haben wir das Stadthaus in der Gotmarstraße (Stadtbibliothek) zu Ehren des vermutlich jüngsten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz, des Göttingers Thomas Buergenthal, in Thomas-Buergenthal-Haus umbenannt. Damit erinnert die Stadt Göttingen an die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am jüdischen Volk und mahnt – ganz im Sinne Thomas Buergenthals – zu Dialog, gegenseitiger Wertschätzung, Toleranz und Völkerverständigung. Sie zeigt damit auch, dass jüdisches Leben und der jüdische Glauben zu Göttingen gehören, einen Platz in unserer Stadt haben. Das finde ich persönlich angesichts der widererstarkenden rechtsextremen, rechtsradikalen und antisemitischen Tendenzen auch in unserer Stadt (ich erinnere hier an Hakenkreuzschmierereien am Synagogenmahnmal und vor der Universität sowie den feigen Brandanschlag auf eine Göttinger Wohngemeinschaft) sehr wichtig. Seit 2013 verlegen wir Stolpersteine. Mit den Stolpersteinen zeigt Göttingen, dass die Stadt sich der Verantwortung für das von den Nationalsozialisten begangene Unrecht stellt. Es gab eine Unterbrechung von 3 Jahren, in der die Praxis der Stolpersteinverlegung in Göttingen intensiv und zum Teil auch kontrovers diskutiert worden ist. Am Ende haben wir uns auf einen Kompromiss verständigt: Die Verlegung erfolgt nur, wenn die Nachkommen zustimmen. Das haben unsere Gäste getan. Dafür ist die Stadt Göttingen sehr dankbar. Deshalb können wir die bereits vorhandenen 37 Stolpersteine heute um weitere 17 ergänzen. Und ich freue mich besonders, dass dies in Anwesenheit der Nachkommen der Familie Gräfenberg geschieht. Liebe Gäste, Sie haben mit Ihrem heutigen Besuch in Göttingen im konkreten und übertragenen Sinn einen Schritt auf uns zu getan. Dafür herzlichen Dank.
Die Verlegung erfolgt in Kooperation der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, dem Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e. V. und der Stadt Göttingen.
Wir verlegen heute Stolpersteine an zwei Orten: in der Weender Straße 19/21, dem Standort des ehemaligen, prächtigen Kaufhauses Ihrer Vorfahren, und in der Bühlstraße 28a, dem Wohnhaus von Meta Müller, geborene Gräfenberg und der Familie Eisenstein und Rosenberg. Dazu erfahren wir bei den Verlegungen gleich mehr.
Nach der Verlegung gegen 13.00 Uhr laden wir Sie herzlich zu einem Imbiss hier im Museum ein. Sie haben heute im Museum und auch in unserem Außendepot Gelegenheit, die Dinge anzusehen, die Ihre Vorfahren dem Göttinger Museum freiwillig überlassen haben. Diese freiwillige Überlassung ist ein Zeichen dafür, dass die jüdischen Einwohnenden Göttingens um 1900 das Städtische Museum auch als ihr Museum betrachteten, dass sie sich ganz in die deutsche Gesellschaft integriert fühlten. Das war, wie sich wenige Jahrzehnte später zeigen sollte, ein tragischer Irrtum. Umso wichtiger ist es, dass die Objekte im Museum aufbewahrt und hoffentlich- nach einer Sanierung - auch bald wieder der Öffentlichkeit gezeigt werden können, um die Erinnerung an die Vergangenheit wach zu halten. Denn: das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich nun auf eine Ansprache aus dem Kreis unserer Gäste.
Meine Damen und Herren, liebe Angehörige der Familie Gräfenberg, dear members oft he Gräfenberg family – guten Tag und Shalom.
Ich begrüße Sie im Namen des Göttinger Geschichtsvereins zur Verlegung von 9 Stolpersteinen an dieser Stelle.
Wir verlegen hier und heute Stolpersteine für die Familie Gräfenberg; für Hugo und Amalie, für Anneliese und Carl, für Richard und Helene, für Walter und Erika sowie für Anna Rosenberg.
Wenn ich sage „wir verlegen“ meint das in erster Linie den Künstler Gunter Demnig, der das Verlegen von Stolpersteinen vor mehr als 25 Jahren als Kunstprojekt begonnen hat und der seither mehr als 70 000 Stolpersteine europaweit verlegt hat. Er verstand seine Arbeit zunächst als eine Form der Erinnerungskunst, die sich bewusst gegen die monumentalen Mahnmale des Staates wendet und die die Erinnerung an das einzelne Opfer – und nach und nach an jedes einzelne Opfer – in unseren Alltag und in unsere Gegenwart zurückholt.
Die Formulierung „wir verlegen“ bezieht aber bewusst auch uns mit ein: zunächst die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und den Göttinger Geschichtsverein, die gemeinsam mit der Stadt Göttingen das Projekt tragen und von einer Gruppe von Fachleuten bei den Recherchen unterstützt werden, und die Schülerinnen und Schüler des Theodor-Heuss-Gymnasiums, die zusammen mit ihrem Lehrer Matthias Behn Kurzbiographien der zu ehrenden Personen erarbeitet haben und hier vortragen werden.
„Wir verlegen“ meint aber darüber hinaus auch die Angehörigen und Nachkommen der heute hier geehrten Opfer des Nationalsozialismus, die eigens für diese Feierstunde aus den Vereinigten Staaten angereist sind:
Richard und Lilian Gray
Rebecca Gray und ihr Ehemann Seamus
Ayden, Amiya und Jessica Gray, ihre Kinder
Ariel und Max Sussmann
Ruth Palacio
Irene Stadt und Lorraine Geaudreau
a warm welcome to all of you. We are thankful and proud that you have come to Göttingen.
Schließlich und nicht zuletzt umschließt das „wir“ die Paten der einzelnen Steine und Sie alle, die heute zu dieser Stolpersteinverlegung gekommen sind und dadurch eine beeindruckende Öffentlichkeit herstellen. Sie repräsentieren das Göttingen von heute und stellen es dem Göttingen von damals entgegen, das die Bedrängnis und Verfolgung der jüdischen Mitbürger hingenommen oder sogar befördert hat. Durch Ihre Anwesenheit geben Sie der Stolpersteinverlegung einen würdigen Rahmen und zeigen, dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die ehrende Erinnerung an die Opfer der Gewaltherrschaft ein Anliegen und eine Aufgabe sind, mit der sich die Göttinger Zivilgesellschaft ausdrücklich identifiziert.
Lassen Sie mich mit einem Gedanken schließen, mit dem sich auch der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ ausdrücklich für das Projekt der Stolpersteine ausspricht. Ich zitiere: „Durch die Stolpersteine kommen die Menschen im Alltag mit dem Thema – für sie überraschend und unvorhergesehen – in Berührung. Stolpersteine verdeutlichen, dass jene Menschen, die grausam ermordet wurden, mitten unter uns gelebt haben und dass ihre Entrechtung und Verfolgung vor aller Augen passiert ist. Durch das Lesen der Inschriften der Messingsteine verbeugen wir uns wortwörtlich vor den Menschen, die dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen.“
Heute verlegen wir auf der Weender Straße Stolpersteine für die Familien Richard und Hugo Gräfenberg. Obwohl die meisten Mitglieder dieser ursprünglich aus Adelebsen stammenden Familien nicht in den Ghettos im Osten starben oder in den Vernichtungslagern ermordet wurden, ist ihr Schicksal doch eindringlich und exemplarisch für das Leid, das die Verfechter nationalsozialistischen Rassenwahns über jüdische Bürger der Stadt Göttingen brachten. Es ist ein Beleg dafür, dass die Göttinger Mitbürgerinnen und Mitbürger damals nicht willens oder in der Lage waren, diese Menschen zu schützen. Wir möchten im Rahmen dieser Gedenkstunde an die Brüder Hugo und Richard Gräfenberg und ihre Familien erinnern und glauben, dass das Schicksal dieser Menschen für sich spricht.
We are glad to have among us here today direct ancestors of the Gräfenberg family. We would like to welcome them in the warmest way possible. The fact that they came all the way to be present at this ceremony is both deeply moving and encouraging. It is indeed a sad reminder of what Germany has lost by pursuing a policy towards her own Jewish citizens for which barbarism would be too positive a category. But it is also a proof that Jewish life has not been destroyed, and that Jewish people have enough confidence in Germany to come here to seek the historical roots of their families and to make sure that the youngest generation is made aware of that family history. It is very good to have you here today.
Die Wurzeln des einst die Göttinger Innenstadt mit prägenden Kaufhauses Gräfenberg liegen im Jahr 1864 – seit 1875 hat das Bekleidungsgeschäft seinen Sitz in der Weender Straße 39. In zweiter Generation wird es von den beiden Brüdern Richard und Hugo Gräfenberg geführt, die es zum beliebtesten Textilkaufhaus der Stadt machen, das auch überregional Kunden anzieht und mit moderner Werbung und Präsentation außerordentlich erfolgreich operiert. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 trifft das Familienunternehmen hart, aber der Betrieb kann trotz der wirtschaftlichen Depression erhalten werden. 1932 beschäftigt er noch über 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Unmittelbar nachdem Hitler zum Reichskanzler ernannt wird, beginnt der koordinierte Angriff der Göttinger NSDAP und der Sturmabteilungen auf die Firma. Die Kundschaft zieht sich unter dem Eindruck von Verleumdungskampagnen gegen die Gräfenbergs und nach direkten Angriffen auf das Geschäft nicht sofort zurück, aber öffentlichen Widerspruch gegen das offensichtliche Unrecht erhebt niemand. So wird den Brüdern Gräfenberg und ihren Familien ihre bürgerliche und wirtschaftliche Existenz genommen – das Kaufhaus wird schon 1936 zu einem viel zu geringen Preis und unter Zwang veräußert, 1950 noch einmal an den vormaligen Besitzer zurückgegeben und nur zehn Tage später an die Firma Hettlage, heute „C&A“, verkauft. Wir berichten im Folgenden über die Menschen, deren Lebenswerk auf die eben beschriebene Weise zerstört wurde.
Hugo Gräfenberg wird 1872 als Sohn von Carl und Johanna Gräfenberg geboren. Verheiratet mit Amalie Gräfenberg, ist er ein angesehener Kaufmann in Göttingen. Zusammen mit seinem Bruder Richard betreibt er das Textilkaufhaus seines Vaters und Onkels auf der Weender Straße. Nachdem die Brüder ihre Ausbildung als Handelsgehilfen absolviert haben, reisen sie viel im Ausland, um Geschäftskontakte zu knüpfen und neue Geschäftsideen zu entwickeln: Das „Kaufhaus“ ist damals noch ein neues Konzept. Ab 1933 wird das Geschäft zur Zielscheibe nationalsozialistischer Agitation: Es gibt mehrere Boykottversuche gegen die Gräfenbergs, welche dazu führen, dass der Ertrag sinkt. Am 28. März 1933 werden Scheiben des Kaufhauses von SA-Männern eingeworfen, auch Hugos Wohnung in der Baurat-Gerber-Straße wird überfallen. Die Kampagne gegen die Familie geht danach weiter. Angestellte werden unter Druck gesetzt, damit sie die Brüder in der Öffentlichkeit unlauterer Praktiken bezichtigen. Von der Kampagne schwer getroffen verstirbt Hugo Gräfenberg am 13.Juni 1934, seine Frau im Dezember 1934 – er ist 61, sie nur 55 Jahre alt.
Die Schwiegermutter von Hugo Gräfenberg, Anna Rosenberg, überlebt ihre Tochter Amalie und ihren Schwiegersohn. Sie wird im Juli 1942 als 84-jährige über Hannover-Ahlem nach Theresienstadt deportiert, wo sie sieben Monate später stirbt. Bruder Alfred, der schon vor langer Zeit nach Berlin-Schöneberg verzogen ist, wird von dort Anfang 1942 verschleppt und stirbt im Rigaer Ghetto, seine Frau Gertrud hatte sich schon 1940 das Leben genommen. Hugos Kinder Carl und Anneliese werden 1935 vorübergehend verhaftet. Die Anklage lautete auf „illegale Devisenschiebereien“ – eine höchst fragwürdige Anschuldigung einer der Diktatur längst hörigen Justiz; Anneliese und Carl müssen für neun Monate ins Gefängnis. Kurz nach der Pogromnacht von 1938 emigriert Carl völlig mittellos nach Palästina. Dadurch kann er sich gerade noch der Verhaftung entziehen. Mit seiner Frau Rahel wandert er 1956 endgültig nach San Francisco aus, nachdem er zuvor noch einmal drei Jahre in Göttingen gelebt, sich aber nicht mehr zurechtgefunden hat. Seine Schwester Anneliese, die 1937 mit ihrem Verlobten Irtak J. Dikstein in die CSR emigriert, kann hingegen nicht aus dem deutschen Herrschaftsbereich entkommen: Sie wird mit ihrem Mann und ihrem 1938 geborenen Sohn Peter 1942 von Poděbrady (östlich von Prag) zunächst nach Theresienstadt deportiert. Alle drei werden 1943 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
Richard Gräfenberg wird am 22. September 1870 in Göttingen geboren. Er hat – wie sein Bruder - im Familienbetrieb die Ausbildung zum Handelsgehilfen durchlaufen und während vieler Reisen, vor allem in den USA und den dortigen Warenhäusern Erfahrungen von großem Wert gesammelt. 1901 übernehmen Hugo und Richard den Betrieb vollständig. Richard wohnt zusammen mit seiner zweiten Frau Helene und seinen beiden Kindern Erika und Walter, welche aus seiner ersten Ehe stammen, in der Planckstraße 12. Es ist die Ehe mit Helene, einer nicht-jüdischen Deutschen, die ihn später vor der Deportation und dem Tod bewahrt, weil seine Frau trotz aller Repressalien zu ihm steht.
Auch Richard ist durch die Boykotthetze der Nationalsozialisten ab 1933 traumatisiert. Obwohl die Familie und ihr Kaufhaus angesehen sind und das Vertrauen und die Loyalität ihrer Kunden haben, reicht die durchaus vorhandene Empörung Göttinger Bürger nicht, um gegen die NS-Ideologie und die sich aggressiv inszenierende Volksgemeinschaft standzuhalten. Der Wunsch der Bevölkerung nach Karriere, Anerkennung und Eigenschutz ist zu groß und überwältigt das Mitgefühl und die Treue gegenüber der jüdischen Familie Gräfenberg, sofern man denn Empathie aufbrachte. Aufgrund wiederholter Demütigungen und Anschuldigungen fliehen die Gräfenbergs vorsichtshalber für eine Woche aus Göttingen; 1935 gibt Richard das Geschäft verzweifelt auf. Drei Jahre später, in der Nacht des 9./10. Novembers, stürmt ein Rollkommando der SS Richard Gräfenbergs private Wohnung und zerstört die Einrichtung, wobei ein Schaden von 10.000 Reichsmark entsteht. Zusätzlich rauben die SS-Männer einige Wertgegenstände aus der Wohnung. Richard und seine Frau werden anschließend zunächst ins Polizeigefängnis gebracht; sie wird am Vormittag des 10.11. zusammen mit den festgenommenen Jüdinnen entlassen, er wird mit vielen anderen Juden in das Gerichtsgefängnis in Reinhausen gebracht. Er kommt im Gegensatz zu anderen nach einer Woche frei, nachdem sein Arzt in Reinhausen erschienen war und ihm bescheinigt hatte, dass er nicht haftfähig sei.
Ende 1939 – die Kinder Erika und Walter sind noch rechtzeitig emigriert - wird den Gräfenbergs verweigert, ihr Wohnhaus mit einer Hypothek zu belasten. Sie nehmen weitere Juden, zumeist alleinstehende Frauen, unter ihnen Anna Rosenberg, dort auf, die 1942 von dort deportiert werden. Dank seiner nichtjüdischen Ehefrau bleibt Richard dieses Schicksal erspart, obwohl es immer wieder Bestrebungen gibt, auch ihn in den sicheren Tod zu schicken. Als Anfang 1945 seine Deportation nach Theresienstadt betrieben wird, wird der 74-Jährige aufgrund von Krankheit für nicht transportfähig befunden.
Nach dem Krieg ist Richard Gräfenberg in der Planckstraße 12 der wichtigste Anlaufpunkt für die wenigen Juden, die aus Osteuropa zurückkehren und für Angehörige ehemaliger Göttinger Gemeindemitglieder, die ihre Verwandten - zumeist vergeblich - suchen. Er hält die Reste der jüdischen Gemeinde zusammen, aber seine alte Welt ist unwiederbringlich untergegangen: Von der ehemaligen jüdischen Gemeinde Göttingens, die 1933 noch 475 Personen zählte, hat mit ihm nur ein einziger vor Ort ausgeharrt und überlebt. (Drei vom Regime gleichfalls als „Volljuden“ eingestufte Göttinger gehören nicht der Synagogengemeinde an. Sie waren vor langer Zeit im Zusammenhang mit ihrer Heirat zum Protestantismus konvertiert.)
Sehr geehrte Familie Gray,
sehr geehrte Jan Jaben-Eilon,
sehr geehrter Joab Eichenberg-Eilon,
sehr geehrte Lori Brown,
sehr geehrter Ronald Brown,
liebe Paten,
liebe Mitwirkende in der Vorbereitung und Gestaltung dieser Stolpersteinverlegung, liebe Schülerinnen und Schüler des Theodor-Heuss-Gymnasiums,
lieber Vorsitzender des Geschichtsvereins Peter Aufgebauer,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
Bei der Verlegung der Stolpersteine für Meta Müller geb. Gräfenberg sowie für deren Töchter Ilse (verheiratete Eisenstein) und Rosa Luise (verheiratete Rosenberg) und weitere Mitglieder der Familien Doetzer-Berweger die Geschichte dieser beiden Familien anhand des biografischen Anhangs aus seinem Eisenstein (Gustav, Inge und Ruth) und Rosenberg (Gerd und Ursula) stellte der Historiker Dr. Oliver Doetzer-Berweger sein Buch vor, ergänzt durch Zitate aus einigen Briefen.
Zur Dokumentation der Lebensgeschichten im Kontext der Stolpersteinverlegung dienen im Folgenden die biografischen Skizzen zu den Familien Rosenberg und Eisenstein, mit Genehmigung des Autors (und ergänzt um kleine aktualisierende Korrekturen) entnommen aus: Oliver Doetzer: „Aus Menschen werden Briefe“. Die Korrespondenz einer jüdischen Familie zwischen Verfolgung und Emigration 1933-1947, Böhlau Verlag 2002, S. 270ff.
Es wurde die Geschichte der gesamten Großfamilie vorgestellt, doch Stolpersteine wurden nur verlegt für diejenigen Familienmitglieder, die ihren letzten frei gewählten Wohnsitz in der Bühlstraße 28a hatten. Die Namen dieser Familienmitglieder werden in der folgenden Vorstellung unterstrichen.
Georg Rosenberg
geb. 19. September 1878 in Hildesheim — gest. 12. August 1942 im Ghetto Lodz
Georg Rosenberg wurde am 19. September 1879 in Hildesheim als Sohn des Kaufmanns Julius Rosenberg und seiner Frau, deren Vorname unbekannt ist, geboren. Sein Bruder Gus[tav] Rosenberg, emigrierte um 1890 in die USA und wurde in Vallejo, Kalifornien, Mitinhaber des Kaufhauses „Levee‘s Department Store”. Sein Bruder Adolf Rosenberg ergriff ebenfalls den Beruf des Kaufmanns. Er hatte noch zwei Schwestern: Else und Anna.
Nach dem Besuch des Gymnasiums in Hildesheim absolvierte Georg Rosenberg eine Banklehre in Hamburg. Gern hätte er Jura studiert und wäre Rechtsanwalt geworden, aber die finanziellen Umstände der Eltern ließen dies nicht zu. Er heiratete erst im Alter von 35 Jahren am 22. März 1914 die neunzehnjährige Rosel Müller. Mit ihr hatte er vier Kinder. Im Ersten Weltkrieg diente er vier Jahre als Feldsoldat und wurde mit dem »Eisernen Kreuz” 2. Klasse ausgezeichnet. Seine letzte berufliche Position war die eines Bankdirektors bei der Commerz-Bank AG in Wetzlar. Er wurde zum 1. Juli 1934 im Alter von 55 Jahren pensioniert, die Bank zahlte seine Pension bis zu seiner Deportation.
Zum 1. Juli 1934 zog die Familie Rosenberg von Gießen nach Göttingen in eine Wohnung Ilse Eisensteins in der Bühlstraße 28 a, doch bereits zum 21.6.1935 wurden Georg und Rosel Rosenberg (er aus Gießen, sie aus Göttingen kommend) in Frankfurt a. M. im Oederweg 96 angemeldet. Zum Mai 1936 zog Ilse Eisenstein mit ihren Töchtern ebenfalls dorthin. Während des Pogroms vom 10. November 1938 wurde Georg Rosenberg in der Frankfurter Festhalle inhaftiert. Ab dem 12. Mai 1941 musste er Zwangsarbeit bei der Firma „Voltohm Seil- und Kabelwerke AG” in Frankfurt leisten. Mit dem ersten Transport aus Frankfurt wurde er am 19. Oktober 1941 nach Lodz deportiert, seine letzte Postkarte schickte er auf der Fahrt aus Posen. Die genauen Umstände seines Todes im Ghetto Lodz am 12. August 1942 sind ungeklärt.
Rosa Luise [Rosel] Rosenberg geb. Müller
geb. 25. Mai 1894 in Göttingen — gest. 10. März 1939 in Frankfurt a. M.
Rosel Müller wurde am 25. Mai 1894 als Tochter des Bankiers Hermann Müller, Mitinhaber des Bankhauses Benfey, und seiner Frau Meta, geb. Gräfenberg , in Göttingen geboren. Ihr Vater starb am 25. Mai 1910, ihre Mutter am 18. September 1935. Von 1900 bis 1911 besuchte sie das Städtische Oberlyzeum in Göttingen. Mit neunzehn Jahren heiratete sie 1914 den 16 Jahre älteren Bankdirektor Georg Rosenberg. Ihre Söhne Hermann und Kurt wurden 1915 und 1916 geboren. Diese musste sie allein versorgen, da ihr Mann Kriegsteilnehmer war. Sie beschrieb diese Zeit als sehr schwer und entmutigend. Die Zwillinge Ursula und Gerd kamen 1921 zur Welt. Gerds Zuckerkrankheit, die 1930 diagnostiziert wurde, stellte für Rosel Rosenberg eine zusätzliche psychische und physische Belastung dar. Sie war gemäß den bürgerlichen Konventionen und da auch keine ökonomische Notwendigkeit bestand, nicht erwerbstätig. Im Laufe des Jahres 1938 kam es wiederholt zu Gallenkoliken, sieverbrachte längere Zeit im Krankenhaus. Am 10. März 1939 starb sie im Alter von 44 Jahren an einer Embolie.
Deren Kinder:
Hermann Rosenberg
geb. 03. Januar 1915 in Göttingen — gest. 27. Juli 1984 in San Francisco
Hermann Rosenberg wurde als erstes Kind der Familie Rosenberg am 03. Januar 1915 in Göttingen geboren. Über seine schulische Ausbildung ist nichts bekannt. Der erste Hinweis auf seine Berufstätigkeit als Bankkaufmann bei der Filiale der Genossenschaftsbank IWRIA in Chemnitz befindet sich auf einer Postkarte vom 16. September 1935. Am 28. Dezember 1936 emigrierte Hermann in die USA.65 Sein Onkel Gus(tav) Rosenberg, der das Affidavit stellte, beschäftigte ihn in seinem Kaufhaus in Vallejo, Kalifornien als Angestellten. Im Jahr 1938 besuchte er für mehrere Monate eine Handelsschule in San Francisco. Am 21. Juni 1937 beantragte er mit einer Declaration of Intention” die amerikanische Staatsbürgerschaft, am 14. August 1943 wurde er ,,naturalisiert.” Im Januar 1942 wurde er in die US- Army eingezogen. Nach dem Tod seiner Mutter brach er den Briefkontakt mit seinem Vater fast gänzlich ab und schrieb auch seinen Geschwistern selten. Als Testamentsvollstreckerin nach seinem Tode am 27. Juli 1984 fungierte seine Schwester Ursula.
Kurt J.[ulius] Rosenberg geb. 04. Februar 1916 in Göttingen — gest. 20. April 1944 im Mittelmeer vor Kap Bengut, Algerien
Kurt Rosenberg wurde am 4. Februar 1916 in Göttingen als zweites Kind der Familie Rosenberg geboren. Auch über seine schulische Laufbahn ist nichts bekannt. In Wetzlar absolvierte er ab April 1934 eine Ausbildung zum Feinmechaniker bei der Firma Leitz, Hersteller der Leica Kamera. Die Gesellenprüfung durfte er nicht mehr ablegen, er blieb aber nach dem Ende seiner Ausbildung am 4. April 1937 in der Firma. Er war ein ambitionierter Hobbyfotograf, der später Fotodokumentationen über sein Leben und den Arbeitsalltag in den USA anfertigte und an seine Eltern schickte. Am 2. Februar 1938 verließ er Deutschland und arbeitete nach seiner Ankunft in den USA bei der Ernst Leitz Inc. in New York als Kamerareparateur und später für Leitz in San Francisco. Im Frühjahr 1939 wechselte er in die deutschstämmige Foto- und Optikfirma Spindler and Saupe Inc. in San Francisco, im Frühjahr 1942 zog er mit der Firma nach Los Angeles um und lebte in einem YMCA-Heim. Ende Oktober 1943 wurde er „naturalisiert”.
Seine minderjährigen Geschwister Ursula und Gerd, die er schon während ihres Zwischenaufenthalts in Großbritannien finanziell unterstützt hatte, wohnten nach ihrer Ankunft in den USA am 12. März 1940 mit ihm in seiner Wohnung in San Francisco. Ab April 1943 nahm er als Bordfotograf in der US-Airforce am Zweiten Weltkrieg teil und starb im Alter von 28 Jahren am 20. April 1944 beim Untergang eines Truppentransportschiffes vor der algerischen Küste.
Gerhard (Gert, Gerd] Rosenberg
geb. 24. August 1921 in Fulda — gest. 26. Mai 1940 in San Francisco
Gerd Rosenberg wurde am 24. August 1921 in Fulda geboren, seine schulische Ausbildung fand nach der Grundschule auf einem Göttinger und bis September 1937 einem Frankfurter Gymnasium statt. Anschließend arbeitete er ab dem 1. November 1937 bis zum März 1939 bei dem jüdischen Fotografen D. Spier in Frankfurt als Volontär. Im Alter von neun Jahren wurde ein Diabetes diagnostiziert, der ihn immer wieder zu längeren Krankenhausaufenthalten zwang, in denen er auf eine bestimmte Insulindosis eingestellt wurde. Seine Mutter starb, als er 17 Jahre alt war.
Am 8. Juli 1939 verließ er Frankfurt mit seiner Zwillingsschwester Ursula mit einem „Kindertransport” nach Großbritannien. Sie lebten in Brighton in der Familie eines Verwandten, des emigrierten Braunschweiger Professors für Betriebswirtschaftslehre Friedrich Meyenberg.
Am 12. März 1940 reisten die Geschwister weiter zu ihrem Bruder Kurt in San Francisco und lebten in seiner Wohnung. Gerd Rosenberg hatte große Probleme, sich psychisch auf die neue Situation ohne seine Eltern und physisch auf das amerikanische Insulin einzustellen, schon in Brighton musste er auf Grund einer Verschlechterung seines Diabetes längere Zeit im Krankenhaus verbringen. Am 26. Mai1940, einen Tag nach dem Geburtstag seiner Mutter, nahm er sich in der Wohnung seines Bruders das Leben.
Ursula Rosenberg
geb. 24. August 1921 in Fulda — in den USA verstorben
Die am 24. August 1921 in Fulda geborene Ursula Rosenberg hatte wie ihr Zwillingsbruder nur noch eingeschränkte Möglichkeiten zu Schulbesuch und Ausbildung. Sie beendete ihre Schulzeit in einem Alter, das auf eine Mittelschulausbildung schließen lässt. Ab dem 01. Mai 1937 absolvierte sie eine halbjährige Ausbildung in Hauswirtschaft in einem jüdischen Kinderheim in Bollschweil, das eine Verwandte leitete. Danach lernte sie in Frankfurt Damenschneiderei und die Anfertigung von Papierblumen. Sie emigrierte zusammen mit ihrem Bruder Gerd. Nach der Ankunft in den USA und dem Suizid ihres Bruders Gerd wurde ihr Kontakt zu den anderen Familienangehörigen immer sporadischer. Sie zog bei ihrem Bruder Kurt aus, arbeitete in einem Drugstore und änderte ihren Namen. Sie starb vor einigen Jahren in den USA.
Rosel Rosenbergs Schwestern
Else [Ilse)] Eisenstein geb. Müller
geb. 14. September 1895 Göttingen — 24. September 1942 deportiert
Ilse Eisenstein wurde am 14. September 1895 als zweite Tochter von Meta und Hermann Müller geboren. Von 1902 bis 1913 besuchte sie das Städtische Oberlyzeum in Göttingen. Sie absolvierte eine Ausbildung als Krankenschwester und heiratete den über 20 Jahre älteren Gustav Eisenstein aus Beverungen, der am 16. März 1934 auf einer Geschäftsreise in Berlin starb. Ihr Sohn Walter starb 1927, sieben Monate nach der Geburt. Sie konnte mit ihren beiden Töchtern von den Einkünften aus ihrem Immobilienbesitz in Göttingen und Berlin leben. Am 8. Mai 1936 zogen sie nach Frankfurt zu Rosenbergs ¡n die Wohnung. Ihre Töchter Ruth, geboren 06. März 1928, und Inge, geboren 24. Januar 1930, wurden mit ihr am 24. September 1942 nach Estland deportiert. Dort wurden alle drei mit großer Wahrscheinlichkeit schon in den nächsten Tagen in Kalevi- Liiva ermordet. Am 12. Februar 1948 erklärte sie das Amtsgericht Frankfurt a. M. für tot.
Margarete [Grete] Eichenberg geb. Müller geb. 11. Mai 1900 Göttingen — gest. 19. September 1992 in Jerusalem
Am 11. Mai 1900 wurde Grete Müller in Göttingen als jüngste Tochter der Familie Müller geboren. Auch sie besuchte von 1906 bis 1916 das Städtische Oberlyzeum in Göttingen. Im November 1933 wanderte sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern nach Palästina aus. Bis zur Gründung des Staates Israel war ihre Lebenssituation geprägt von Armut, häufiger Trennung von ihrem Mann, der in wechselnden Beschäftigungsverhältnissen den Lebensunterhalt der Familie verdiente, und der politisch unsicheren Lage. So lange wie es devisenrechtlich möglich war, wurde sie von ihren Schwestern aus Frankfurt finanziell unterstützt. Nach dem Krieg versuchte sie, den Kontakt zu den übriggebliebenen Familienmitgliedern wiederherzustellen. Sie starb 1992 in Jerusalem.
Rudolf [Rudi] Eichenberg geb. 25. Mai 1896 in Göttingen — gest. 15. März 1989 Jerusalem
Über Rudolf Eichenbergs Jugend ist aus den vorhandenen Materialien wenig zu erfahren. Er studierte vermutlich Jura in Hamburg. In Deutschland war er zuletzt als Direktor des ,,Bielefelder Kaufhauses” in Gütersloh beschäftigt. In Palästina wohnte er mit seiner Familie zuerst in Hedera auf der Plantage seines Bruders Dr. Walter Eichenberg, eines Agrarwissenschaftlers, der als Zionist schon in den 20er Jahren emigrierte. Er war in wechselnden, gefährlichen und schlecht bezahlten Beschäftigungen tätig. Im Zweiten Weltkrieg wurde er Staff-Sergeant in der Britischen Armee und arbeitete als Manager eines Offizierskasinos der Transjordan Frontier Force. Nach dem Krieg und der Gründung des Staates Israel stieg er zum Inspektor beim Controler of Light Industries auf und war für die israelische Textilindustrie zuständig. Er starb 1989 in Jerusalem.
Margarete und Rudolf Eichenbergs Kinder Marianne und Peter-Joachim wurden am24. März 1927 bzw. 05. August 1928 in Hannover geboren.
Marianne starb 1994, Peter-Joachim 1996 in Jerusalem.
Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus
Sehr geehrte Familie Hayden, sehr geehrte Frau Barton, sehr geehrte Frau Kanter,
liebe Mitwirkende in der Vorbereitung und Gestaltung dieser Stolpersteinverlegung, liebe Schülerinnen und Schüler vom FKG und MPG,
liebe Stadträtin Petra Broistedt, lieber Vorsitzender des Geschichtsvereins Prof. Dr. Peter Aufgebauer,
lieber Herr Demnig, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Gunter Demnig erinnert mit seinem Kunstprojekt „Stolpersteine“ an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem Wohn- oder Arbeitsort Gedenktafeln aus Messing in den Bürgersteig einlässt. Inzwischen liegen Stolpersteine in über 1.100 Orten in Deutschland und in vielen Ländern Europas. 'Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist', zitiert Demnig auf seiner Internet-Seite den Talmud. Mit den Steinen vor den Häusern wird die Erinnerung an die Menschen lebendig, die einst hier wohnten und arbeiteten.
Ich freue mich sehr, dass Sie alle heute zur Verlegung von 18 Stolpersteinen gekommen sind. An vier Stellen in unserer Stadt wird Herr Demnig Steine für die Familien Hahn, Silbergleit und Meiniger setzen. Für alle 18 Steine haben sich übrigens Patinnen und Paten aus unserer Stadt gefunden. Vielen, vielen Dank und allen Paten ein herzliches Willkommen. Musikalisch begleitet werden wir von Silas Kömen, Saxophon, und Jakob Gründemann, Gitarre vom Felix-Klein-Gymnasium. An dieser ersten Verlegestation werden sie die Hatikva spielen. Mit unserer Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit haben die Stadt Göttingen und der Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e.V. diese Verlegung vorbereitet. Für die gute und erfolgreiche Zusammenarbeit – insbesondere mit Dr. Böhme und Prof. Aufgebauer - bedanke ich mich ganz herzlich. Wir stehen hier vor dem Stammhaus der Familie Hahn. Die Fassade des Hauses erinnert immer noch daran. In diesem Haus arbeitet heute die Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Jacqueline Jürgenliemk, die ich herzlich begrüße.
Es ist uns eine ganz besondere Ehre, dass Diane Kanter aus Belgien mit ihrer Schwester Trudy Barton aus Kanada und Prof. Dr. Michael Hayden mit Familie ebenfalls aus Kanada zu uns nach Göttingen gereist sind. Sie sind Nachkommen der Familien Hahn, die hier in der Weender Straße 70 ihr Stammhaus hatten. Von den Nationalsozialisten wurden die beiden Familien Hahn seit Anfang der 30ger Jahre verfolgt, ins Gefängnis geworfen, gedemütigt und ausgeraubt. Die damals noch jüngeren Familienmitglieder konnten fliehen, die beiden Ehepaare Getrud Tana und Max Raphael Hahn, sowie Betty und Nathan Hahn wurden von den Faschisten ermordet. Mit den 8 Stolpersteine für die zwei Familien Hahn wird die Erinnerung an Ihre Vorfahren, liebe Frau Barton, liebe Frau Kanter und liebe Familie Hayden in das Straßenpflaster eingeschrieben – zur Erinnerung und zur Mahnung für uns.
Galit Noga-Banai – eine israelische Wissenschaftlerin - schrieb von einigen Tagen in der FAZ, Stolpersteine seien „Verbindungsadern in die Vergangenheit – eine Tradition, die nicht abreißen darf“. Mit den Steinen könne ein „imaginärer Stadtplan“ entstehen und so z.B. auch das in der Shoa verlorengegangene jüdische Göttingen in die Straßen unserer Stadt eingeschrieben werden. Nach und nach können so Stolpersteine unsere Stadt, unser Land und Europa in ein sichtbares Martyrologium verwandeln, in ein jüdisches Märtyrerverzeichnis. Frau Noga-Banai fordert daher konsequent, endlich auch in München Stolpersteine zu verlegen. Aber auch für Göttingen hätte das Konsequenzen: es würde bedeuten, dass auch der Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserer Stadt gedacht werden müsste, aus deren Familien niemand fliehen konnte, alle ermordet wurden, so dass es keine Nachkommen mehr gibt. Das ist leider derzeit nicht möglich. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass Erinnerungs- und Mahnsteine auf öffentlichem Grund allen Opfern des deutschen faschistischen Systems zustehen und appelliere an dieser Stelle an den Rat der Stadt Göttingen, die Grundlagen dafür zu schaffen!
'Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist'. Ich bin dankbar, dass wir heute die Erinnerung an 18 Göttingerinnen und Göttinger wachrufen, die in der Nazizeit entrechtet wurden, geflohen sind, ermordet wurden.
Unser herzlicher Dank geht an Dr. Rainer Driever, der jetzt die beiden Familien Hahn würdigt.
Heiner J. Willen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. 07. Februar 2018
Familie Hahn
Die Familie Hahn gehörte zu den angesehensten innerhalb der jüdischen Gemeinde Göttingens. Nathan, geboren 1868, und sein Bruder Max Raphael, geboren 1880, leiteten das Familienunternehmen Rohhäute und Fellgroßhandlung Raphael Hahn Söhne OHG ab 1896 in Nachfolge ihres Vaters Raphael. Dieser kaufte das Haus, vor dem wir heute stehen, im Jahre 1864. Es wurde zum Stammsitz der Familie.
Nathan heiratete 1908 Betty Grünbaum. Ihre Söhne Max und Leo wurden 1909 und 1913 beboren. Sie verbrachten einen großen Teil ihrer Kindheit im Haus in der Weender Straße.
Max Raphael arbeitete während des Ersten Weltkrieges für Walther Rathenau in der Preußischen Kriegsrohstoffabteilung. 1917 heiratete er Gertrud Lasch. Zwei Jahre später kehrte Max Raphael nach Göttingen zurück. Das Ehepaar bezog eine Villa in der Merkelstraße, wo auch ihren beiden Kinder Rudolf und Hanni 1919 und 1922 geboren wurden.
Die Familie Hahn gehörte seit den 1890er Jahren zunächst zur kleinen orthodoxen Gemeinde („Austrittsgemeinde“). 1919 schloss sich Max Raphael der reformorientierten jüdischen Mehrheitsgemeinde an. Von 1921 bis 1940 gehörte er in den Kreis der Vorsitzenden und wurde zur dominierenden Persönlichkeit der Gemeinde. Zusammen mit seiner Frau engagierte er sich zudem in der jüdischen Moritz-Lazarus Loge, die sich der Verbindung von religiöser und nationaler Identität sowie der Wohlfahrtspflege widmete.
Max Raphael trat auch als Sammler von Judaica die Nachfolge seines Vaters an. Für die Bedeutung der Sammlung spricht ein Artikel im Israelitischen Familienblatt 1929 und ihre Aufnahme in das Handbuch des jüdischen Wissens des Philo-Verlags Berlin im Jahre 1934. Von 1927 bis 1935 waren zudem einzelne Objekte in Ausstellungen verschiedener Museen zu sehen.
Bereits früh waren die Hahns Ziel antisemitischen Terrors, am 15. Januar 1932 trafen Steine die Fensterscheiben des Wohnhauses von Max Raphael in der Merkelstraße. Am 11. November 1933 erfolgte auf eine Denunziation hin eine ergebnislose Durchsuchung des Stammhauses. Im April 1935 skandierte ein Trupp SA'ler vor dem Hahnschen Wohnhaus in der Merkelstraße Max Hahn verrecke.
Die Beraubung durch die Nazis und die Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben setzte 1934 ein - dem Hahnschen Unternehmen wurden dringend benötigte Kredite verweigert. 1937 kam es zu einem Vergleich zur Abwendung des Konkurs für die Gallus-Schuhfabrik, die seit 1926 zum Familienunternehmen gehörte. Bereits Ende September 1934 wurde das dazugehörige Schuhgeschäft Ecke Weender Straße-Theaterstraße geschlossen. Am 1. März 1939 wurden schließlich die Hahn'schen Unternehmen zusammen mit dem Hauptbetrieb, der Rohhäute und Fellgroßhandlung Raphael Hahn Söhne OHG, liquidiert.
Die Söhne von Nathan, Max und sein jüngerer Bruder Leo, besuchten die Kaiser-Wilhelm-Oberrealschule (Felix-Klein-Gymnasium) in Göttingen. Max arbeitete nach dem Schulabschluss in der väterlichen Firma, während Leo 1931 nach München ging, um Jura zu studieren. Nach einem kurzem Aufenthalt in seiner Heimatstadt gelang Leo im Januar 1938 die Emigration nach Palästina.
Die Kinder von Max-Raphael und Gertrud Hahn waren ab 1933 Mitglieder in der Deutsch-Jüdischen Jugend. Hanni besuchte ab 1932 die Städtische Oberschule für Mädchen (heute Hainberg-Gymnasium). Sie wurde 1938, zwei Jahre vor dem regulären Ende ihrer Schulzeit, mit ihren jüdischen Klassenkameradinnen der Schule verwiesen. Daufhin begann sie in Hamburg eine Ausbildung zur Kinderschwester. Ihr Bruder Rudolf war der letzte jüdische Schüler, der an der Kaiser-Wilhelm-Oberrealschule 1937 sein Abitur machte. Er begann in Hamburg bei der jüdischen Import-Export-Firma B. Luria & Co eine Lehre.
In der Nacht zum 10. November 1938 brannte auch in Göttingen die Synagoge. Das Hahnsche Wohnhaus in der Merkelstraße 3 wurde von SS-Männern verwüstet, Max Raphael und seine Frau Gertrud wurden verhaftet und im Göttinger Gerichtsgefängnis inhaftiert. Gertrud kam am nächsten Tag frei, Max Raphael blieb bis zum Juni 1939 inhaftiert. Auch das Haus seines Bruders Nathan wurde von der SS heimgesucht, Nathan, seine Frau Betty und ihr Sohn Max wurden verhaftet und ebenfalls inhaftiert. Auch Betty Hahn wurde bereits am nächsten Tag entlassen, Nathan kam nach neun Tagen wieder frei, sein Sohn Max nach 11.
Rudolf Hahn konnte sich von seinem Vater Max Raphael im Göttinger Gerichtsgefängnis nur noch in Gegenwart der Gestapo verabschieden. Kurz darauf, Ende Januar 1939, gelang ihm von Hamburg aus die Emigration nach England. Seine Schwester Hanni konnte ihm vier Monate später folgen.
Max Hahn zog nach seiner Haftentlassung zu seiner Verlobten Lili Glaser nach Hamburg. Er leistete dort Zwangsarbeit im Hafen, beide warteten auf eine Gelegenheit, in die USA auszureisen. Dies gelang über Lissabon im Juni 1941.
Hamburg war auch das Ziel von Betty und Nathan Hahn. Sie versuchten dort bereits ab Dezember 1939, ein Visum für die USA zu beschaffen - vergeblich. Von dort wurden sie am 15. Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Bereits im September 1942 erfolgte die Deportation in das Vernichtungslager Treblinka, wo das Ehepaar ermordet wurde.
Im Jahr 1939 versuchte Max Raphael Hahn erfolglos, seine eingelagerte Sammlung von Judaica wieder zu erlangen. Nach seiner erneuten Inhaftierung verließ er mit seiner Frau Gertrud nun ebenfalls Göttingen in Richtung Hamburg, um in der Nähe des Überseehafens Möglichkeiten für die Emigration zu suchen. Am 6. Dezember 1941 wurden beide von dort in das Lager Jungfernhof bei Riga transportiert. Gertrud starb entweder bereits auf dem Transport oder kurz nach der Ankunft in Riga am 9. Dezember. Max Raphael wurde spätestens im März 1942 ermordet.
Rudolf Hahn trat im Februar 1940 in die britische Armee ein, 1943 nahm er den Namen Roger Randolph Haydn an. Als Captain kehrte er 1946 nach Deutschland und Göttingen zurück. Er suchte weiter nach seinen Eltern. Im Mai 1946 schrieb er an seine Schwester Hanni, dass es keine Hoffnung auf ihre Rückkehr gibt. Parallel forschten die Geschwister nach dem geraubten Familieneigentum und strengten dessen Restitution an.
Roger Haydn heiratete 1947 und ließ sich mit seiner Frau Ann in Südafrika nieder. Er starb 1984 in Kapstadt. Seine Schwester Hanni heiratete im Dezember 1945. Die Familie Barton wohnte in Epsom, einer Vorstadt von London. Dort starb Hanni Hahn 1985.
Max Hahn arbeitete in den USA als Inspektor im Ingenieurswesen, danach als Einkaufsdirektor im Bergwerkswesen. 1966 gründete er seine eigene Firma in New Jersey. Er engagierte sich zudem in Fragen der Wiedergutmachungsgesetzgebung. Max Hahn starb 1992, sein Bruder Leo bereits drei Jahre früher in Israel.
Dear friends from the United States, from Canada and from Belgium – shalom.
Meine Damen und Herren,
Namens des Göttinger Geschichtsvereins, der zusammmen mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Kooperation mit der Stadt das Projekt „Stolpersteine für Göttingen“ trägt, begrüße ich Sie hier zur Verlegung der Stolpersteine für Lea und Max Silbergleit.
Wenige hundert Meter von hier erinnert ein Mahnmal an die Synagoge der jüdischen Gemeinde, die in der Pogromnacht des 9. November 1938 niedergebrannt wurde. Es besteht aus sich nach oben verjüngenden Davidsternen (Magen David). Sie sind um wenige Grad so gegeneinader gedreht, dass sich insgesamt der Eindruck einer großen züngelnden Flamme ergibt. Alle Opfer des nationalsozialistischen Systems, die wir heute durch die Verlegung von Stolpersteinen vor ihren Wohnungen und Geschäften ehren, waren Mitglieder dieser jüdischen Gemeinde.
An jedem 9. November wird am Platz der Synagoge unter Teilnahme einiger hundert Bürger an alle drangsalierten, entrechteten, vertriebenen und ermordeten jüdischen Menschen unserer Stadt erinnert und Kaddisch gesprochen.
Das Projekt der ‚Stolpersteine’ ist zu diesem zentralen jährlichen Gedenken komplementär: Durch ihre Verlegung im öffentlichen Raum vor der letzten selbst gewählten Wohnstätte holen wir nach und nach die Erinnerung an jeden Einzelnen der Verfolgten und Ermordeten in unsere Stadt und in unseren Alltag zurück. Um den Text der Steine, die in den Fußweg eingelassen sind, lesen zu können, muss man sich hinab beugen – sich vor den Opfern verneigen. Die Arbeitsgruppen, welche die Biographien rekonstruieren, die hinter den kurzen Textelementen der Steine stehen, kommen aus der Bürgerschaft, aus der Universität, nicht zuletzt aus den Schulen – kurzum aus der Zivilgesellschaft. Sie bringen die von ihnen erarbeiteten, hier öffentlich vorgetragenen und anschließend auf der Internetseite der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit dokumentierten Lebensbilder von neuem in unser kollektives Gedächtnis ein und lassen sie damit zu einem Bestandteil der Identität unserer Stadt werden. Was die Nationalsozialisten mit Gewalt, Vertreibung und Mord für immer ausrotten wollten, holen wir in die Erinnerung und in das Gedenken wieder zurück. Europaweit haben die Nachkommen der Tätergeneration zusammen mit dem Künstler Gunter Demnig mit mehr als 60.000 Stolpersteinen ein einzigartiges, stetig wachsendes Flächenmahnmal geschaffen und damit zugleich ein immer dichter werdendes Netz der Erinnerung. Dieses Flächenmahnmal, dieses Netz der Erinnerung wächst hier und heute um 18 Stolpersteine mit 18 Namen.
In Göttingen geschieht dies jeweils auf ausdrücklichen Wunsch und mit Zustimmung von Nachkommen und Verwandten der zu Ehrenden. Diese Angehörigen und Nachkommen sind aus den USA, aus Kanada, aus Belgien eigens zur Verlegung der Steine nach Göttingen gekommen. Dies zeigt uns, dass die Verlegung der Stolpersteine diesen Angehörigen und Nachkommen ein wichtiges persönliches Anliegen ist. Uns ist sie eine ethische Verpflichtung angesichts des finstersten Kapitels unserer Geschichte. Der heutige Tag, diese Feierstunde, dieser Teilnehmerkreis zeigen uns: Die Vergangenheit ist nicht tot – sie ist nicht einmal vergangen.
Stolpersteinenthüllung —Max und Lea Silbergleit—
Lea Silbergleit (geboren Blum) wurde am 22. März 1883 in Polen geboren. Sie kam 1905 aus Meseritz nach Göttingen und eröffnete hier im Papendiek 29 eine kleine Papierwarenhandlung; wohnte allerdings zunächst eine Straße weiter in der Johannisstraße Nr. 76. Dort lernte sie vermutlich auch ihren Ehemann Max Silbergleit kennen.
Max Silbergleit wurde am 21. August 1878 in Warschau geboren. Auch er kam 1905 nach Göttingen und wohnte dort im selben Haus, wie Lea Silbergleit. Im darauffolgenden Jahr heirateten die beiden schließlich und im Juli 1906 übernahm er ihren Betrieb. Er war gelernter Taschenmacher und Portefeuillearbeiter und erweiterte den Betrieb daher noch um eine Lederwarenhandlung. Noch im gleichen Jahr zogen Max und Lea Silbergleit in den Papendiek Nr. 29, direkt über ihren Laden, wo sie bis 1909 wohnten.
Das Angebot der beiden kam bei der Kundschaft sehr gut an und vergrößerte sich daher mit den Jahren immer mehr; 1909 wurde es schließlich in die Nummer 3 verlegt. Hier im Erdgeschoss befand sich das Papierwarengeschäft; die Lederwarenhandlung mit dem höherwertigen Sortiment wurde im 1. Stock eingerichtet. Dort wurde nicht nur die gelieferte Ware verkauft, sondern auch Produkte aus eigener Herstellung. Die ,,Anfertigung feiner Lederwaren“ war ein spezielles Angebot von Max Silbergleit, mit dem er sich stark von der Konkurrenz abgehoben hat. Durch seine guten Verbindungen in der Lederbranche wurde sein Betrieb ein Vertragsgeschäft für "Offenbacher Lederwaren", die er ab Mitte der 20er Jahre auch in seinem Laden verkaufte.
Über dem Geschäft, im zweiten und dritten Stock, befand sich die Privatwohnung der beiden, in der sie von 1909 bis (zu ihrer Deportation) 1942 wohnten. Im Jahre 1913 hat Max Silbergleit schließlich das komplette Haus gekauft, wodurch dann die Mietbelastung entfallen ist. Wie viele Menschen damals waren auch die Silbergleits gutbürgerlich eingerichtet, hatten ein Theaterabonnement und machten jedes Jahr zusammen mit ihren Geschwistern Paul und Rosa Silbergleit eine Bäderreise. Die Wirtschaftskrise im Jahr 1929 belastet die Umsätze der beiden allerdings sehr.
Sie überstehen die Krisenjahre nur durch ihr in den früheren Jahren erwirtschaftetes Vermögen. Durch den Göttinger SA-Aufmarsch (zwei Monate nach Hitlers Machtergreifung) am 28.März 1933 wurden viele jüdische Geschäfte schwer beschädigt. So auch das von Max und Lea Silbergleit; SA-Männer sind damals über die eingeschlagenen Schaufenster ins Ladenlokal eingedrungen und haben es ausgeplündert. Als Folge der antijüdischen Hetze ging der Umsatz in den folgenden Jahren auf fast die Hälfte zurück. Außerdem wurden sie sozial komplett isoliert und von der Gesellschaft ausgegrenzt.
Am 14. Juli 1933 trat das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen in Kraft, wodurch auch die Silbergleits 1935 ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlieren, die sie seit 1927 besaßen. Danach sinkt sein Betrieb bis zur Bedeutungslosigkeit herab. In der Reichspogromnacht vom 09. auf den 10. November 1938, in der in ganz Deutschland Gewaltmaßnahmen vom nationalsozialistischen Regime organisiert worden waren, wurde das Geschäft abermals beschädigt. In blindem Hass wurden das Geschäft und das Warenlager zerstört und die Privatwohnung der beiden mit Spitzhacken zerstört und geplündert. Am nächsten Tag wurden die noch verbliebenen Waren abtransportiert. Die zerstörten Fenster wurden vom Stadtbauamt zwar wieder repariert, allerdings mussten die Silbergleits die Kosten für die Instandsetzung übernehmen.
In Folge dieser Anschläge musste Max Silbergleit am 23. November 1938 sein Gewerbe abmelden. Die politische Situation ausnutzend übernahm der arische Konkurrent Kurt Sievert das Traditionsgeschäft der Familie Silbergleit. Ohne jegliche Entschädigung. Die beidem mussten nun mit ihrem restlichen Vermögen auskommen. Als ein halbes Jahr später das Geld knapp wurde, sahen sie sich genötigt ihr Haus zu verkaufen. Bis Oktober 1940 durften sie zur Miete weiterhin dort wohnen bleiben. Danach wurden die Zimmer im 2. Stock von dem neuen Eigentümer selbst genutzt, sodass den Silbergleits zum Schluss nur noch ein Zimmer mit Küche im 3. Stock zur Verfügung stand.
Am 26. März 1942 wurden die meisten noch verbliebenen Göttingen Juden deportiert. So auch Max und Lea Silbergleit. Zusammen mit ihren Geschwistern Paul und Rosa Silbergleit und vielen anderen Juden mussten sie sich auf dem Albani-Kirchhof versammeln, um dann vor aller Augen zum Bahnhof zu marschieren. Sie wurden zunächst in das Sammellager Hannover-Ahlem gebracht. Im Sommer wurde Lea nach Treblinka überstellt, ihr Mann folgte nur wenig später. Beide sterben noch vor ihren Geschwistern.
Sehr geehrter Herr Prof. Buergenthal, sehr geehrte Familie Buergenthal, meine sehr geehrten Damen und Herren,
an dieser dritten Station der heutigen Stolperstein-Verlegung begrüße ich Sie im Namen von Oberbürgermeister Rolf-Georg-Köhler, im Namen des Rates der Stadt Göttingen, aller Göttinger Bürgerinnen und Bürger und natürlich persönlich sehr herzlich! Über das Projekt der Stolpersteine im Allgemeinen und über die Verlegungen hier in Göttingen haben wir heute bereits viel erfahren. Dem kann und will ich nichts weiter hinzufügen. Als Dezernentin für Kultur unserer Stadt freue ich mich darüber, dass es nach längeren, intensiven, aber auch kontroversen Diskussionen über das Thema Stolpersteine gelungen ist, durch das Zusammenwirken aller Beteiligten einen Kompromiss zu finden. Jeder Kompromiss ist ein aufeinander Zugehen. Keine Seite kann ihre Interessen zu 100 % durchsetzen. Es ist ein gemeinsamer Weg in Wertschätzung und Achtung der Interessen des Anderen. Schön, dass das gelungen ist. Der Kompromiss macht es möglich, dass wir heute zu dieser würdigen Verlegung zusammenkommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da wir hier vor dem Wohnhaus der Familie Buergenthal stehen, erlauben Sie, dass ich die nachfolgenden Worte in englischer Sprache spreche.
We are standing in front of he house of the family Silbergleit. For this reason I am sending a warm welcome to our international guests, especially to the family of Professor Buergenthal. The city of Göttingen is thankful, proud and glad, having you as our guests and that you - are taking part in this ceremony to remember what happened to jewish citizens of Göttingen during the period of nationalsocialism.
For us, your father and grandfather, Professor Buergenthal is a very important person. Not only because he survived the unbelievable pain, the inhuman and horrible treatment of the Germans 75 years ago. But also because after the second world war he changed his pain and hate into forgivness and reconciliation, into dialog and tolerance. I am deeply convinced that this is the only way to stop antisemitism, racism and facism.
Hier in der Groner Straße 52 möchte ich Sie, sehr geehrter Herr Prof. Buergenthal, zusammen mit Ihrer Familie ganz besonders herzlich und dankbar begrüßen.
In diesem Haus wuchs Ihre Mutter Gerda gemeinsam mit ihrem Bruder Erich auf, hier lebten Ihre Großeltern Paul und Rosa Silbergleit, und hier durchlitt Ihre Familie die niederträchtige, menschenverachtende, brutale Verfolgung durch die Nationalsozialsten. Von hier aus wurden Paul und Rosa Silbergleit in den Tod deportiert. Dass Sie, sehr geehrter Herr Prof Buergenthal, sehr geehrte Familie Buergenthal, trotz dieser schrecklichen Verbrechen, die Ihrer Familie von Deutschen, von Göttingern angetan wurden, sich nicht für Hass, sondern für Versöhnung und Ausgleich eingesetzt haben und uns heute die Ehre Ihres Besuchs geben, erfüllt uns mit Demut und Dankbarkeit. Wir betrachten es zugleich als eine große Ehre für unsere Stadt!
Es freut mich besonders, dass an der heutigen Stolpersteinverlegung zwei Schülergruppen entscheidend mitgewirkt haben. Unter der Leitung ihrer Lehrer Frau Bury vom MPG und Herrn Dr. Goldmann vom FKG haben sie die Würdigungen von Lea und Max Silbergleit sowie der Familie Meininger erarbeitet. Ich kann mir denken, dass die Mitwirkung an diesem feierlichen Akt für Euch Schülerinnen und Schüler ein prägendes Erlebnis sein wird, weil sie Geschichte erlebbar macht. Ich bin sicher, dass diese Form der Erinnerungsarbeit der beste Weg ist, für die Zukunft derart schreckliche Verbrechen zu verhüten.
Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung!
Vielen Dank!
Stadträtin Petra Broistedt
Der Text auf den vier Stolpersteinen, die hier verlegt werden, lautet:
HIER WOHNTE ROSA SILBERGLEIT GEB. BLUM JG. 1886 DEPORTIERT 1942 GHETTO WARSCHAU / KIELCE ERMORDET IN TREBLINKA
HIER WOHNTE PAUL SILBERGLEIT JG. 1881 DEPORTIERT 1942 GHETTO WARSCHAU / KIELCE ERMORDET IN TREBLINKA
HIER WOHNTE GERDA SILBERGLEIT VERH. BUERGENTHAL JG. 1912 HEIRAT / UMZUG / POLEN 1941 GHETTO KIELCE 1944 AUSCHWITZ RAVENSBRÜCK BEFREIT
HIER WOHNTE ERICH SILBERGLEIT JG. 1914 FLUCHT 1938 USA
Der Kaufmann Paul Silbergleit wurde 1881 in Warschau geboren. Im Jahre 1910 kam er nach Göttingen, wo bereits seit fünf Jahren sein älterer Bruder Max Silbergleit wohnte, und heiratete im Jahre 1911 Rosa Blum, die 1886 in Meseritz in der Grenzmark Posen- Westpreußen geboren worden war und ebenfalls seit 1910 in Göttingen wohnte. Rosa Blum war die jüngere Schwester von Lea Blum, die 1906 Pauls Bruder Max Silbergleit geheiratet hatte. Rosa besaß ein Schuhgeschäft im Papendiek 7, das sie nach der Heirat gemeinsam mit ihrem Mann führte. Im Jahre 1912 wurde das Geschäft auf Paul Silbergleit umgeschrieben, der trotz des wirtschaftlichen Einbruchs durch den Ersten Weltkrieg bald wieder als selbständiger Kaufmann erfolgreich war. Im Jahre 1919 zogen Paul und Rosa Silbergleit mit Familie und Geschäft hierher in die benachbarte Groner Straße. Die mit acht Zimmern großzügig geschnittene Wohnung der Familie lag im I. und II. Obergeschoss, das Geschäft im Erdgeschoss. Das Geschäft lief so erfolgreich, dass die Familie einen gutbürgerlichen Lebensstil pflegen konnte, zu dem auch Theaterabonnements und Bäderreisen nach Marienbad und Kissingen gehörten. An dem wirtschaftlichen Erfolg war Rosa Silbergleit ganz wesentlich beteiligt; sie war sozusagen die Seele des Geschäfts, in dem 3-4 Angestellte beschäftigt waren, nachdem Paul Silbergleit schwer herzkrank geworden war.
Paul und Rosa Silbergleit bekamen zwei Kinder, die im Jahre 1912 geborene Gerda und im Jahre 1914 den Sohn Erich. Gleich zu Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden sie Opfer von massiven Ausschreitungen. In der Nacht zum 12. März 1933 wurden zum ersten Mal die Scheiben ihres Geschäfts eingeschlagen. Im Vorfeld des reichsweit organisierten Boykotts jüdischer Geschäfte zog dann am 29. März 1933 ein organisierter, etwa 200 Mann starker SA-Trupp durch die Stadt und gezielt durch diejenigen Straßen, in denen sich jüdische Geschäfte befanden. Unter den 31 Geschäften, die innerhalb kürzester Zeit planmäßig zerstört und deren Besitzer angegriffen, verletzt und gedemütigt wurden, befand sich auch das Schuhgeschäft von Paul und Rosa Silbergleit hier an dieser Stelle. Zwei Jahre später verloren Paul und Rosa Silbergleit durch das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Durch Schikanen und die organisierte Judenfeindschaft erlitten sie immer stärkere wirtschaftliche Einbußen und erfuhren zunehmend die gesellschaftliche Ausgrenzung. Schließlich mussten sie 1937 das Geschäft radikal reduzieren und in ein unscheinbares Seitengebäude verlagern und zudem ihre Wohnung drastisch verkleinern, um überhaupt weiterhin notdürftig existieren zu können. In der Pogromnacht des 9. November wurde ihre Wohnung systematisch verwüstet und ausgeplündert, Paul und Rosa Silbergleit wurden verhaftet und ins Polizeigefängnis gebracht. Am nächsten Tag räumte ein Trupp der SS ihr Warenlager aus; die rund 2000 Paar Schuhe wurden schließlich unter den konkurrierenden Schuhgeschäften verteilt, darunter die noch bis ins vergangene Jahr bestehende Firma Frohme und die noch heute bestehende Firma Keil. Paul und Rosa Silbergleit sahen sich gezwungen, das Geschäft aufzugeben und mussten schließlich auch ihr Haus verkaufen. Ihr Sohn Erich Silbergleit, der seid 1938 in den USA lebte, versuchte vergeblich, seine Eltern aus Deutschland heraus zu holen. Als sie endlich um die Jahreswende 1 941/42 ein Visum erhielten, war es zu spät. Mit Weisung vom 1. Oktober 1941 hatte Heinrich Himmler weitere Auswanderungen von Juden aus Deutschland untersagt.
Am 26. März 1942 wurden mit mehr als einhundert Juden aus Stadt und Kreis Göttingen auch Paul und Rosa Silbergleit zusammen mit Max und Lea Silbergleit über Hannover-Ahlem und Trawniki ins Warschauer Ghetto deportiert.
Die Tochter Gerda Silbergleit war von ihren Eltern schon 1933 nach Lubochna in der Tschechoslowakei geschickt worden, auch um die gerade 21 Jahre alte junge Frau vor öffentlicher Anpöbelei durch organisierte junge Nazis zu schützen. Sie trat eine Stelle in einem Hotel an, dessen Inhaber Mundek Buergenthal noch im selben Jahr ihr Mann wurde. Im Jahr darauf wurde ihr Sohn Thomas Buergenthal geboren. Als im Winter 1938/39 die sog. Hlinka-Garde, eine von Deutschland unterstützte faschistische Miliz das Hotel okkupierte, flüchtete die Familie über Kattowitz und Warschau schließlich, schon unter den Bedingungen des von Deutschland begonnenen Krieges, nach Kielce, rund 180 Kilometer südlich von Warschau gelegen. 1941 wurde der mehrheitlich von Juden bewohnte Bezirk der Stadt zum Ghetto erklärt. 1942 konnten Gerda und Mundok Buergenthal Gerdas Eltern Rosa und Paul Silbergleit aus dem Warschauer Ghetto zu sich nach Kielce holen und sie so vor der mörderischen Liquidierung des Warschauer Ghettos durch die SS retten. 1944 wurde das Ghetto Kielce auf Weisung der Gestapo aufgelöst und seine jüdischen Bewohner in die Vernichtungslager deportiert; Paul und Rosa Silbergleit wurden nach Treblinka gebracht und dort bald nach der Ankunft ermordet. Mundek Buergenthal, seine Frau Gerda und der zehnjährige Sohn Thomas wurden nach Auschwitz gebracht, wo Mundek Buergenthal ermordet wurde. Gerda und ihr Sohn überlebten unter unsäglichen Bedingungen – getrennt voneinander – Auschwitz, und sie überlebten schließlich sogar, getrennt voneinander, die Todesmärsche, Gerda nach Ravensbrück, wo sie am 28. April 1945 im Außenlager Malchow von der Roten Armee befreit wurde. Thomas Buergenthal überlebte als elfjähriges Kind den Todesmarsch nach Sachsenhausen, wo er ebenfalls im April 1945 befreit wurde. Erst eineinhalb Jahre später trafen Gerda Buergenthal und ihr Sohn Thomas im Dezember 1946 hier in Gerdas Heimatstadt Göttingen wieder zusammen. Fünf Jahre später wanderten sie in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, wo Thomas Buergenthal schließlich als Jurist mit dem Interessenschwerpunkt Internationales Recht und Menschenrechte eine beeindruckende Laufbahn einschlug. Sie führte ihn über verschiedene Hochschulprofessuren schließlich als Richter an den Internationalen Gerichtshof in den Haag, das hauptsächliche Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Heute lebt er mit seiner Familie in Washington D.C. Vor zehn Jahren ehrten ihn Stadt und Universität Göttingen durch Verleihung der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät und die Umbenennung des Hauses der Stadtbibliothek in „Thomas Buergenthal-Haus“. 1939 hatte sich in diesem Haus das Polizeigefängnis befunden, wo seine Großeltern Paul und Rosa Silbergleit nach dem Novemberpogrom inhaftiert worden waren. Im vorigen Jahr wurde ihm das Große Bundesverdienstkreuz verliehen für seine Arbeit auf dem Gebiet der Menschenrechte.
Thomas Bürgenthal und seine Frau Peggy sind mit Kindern und Enkeln nach Göttingen gekommen, um heute an der Ehrung ihrer Angehörigen durch die Verlegung der Stolpersteine an dieser Stelle für Paul und Rosa Silbergleit und ihre Kinder Gerda und Erich teilzunehmen.
Sehr verehrte Anwesende
Den Schulen kommt nach dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons in besonderer Weise die Aufgabe zu, Schülerinnen und Schüler auf gemeinsame Wertegrundlagen zu verpflichten, sie in die Gesellschaft funktional zu integrieren. In einer zugleich von großem Wohlstand, wachsender Ungleichheit und identitärer Krise geprägten Gesellschaft wie dem heutigen Deutschland, ist dies eine Aufgabe, deren Erfolg von Beobachtern in Zweifel gezogen wird. Zu vielfältig erscheinen die Deutungsangebote anderer kultureller Kontexte, zu verlockend die einfachen Erklärungsmodelle aus den selbstreferentiellen „Echokammern“ der Social Media. Verstärkt wird diese Problematik vor dem Hintergrund der uns allen vor Augen stehenden inneren Bedrohungen der westlichen Demokratien.
Auch der Geschichtsunterricht ist vom Problem gelingender Identitätsstiftung nicht nur verstärkt betroffen, seit Menschen in Deutschland vor Krieg und Verfolgung Zuflucht suchen, deren autoritäre Regierungen Antisemitismus immer wieder zum Bestandteil schulischer Erziehung machen. Viel mehr noch stehen wir im Geschichtsunterricht über die totalitären Anfänge des 20. Jahrhunderts vor der Frage, wie die immer größer werdende Spanne kompensiert werden kann, die uns von der Gründungserzählung der deutschen Nachkriegsdemokratie trennt. Deshalb sind Zeitzeugen bei Schülerinnen und Schülern wichtige Referenzpunkte möglicher Identifikation und wecken bei der jungen, nachwachsenden Generation den Mut, Fragen zu stellen. Nicht viele dieser für uns alle so wichtigen Zeugen leben mehr.
Für das heutige Projekt der Erinnerung an einige wenige Menschen, an ihre Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung, auch an das schließliche Überleben einiger von ihnen, sind Schülerinnen und Schüler zweier Göttinger Gymnasien in Archive gegangen oder haben in anderer Form Überreste zu den Biografien der Betroffenen ausgewertet. Dabei sind sie auf die Erkenntnis gestoßen, wie bedrückend wenig Überlieferung von einem Menschenleben bleiben kann, wie oft sich die Spuren im Nichts verlieren. Quellenfragmente und vorliegende Forschungsarbeiten unterschiedlicher Art haben die Schülerinnen und Schüler herausgefordert, sich in Ansätzen vorzustellen, welchen Erfahrungen jene Menschen ausgesetzt gewesen sein mögen.
Erinnerung ist damit angestoßen, und abstrakte Großbegriffe des Unterrichts wie Totalitarismus oder Diktatur sind im Auge der Lernenden in etwas transformiert worden, was Albert Camus als notwendige Voraussetzung empathischer Mitmenschlichkeit benannt hat: Die „Abstraktion“ der monströsen Zahlen ist aufgelöst worden in einige konkrete Schicksale und die erzählbaren Überbleibsel der mit ihnen verbundenen Geschichte.
Als Lehrer danken wir den Hinterbliebenen und ihren Angehörigen für die Offenheit der Begegnung in der Erinnerung an Ihren Verlust. Wir danken dem Arbeitskreis, der die heutigen Verlegungen der Stolpersteine begleitet hat, für die Ermutigung, Schülerinnen und Schüler in die Gestaltung des heutigen Gedenkens durch musikalische und textliche Beiträge einzubeziehen. Und wir geben der Hoffnung Ausdruck, dass das Engagement der Schülerinnen und Schüler anderen ihrer Generation Ermutigung sein kann, die Erinnerung an die Notwendigkeit der Bewahrung unserer Wertegrundlagen wirksam zu pflegen.
Dr. Justus Goldmann
Felix-Klein-Gymnasium, Göttingen
Wir erinnern hier an Aenne Meininger und ihre Familie. Wenige Fragmente sind erhalten von Ihr, Ihrem Mann Eugen und ihren beiden Kindern, Hilde und Franz-Josef. Letzte Postkarten und Briefe dieser Frau hat die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem gerade erst im Internet veröffentlicht – ein unglaublicher Zufall. Unter den ungezählten Opfern der Shoah wählte man wenige Menschen aus: Aenne Meininger ist darunter. Wir lesen dort einen Brief von 1942 zum Geburtstag ihrer Tochter Hilde, die einige Jahre zuvor jung verheiratet mit Robert Garti nach Bulgarien emigriert war.
Aenne schreibt aus einem französischen Internierungslager. Der Wehrmachtszensur unterworfen, verbirgt sie ihren Verwandten die Situation. Eine befreundete Internierte notiert einige Zeilen am Schluss: „Wir teilen alle das selbe Los und müssen uns eben gegenseitig trösten.“ Ob sie wussten, was ihnen bevorstand, bleibt in diesem Brief offen.
30 Jahre zuvor hatte Aenne Stern, eine aus gutbürgerlichem Haus stammende deutsche Jüdin aus Mainz, mit Eugen Meininger in Göttingen die Ehe geschlossen. Kaum 100 m entfernt von hier, im 1. Stock der Schillerstraße 6, begannen Sie ihr gemeinsames Leben. Eugen Meininger führte damals mit seinem Cousin Harry jene Viehhandlung weiter, die in der Düsteren Straße / Hospitalstraße 1873 von Vater und Onkel gegründet worden war. Bis heute kann man bei genauem Hinsehen in der baufälligen Fassade des Hauses die Inschrift „Gebrüder Meininger“ lesen.
Im Alter von 38 Jahren, 1917, erhielt Eugen Meininger den Gestellungsbefehl zum Kaiserlichen Heer. Er wurde Mitglied im Reichsbund jüdischer Frontkämpfer und machte sich nach Kriegsende gegen die antisemitischen Anfeindungen durch Freicorps und Dolchstoßlegende stark.
Der wirtschaftliche Niedergang infolge des Krieges wirkte sich insgesamt auch auf den Betrieb der Meininger-Cousins aus. 1926 teilte man die Vermögenswerte des Gesamtbetriebes, und Eugen übernahm aus der elterlichen Firma gleich hier um die Ecke, in der Lotzestraße 22, einige Stallungsgebäude zur Miete. Ebenfalls 1926, im Jahr der Geschäftsneugründung, erhielt Aenne die Vollmacht für die Betriebsführung; da ist ihr Sohn Franz-Josef 5 Jahre alt, und Hilde besucht die 7. Klasse des Lyceums, des heutigen Hainberggymnasiums. 1931 werden Franz-Joseph und Ludwig Meininger, sein Cosuin, in die Oberschule für Jungen aufgenommen, für die 1928 ein Neubau errichtet worden war – das heutige Felix-Klein-Gymnasium.
Franz-Josef, der unsere Schule vermutlich in derselben Jahrgangsstufe wie sein Cousin Ludwig besuchte, hatte bereits 1933 die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen der Machtübernahme der Nationalsozialisten erfahren: Im Oktober musste er mit seinen Eltern und seiner Schwester aus der gutbürgerlichen Wohnung in der Schillerstraße ausziehen.
Die Meiningers wohnen nun hier in diesem Haus, in der Lotzestraße 20a. So beginnt die völlige Zerrüttung des alteingesessenen Betriebes durch die antijüdischen Zielsetzungen der NS-Politik. Alex Bruns-Wüstefeld hat in zahlreichen Skizzen umrissen, wie Eugen Meininger um Ruf und Umsatz kämpft, wie ihm auf Anordnung der Stadt Göttingen 1934 schließlich wichtige und sehr alte Geschäftsbeziehungen zum Rosdorfer Rittergut untersagt werden.
Sein Vermieter Sax berichtet später, wie er Eugen Meininger damals erlebt habe: „Herr Meininger sagte mir, dass dies das Ende seines Viehhandels bedeute. Ihm wurde dabei so schlecht, dass er sich am Zaun festhalten musste und dann kaum noch seine Wohnung erreichen konnte. Er war völlig gebrochen.“
Lange überlebte Eugen Meininger diese Demütigung und wirtschaftliche Bedrohung nicht. Am 19. Mai 1935 entzieht ihm die Stadt Göttingen die Gewerbeerlaubnis.1 Am selben Tag stirbt er an einem Herzanfall hier in diesem Haus, in der Lotzestraße 20a.
Tochter Hilde, die einen jüdischen Zahnmedizin-Studenten bulgarischer Herkunft in Göttingen kennen gelernt hatte, heiratet Robert Garti im Herbst des selben Jahres und emigriert mit ihm wenig später in dessen Heimat. 1948 wandert die Familie von dort nach Palästina aus.
Ihr Bruder Franz-Josef, kaum 16 Jahre alt, beschließt vor dem Hintergrund der Entwicklungen den eigenen Bildungsweg am Gymnasium zu beenden, das in der gleichgeschalteten Presse für seinen hohen HJ-Anteil gelobt wird. Er geht im November 1936 als Mitglied des jüdischen Pfadfinderbundes ins brandenburgische Ahrensdorf. Dort befindet sich ein – von der Gestapo geduldetes – landwirtschaftliches Lehrgut der zionistischen Auswanderungs-Bewegung. Wenig später gelingt ihm der Weg nach Palästina; dort meldet er sich nach Kriegsbeginn zu einer jüdischen Brigade der britischen Armee im Mandatsgebiet. Bei Gründung des Staates Israel baut er einen Moshav mit auf, nördlich von Tel Aviv.
Aenne Meininger blieb allein in Göttingen zurück. Zunächst versuchte sie sich mit einem kleinen Ölhandel durchzuschlagen, den ihr Mann noch 1935 gegründet hatte. Sie zog 1936 ins heimische Mainz, kehrte aber ein halbes Jahr später wieder nach Göttingen zurück, wo sie in der Gotmarstraße 9 notdürftig unterkam.
Nun verlieren sich ihre Spuren bis zu den Briefen aus Yad Vashem immer mehr. Von Ihrer Enkelin erfahren wir, dass Aenne zwischen 1936 und 40 nicht nur ihre Familie in Bulgarien besuchte, sondern sogar ihre Schwester in den USA. Weshalb kehrte sie von dort nach Europa, nach Deutschland zurück?
Quellen-Fragmente zeigen, dass sie 1940 nach Paris geflohen war. Die aus der letzten Lebenszeit in Frankreich überlieferten Postkarten sind in sicherem Französisch von ihrer Handschrift verfasst. Auch Verweise auf Kontaktpersonen an unterschiedlichen Orten Frankreichs deuten darauf hin, dass sie vielleicht meinte, hier am ehesten der Verfolgung entgehen zu können. Mochte sie sich durch die Beherrschung der Sprache sicherer fühlen? Wir wissen es nicht.
Sehr bald wurde sie in Frankreich interniert. Die längste Zeit, zwischen 1940 und 1942, verbrachte sie vermutlich im südfranzösischen Lager Gurs. Yad Vashem dokumentiert die Postkarten, die sie ihren Enkeltöchtern nach Bulgarien schickt.2 In inniger großmütterlicher Liebe schreibt sie den kleinen Mädchen, als käme sie in wenigen Wochen mit Geschenken zu Besuch.
Nach 2 Jahren Internierung wird sie im August 1942 in ein neues Lager überstellt: Camp Les Milles, wo sie nur wenige Tage bleibt. Aus dieser Situation ist vom 1. September 1942 ihr letztes Schreiben überliefert: Sie berichtet ihrer Tochter von einer bevorstehenden Abreise, der Eile des Kofferpackens. Und immer wieder von der Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Als Postscriptum setzt sie hinzu: „Lebt recht, recht wohl. Ausgerechnet an Franzens Geburtstag gehe ich fort –“ So wurde sie ins Sammellager nach Drancy verbracht.
Bereits eine Woche später, am 7. September – einen Tag nach ihrem 53. Geburtstag – musste sie in die Waggons nach Auschwitz steigen.
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Gunter Demnig verlegt die Stolpersteine in der Groner Straße 52. Quelle: Hinzmann
Göttingen. Sie sei kürzlich bei der Lektüre eines Artikels über das Thema Stolpersteine auf einen schönen Gedanken gestoßen: Wer sie auf dem Boden betrachten wolle, müsse sich verneigen. „Ein schöner Gedanke“, sagte Trudy Barton. Sie ist aus Kanada angereist, um an der Verlegung der Steine vor dem Stammhaus ihrer Familie in der Weender Straße 70 teilzunehmen. Es ist ein kleines Familientreffen. Ihre Schwester Diana Kanter kam aus Belgien, ihr Cousin Michael Hayden ebenfalls aus Kanada in das frostige Göttingen. „Man braucht in unserer Familie schon einen Reisepass“, sagt Kanter lachend. Diesmal haben die Steine sie zusammengeführt.
Über dem Eingang des Hauses mit der Nummer 70 ist der Name Hahn bis heute deutlich zu lesen. Seit Mittwoch schimmert die Erinnerung an Max Raphael, Gertrud, Tana, Nathan, Betty, Max, Leo, Rudolf und Hanni Hahn außerdem auf dem Fußweg vor dem Gebäude. „Zur Erinnerung und zur Mahnung“, sagte einleitend Heiner Willen von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die die Verlegung zusammen mit der Stadt und dem Geschichtsverein vorbereitet hat. Und er zitierte aus dem Talmud: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Mit den Steinen werde man genau das verhindern. Während Demnig die letzten Arbeiten am Pflaster der Fußgängerzone vornahm, stellte Rainer Driever die Biografien der Hahns vor.
Neue Stolpersteine erinnern an vier Orten an die Opfer des Nationalsozialismus
Durch die Stolpersteine entstehe ein „imaginärer Stadtplan für das jüdische Leben“, sagte Willen. Diesem folgten die mehr als hundert Teilnehmer der Gedenksteinverlegung zum Papendiek und anschließend zur Groner Straße. Hier berichteten Schüler des Max-Planck-Gymnasiums und der Historiker Peter Aufgebauer über das Leben einer weiteren jüdischen Familie. Die Schwestern Lea und Rosa Blum hatten die Brüder Max und Paul Silbergleit geheiratet und betrieben in Göttingen Geschäfte für Papier- und Lederwaren beziehungsweise für Schuhe, solange es ihnen in Nazideutschland möglich war. Wie auch die Ehepaare Hahn wurden sie Anfang der 40er Jahre deportiert und schließlich ermordet. Sohn Erich gelang die Flucht in die USA, Tochter Gerda überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück und lebte mit ihrem Sohn Thomas Buergenthal später wieder in Göttingen.
Der stand am Mittwoch vor dem Elternhaus seiner Mutter und zeigte sich gerührt: „Es tut mir leid, dass sie das nicht erlebt. Es hätte ihr gefallen.“ Buergenthal ist in dieser Woche mit Teilen seiner Familie aus den USA in Deutschland zu Gast. „Wir haben durch diese Steine wieder eine Verbindung zu Göttingen“, sagte er. Über Buergenthal sagte Stadträtin Petra Broistedt in ihren Grußworten, ihm sei es gelungen, Hass in Versöhnung zu verwandeln. Das wurde wenig später allen Zuschauern deutlich, als eine Frau sich persönlich bei ihm entschuldigte. Sie sei ein Kind der Täter. Eine Göttinger Versöhnungsgeste.
Auf der letzten Station verlegte Demnig die Steine vor dem Wohnhaus der Familie Meininger in der Lotzestraße 20a. Schüler des Felix-Klein-Gymnasiums erzählten auch ihre Geschichte von Entrechtung, Flucht, Deportation und Ermordung. Während die Eltern Aenne und Eugen nicht überlebten, konnten ihre Kinder Hildegard und Franz-Josef nach Bulgarien und Palästina fliehen.
Willen zeigte sich zufrieden mit der Stolpersteinverlegung – ein Projekt, das von der Stadt getragen werde. „Wir sind mitten in der Stadt angekommen.“
Von Markus Scharf
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Gunter Demnig verlegt die Stolpersteine in der Groner Straße 52. Quelle: V.Büchi
Der Grüne Stadtverband Göttingen hat die Patenschaft für einen Stolperstein für Gerda Silbergleit vor der Groner Straße 52 übernommen. Dieser wurde am Mittwoch, 7. Februar 2018, gemeinsam mit 17 weiteren Stolpersteinen für Göttinger Jüdinnen und Juden, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, bei einem feierlichen Gedenkrundgang durch den Künstler Gunter Demnig verlegt. Für die Grünen Göttingen ist dies ein Beitrag zur lebendigen Gedenkkultur in Göttingen.
Dazu Valentin Büchi, Mitglied des Stadtvorstandes: „Die Übernahme einer Patenschaft für einen der Stolpersteine bedeutet nicht nur, dass wir uns an der Finanzierung des Projektes beteiligen. Sie bedeutet vielmehr, dass wir die Verbrechen des Nationalsozialismus, aber genauso die Opfer der NS-Verbrechen niemals vergessen werden. Hinter den schrecklichen Zahlen des Holocaust und der Terrorherrschaft des NS-Regimes stehen individuelle Personen mit einer eigenen Geschichte und Persönlichkeit, deren Andenken es zu bewahren gilt. Die Verlegung der Stolpersteine ist in unseren Augen ein wichtiger Beitrag und wir möchten allen Initiativen, Vereinen und Personen danken, die die Verlegung möglich gemacht haben. Wir hoffen, dass dies auch in Zukunft im Konsens mit allen beteiligten Akteuren möglich sein wird.“
Gerda Silbergleit wuchs in Göttingen auf, von wo sie jedoch 1933 auch vor dem Hintergrund vermehrter gewalttätiger Übergriffe auf Jüdinnen und Juden nach Lubochna in die damalige Tschechoslowakei emigrierte. Dort wurde auch ihr Sohn Thomas Bürgenthal geboren, der heute als herausragender Menschen- und Völkerrechtsjurist international bekannt ist. Gerda Silbergleit und ihr Sohn Thomas Bürgenthal überlebten den Terror des Nationalsozialismus, mehrere Konzentrationslager und tagelange Todesmärsche – während des Martyriums mehrere Jahre lang getrennt, fanden sie sich erst nach dem Ende der NS-Herrschaft 1946 in Göttingen wieder. Ihr Mann Mundek Buergenthal wurde 1944 im Konzentrationslager Flossenbrügge ermordet.
Dazu erklärt Marie Kollenrott, Mitglied im Stadtvorstand: „Das Grauen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik lässt einen zutiefst betroffen und sprachlos zurück. Doch umso wichtiger ist es, darüber zu sprechen. Gerda Silbergleit war nicht nur die Mutter von Thomas Buergenthal, der trotz oder gerade wegen all des erlittenen Leides sein Leben dem Kampf für die Menschenrechte widmete und am Aufbau des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes beteiligt war und später sogar Richter am Internationalen Gerichtshof wurde, sondern auch eine starke Frau. Wie Thomas Buergenthal in seiner bewegenden Autobiografie schildert, beeindruckte sie ihn immer wieder durch ihren Mut, ihre Klugheit und einen Einfallsreichtum, der Beiden selbst in den schrecklichsten Situationen das Leben rettete. So kann Gerda Silbergleit auch heute noch ein Vorbild für uns alle sein. Halten wir ihr Andenken in ihrer Heimatstadt Göttingen gemeinsam lebendig, wird ihr Mut niemals vergessen sein!“
Kontakt:
Marie Kollenrott, Mitglied im Grünen Stadtvorstand, E-Mail: marie.kollenrott(at)gruene-goettingen.de Valentin Büchi, Mitglied im Grünen Stadtvorstand, E-Mail: valentin.buechi(at)gruene-goettingen.de
Über 150 Menschen – von jung bis alt – trafen sich am Freitag, den 12. Februar 2016 in der Göttinger Innenstadt. Sie begleiteten den Kölner Künstler Gunter Demnig, der an drei Stellen insgesamt 11 Stolpersteine für jüdische Opfer der Nazis verlegte.
In der Roten Straße 16 wurde der Familie Rosa und Siegfried Meyerstein gedacht, die in diesem Hause von 1917 bis zu ihrer Vertreibung und Ermordung 1941/42 wohnte. Schülerinnen und Schüler des Theodor-Heuss-Gymnasiums (THG) stellten die Familienmitglieder vor. Für die Stolpersteine für den 20jährigen Herbert, Sohn der Familie, und die Schwägerin von Rosa Meyerstein, Johanna Gans übernahmen sie die Patenschaft.
Schülerinnen und Schüler des Otto-Hahn-Gymnasiums haben sich mit dem Leben und Schicksal der Familie Paula und Hugo Meyerstein beschäftigt. Während Gunter Demnig vier Stolpersteine verlegte, berichteten die Schüler an der Oberen Masch 10, wie kompliziert das Leben für die Meyersteins war: finanzielle Probleme waren Dauerthema bei ihnen zuhause. Die Patenschaft für den Stolperstein für den 14jährigen Georg Meyerstein, der wie sein Vater 1942 in Auschwitz ermordet wurde, übernahmen die Schüler. Paula Meyerstein wurde wie ihr zweiter Sohn Ludwig im Ghetto Warschau umgebracht. Im Haus Obere Masch 10, das der Jüdischen Gemeinde gehörte, wohnten auch Fanny und Caesar Asser. 70jährig wurden beide über das Sammellager Hannover-Ahlem nach Theresienstadt verschleppt, wo sie 1943 umkamen. Zwei Stolpersteine erinnern jetzt an unsere jüdischen Mitbürger.
Caty und Frits Kaufmann waren aus den Niederlanden gekommen, um die Stolpersteinverlegung für ihre Großmutter Else Kaufmann an der Weender Landstraße 5 b mitzuerleben. In einer bewegenden Rede zeigte Frits Kaufmann Bilder seiner Großmutter, die 1942 zusammen mit den letzten verbliebenen Göttinger Juden nach Theresienstadt deportiert worden war und dort 1943 starb. Er warb dafür, dem Gedenken an die Untaten der Nationalsozialisten Raum zu geben und unsere Geschichte nicht zu vergessen.
Musikalisch umrahmten eine Schülerin und ein Schüler des THG die Verlegungen.
Auch im kommenden Jahr sollen Stolpersteine in Göttingen in das Straßenpflaster eingelassen werden, um dezentral in der Stadt der vertriebenen und ermordeten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger vor ihren ehemaligen Wohn- und Arbeitsstätten zu gedenken. Verantwortlich für das Stolpersteinprojekt in Göttingen ist die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V., die dabei mit dem Geschichtsverein und der Stadt kooperiert.
Heiner J. Willen, Vorsitzender der GCJZ
Dr. Böhme baute sein Grußwort auf drei antisemitischen Texten aus der Nazizeit auf, die in Göttingen verbreitet waren:
Jude, Jude Itzenbiel wohnte früher Stumpfebiel. Weil ihn so die Christen hassen, zog er in’ Pandektengass’n. Pöff, pöff, pöff, da kommt ein Kinderwagen, Pöff, pöff, pöff, mit einem Jud’ beladen. Pöff, pöff, pöff, wo will der Jude hin? Er will wohl nach Jerusalem, wo alle Juden sind. Schmeißt sie ’raus, die ganze Judenbande, schmeißt sie ’raus aus unserm Vaterlande, schickt sie alle nach Jerusalem. Hackt se „beede Beene spitz“, sonst komm’ se wieder ’rin. Sie ziehn dahin, daher, sie ziehn durchs Rote Meer, die Wellen schlagen zu, die Welt hat Ruh’.
Rosa und Siegfried Meyerstein
Siegfried Meyerstein wurde am 15. Juni 1888 als Sohn von Magnus-Levy Meyerstein und Bertha Kaufmann in Bremke geboren, eines von fünf Kindern. 1913 kam er mit seiner Familie nach Göttingen, 1917 zog die Familie in das Haus Rote Straße 16. Siegfried heiratete 1919 die aus Rotenburg stammende Rosa Gans, wie er Jg. 1888. Zusammen hatten die beiden zwei Kinder, Heinz und Herbert, 1920 und 1922 geboren.
Siegfried übernimmt 1925 zusammen mit seinem Bruder die Viehhandlung des Vaters in der Mauerstraße 8, sie gründen die Firma „H.&S. Meyerstein“. Dabei handelt es sich um einen eher kleinen Betrieb, der aufgrund der starken (nichtjüdischen) Konkurrenz schon zwei Jahre später erste Verluste einfährt. In den darauf folgenden Jahren steigt die Verschuldung weiter, die Weltwirtschaftskrise ab November 1929 führt die Firma endgültig in den Ruin. Siegfried und Hugo müssen 1930 einräumen, die Schulden nicht mehr zurückzahlen zu können, und schließen im Januar des nächsten Jahres den gemeinsamen Betrieb.
Im Alter von 42 Jahren versucht Siegfried mit der „Viehhandlung Rosa Meyerstein“, die zwar auf den Namen seiner Frau läuft, de facto aber von ihm geleitet wird, einen Neuanfang. Der Ort bleibt derselbe. Rosa arbeitet im Geschäft und kümmert sich um die Buchführung, dabei ist es sicher von Nutzen, dass sie bereits eine Ausbildung an der Handelsschule abgeschlossen hat.
Da die Viehhandlung keine überregionale Bedeutung hat,ist die finanzielle Lage der Familie nach wie vor prekär. Rosa Meyerstein beginnt ab Ende 1931 aus der Not heraus, mit Haushaltswaren wie Waschmitteln zu handeln. Nachdem die Nazis 1933 an die Macht kommen, ist die Viehhandlung, so wie viele andere jüdische Geschäfte, zunehmend von antijüdischen Boykotten betroffen, 1935 müssen die Meyersteins den Laden aus finanziellen Gründen schließen.
Die Familie, sprich Siegfried, Rosa, die beiden Kinder so wie Magnus-Levy, Siegfrieds Vater, leben zu diesem Zeitpunkt in einer Fünf-Zimmer-Wohnung in normalen bürgerlichen Verhältnissen. Um den Unterhalt der Familie zu sichern, arbeitet Siegfried ab 1936 in verschiedenen Göttinger Baufirmen, hierbei muss man wissen, dass Juden unter den Nationalsozialisten eine feste Anstellung verweigert wurde, sodass Siegfried für einen sehr geringen Lohn von 4-5 Reichsmark pro Tag arbeitete, die Beschäftigungszeit schwankte zwischen knapp zwei Wochen bis über vier Monate. Damit wird der Hauswarenhandel von Rosa Meyerstein immer wichtiger, aber auch das reicht nicht, um die Familie zu ernähren, sie darf auch nur mit jüdischen Familien handeln. Magnus-Levy versucht ab März 1938 im Alter von 84 Jahren noch einmal in den Ziegen- und Ziegenfleischhandel einzusteigen, allerdings so erfolglos, dass ihm das Wohlfahrtsamt monatlich 38 RM zur Unterstützung zukommen lässt, aber nur bis Ende 1938. Denn Ende dieses Jahres tritt das Allgemeine Berufsverbot in Kraft und sowohl Rosa als auch Magnus-Levy müssen ihre Geschäfte aufgeben.
Siegfried Meyerstein wird im Zuge der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 verhaftet und kommt erst nach mehreren Wochen frei. Ab 1939 muss er immer wieder mit anderen Juden körperlich anstrengende Zwangsarbeit unter schlechten Arbeitsbedingungen leisten, so z.B. ab 1941 in der so genannten „Judenkolonne“ der Firma August Drege, in der er zusammen mit 14 anderen Juden als Tiefbauhelfer durch die Leine verursachte Hochwasserschäden in Rosdorf ausbessern muss. In der „Judenkolonne“ arbeitete nur die jüdische Bevölkerung, auch hier wurde die Ausgrenzung aus der Gesellschaft und sogenannten „Volksgemeinschaft“ besonders deutlich, Kontakt zu „arischen“ Arbeitern war ihnen verboten. Zu dieser Zeit ist die Familie Meyerstein aufgrund ihrer großen Not bereits auf Lebensmittelpakete ihres Sohnes Heinz angewiesen.
Anfang des Jahres 1941 verliert die Familie, d.h. Rosa, Siegfried und Großvater Magnus, ihre Wohnung in der Roten Straße und ist dazu gezwungen, zunächst in die Hospitalstraße 4 und dann in das Gemeinde-Wohnhaus Obere-Masch-Straße 10 zu ziehen, wo Magnus-Levy stirbt.
Knapp eine Woche, nachdem im März 1942 die „Judenkolonne“ der Firma August Drege aufgelöst ist, werden Siegfried und Rosa zusammen mit ihrer Schwester Johanna Gans am 26. März 1942 in das Sammellager Hannover-Ahlem gebracht und von dort aus über das Durchgangslager Trawniki in das Warschauer Ghetto deportiert. Sie sind nicht wieder zurückgekehrt, gelten als verschollen. Ihr letztes Lebenszeichen ist ein Brief an ihren Sohn Heinz im Juli desselben Jahres. Wahrscheinlich werden sie in Treblinka ermordet. Nach dem Krieg werden Siegfried und Rosa Meyerstein für tot erklärt.
Johanna Gans
Johanna Gans wird am 15. August 1890 als Tochter des Schlossermeisters Cappel Gans und seiner Frau Hedwig in Rotenburg an der Fulda geboren. Sie hat zwei ältere Geschwister, Willi und Rosa Gans.
Fast 48 Jahre lang lebt sie unverheiratet zusammen mit ihrer Mutter in ihrer Heimatstadt, wo sie als Näherin tätig ist. Johanna wird Zeitzeugin des Ersten Weltkriegs, der Weimarer Republik und der sogenannten „Machtergreifung“ 1933.
Im September 1938 stirbt ihr Vater. Am 9. November desselben Jahres erlebt sie die in Rotenburg besonders massiven Ausschreitungen gegen die Juden mit, muss mit ansehen, wie ihr Haus geplündert und zerstört wird, wie das Leben, das sie sich aufgebaut hat, in sich zusammenfällt. Johanna und ihre Mutter fliehen zusammen mit Johannas Tante, Karoline Piterson, im Dezember 1938 nach Göttingen, wo sie bei Johannas Schwester Rosa Meyerstein und ihrem Mann Siegfried in deren Wohnung in der Roten Straße 16 unterkommen.
Dort leben sie auf engstem Raum von einem geringen Einkommen, bis sie im Mai 1939 in das jüdische Gemeindehaus in der Weender Landstraße 26 eingewiesen werden, wo Hedwig am 6. April 1942 verstirbt. Den Tod ihrer Mutter erlebt Johanna allerdings nicht mehr, da sie bereits am 26. März desselben Jahres, zusammen mit ihrer Schwester Rosa und ihrem Schwager Siegfried, über Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki in das Warschauer Ghetto deportiert wird. Von dort aus bringt man Johanna Gans noch im selben Jahr in das Vernichtungslager Treblinka. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird sie für tot erklärt.
Herbert Meyerstein
Herbert Meyerstein wurde am 12. Juni 1922 hier in Göttingen geboren und wohnte mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Heinz Meyerstein, seinem Vater Siegfried Meyerstein und seiner Mutter Rosa Meyerstein, die als Rosa Gans geboren wurde, in der Roten Straße Nr. 16. Wie sein älterer Bruder besuchte Herbert Meyerstein die Voigt-Realschule und musste sie ca. 1934 zusammen mit Heinz aufgrund des dort herrschenden antisemitischen Klimas ohne Abschluss verlassen. Ab Mitte der dreißiger Jahre begann er im Alter von 13 Jahren eine kaufmännische Lehre bei der jüdischen Firma Schloss, die er nach der Pogromnacht im November 1938 abbrechen musste. Bereits ab 1933 erschwerte sich die finanzielle Situation der Familie, da Boykotte des jüdischen Viehhandels zunahmen. 1935 gaben sie den Viehhandel endgültig auf. Ab dem allgemeinen Berufsverbot 1938 war sowohl die neue Arbeit Siegfried Meyersteins als Bauarbeiter, als auch der Haushaltswarenhandel von Herberts Mutter verboten. Nach der Pogromnacht, in deren Zug Herberts Vater verhaftet wurde, lebte der sechzehnjährige Herbert zunächst mit seiner Mutter allein zusammen. Der Lebensunterhalt wurde durch kurzfristige schwere Arbeiten, die Herbert annahm, bzw. von den Lebensmittelpaketen des in die Niederlande emigrierten Bruders Heinz gesichert. So arbeitete Herbert gegen Ende des Jahres 1938 noch einige Wochen bei der Tiefbaufirma August Drege. Mit Hilfe seines Bruders verließ er Deutschland am 20. Juni 1939 endgültig und flüchtete mit gerade einmal 17 Jahren in die Niederlande.
Herbert lebte zunächst in Deventer bei einem Bauern, schließlich aber in Amsterdam bei einer jüdischen Familie. Am 15. Juli 1942 kam der Befehl zur Deportation aller holländischen Juden nach Polen. Herbert wurde nach Auschwitz deportiert. Aus Solidarität wollte sein Bruder Heinz ihn zunächst freiwillig begleiten, allerdings riet ihm sein nächstes Umfeld davon ab, da er nichts bewirken könne.
Am 29. August 1942, im selben Jahr in dem man seine Eltern ins Warschauer Ghetto deportierte, wurde Herbert im Alter von 20 Jahren in Auschwitz ermordet.
Im vergangenen Jahr haben wir im Papendiek Stolpersteine für Julius und Jenny Asser sowie ihre Kinder Kurt und Lissy verlegt.
Heute erneuern wir durch Verlegen von Stolpersteinen das Gedenken an Cäsar und Fanny Asser, die Eltern von Julius Asser und Großeltern von Kurt und Lissy Asser.
Cäsar Asser wurde 1872 in Altona, das seit wenigen Jahren preußisch war, geboren. Über Hannover kam er 1895 nach Göttingen. Er betrieb einen bescheidenen Rohproduktenhandel, der sich vor allem auf Altmetalle erstreckte. Die kleine Firma hatte ihren Sitz im Hinterhof einer Schmiede in der Johannisstraße und bestand im wesentlichen aus einem alten Schuppen. Da dieses Kleingewerbe nicht zum Lebensunterhalt reichte, arbeitete Cäsar Asser nebenbei seit 1895 auch als Totengräber der jüdischen Gemeinde.
Im Jahre 1898 hatte Cäsar Asser die ebenfalls 1872 geborene Fanny Lipschütz geheiratet, die aus Woidislaw in Polen stammte.
Das Paar bekam vier Kinder, Alexander, Julius, Erna und Paula. Alexander verstarb 1930 in Göttingen, Erna und Paula emigrierten mit ihren Familien 1937/38 nach Südamerika; Julius Asser, seine Frau Jenny und seine Kinder wurden im März 1942 deportiert – an sie erinnern die Stolpersteine vor dem Haus Papendiek 26.
Obwohl Cäsar Asser in seinem Lebensumfeld als fleißiger Mann galt, blieben die Lebensumstände seiner Familie ärmlich. Um 1927, als Cäsar Asser 55 Jahre alt war, trat sein Schwiegersohn Fritz Cohen, der Mann von Cäsar und Fannys Tochter Erna, in das Geschäft ein. Die wirtschaftlichen Verhältnisse zwangen die Familie, innerhalb von dreißig Jahren ein Dutzend mal in Göttingen auf der Suche nach günstigem Wohnraum umzuziehen. Seit 1933 bewohnten sie hier in der Oberen Maschstraße 10 ein bescheiden eingerichtetes Haus der Jüdischen Gemeinde, das auch als Altersheim diente. Als Cäsar Asser 66 Jahr alt war und sein Geschäft 1937 an seinen Schwiegersohn übergeben wollte, lehnte dies die mittlerweile längst nationalsozialistisch ausgerichtete Industrie- und Handelskammer ab, weil Fritz Cohen als Jude und angeblicher Kommunist politisch nicht zuverlässig sei. Schließlich sah sich Cäsar Asser gezwungen, im August 1938 seinen Handel einzustellen und das Geschäft abzumelden. Cäsar und Fanny Asser waren seit Oktober 1938 auf eine monatliche Unterstützung des Städtischen Wohlfahrtsamtes angewiesen, die aber dann wenige Monate später ausblieb, weil die Stadt sämtliche Sozialleistungen an jüdische Bürger einstellte.
Mit ihren begrenzten Möglichkeiten sprang die jüdische Gemeinde ein und sicherte notdürftig den Lebensunterhalt auf bescheidenstem Niveau.
Als organisatorische Vorbereitung auf die Deportation in den Osten wurden Cäsar und Fanny Asser im April 1942 zwangsweise in das Judenhaus der Weender Landstraße 26 einquartiert und mit dem zweiten großen Deportationstransport am 21. Juli 1942 zusammen mit etwa 50 noch verbliebenen meist älteren jüdischen Bewohnern Göttingens nach Theresienstadt verschleppt. Dort ist Fanny Asser am 3. Februar 1943 gestorben, Cäsar Asser starb 5 Monate später, am 3. Juli 1943. Beide wurden 71 Jahre alt.
Heute holen wir die Erinnerung an unsere früheren Mitbürger Cäsar und Fanny Asser zurück in unsere Stadt und an hierher ihren letzten selbstgewählten Wohnsitz.
Wir haben uns heute hier versammelt, um der Familie Meyerstein zu gedenken, welche wie viele europäische Juden Opfer der schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten wurde.
Die Geschichte der Familie Meyerstein ist darum von Leid geprägt, auch wenn sie - wie üblich - mit einem freudigen Ereignis beginnt: mit einer Eheschließung: Hugo Meyerstein aus der nahe gelegenen Ortschaft Bremke heiratete 1919 Paula Jaretzki, die aus Posen stammte. Er war damals 28 Jahre alt, seine Frau 29. In den darauffolgenden Jahren wurde das Paar mit der Geburt von vier gesunden Kindern gesegnet.
Leider wurde das Glück durch die schwierige finanzielle Lage der Familie und die politische Situation getrübt. So war Hugo Meyerstein nicht nur als Opfer der Weltwirtschaftskrise, sondern auch vor allem aufgrund des Boykotts gegen jüdische Geschäfte gezwungen, seine Selbständigkeit aufzugeben. Zu Beginn seiner Ehe besaß er noch eine Viehhandlung in der Roten Straße 33. Ihr Betrieb musste nach schwierigen Jahren im Januar 1937 endgültig eingestellt werden. Von nun an musste sich Hugo Meyerstein als Arbeiter bei verschiedenen Baufirmen verdingen. 1939 gehörte er als Zwangsarbeiter zur sog. „Judenkolonne“ der Hoch- und Tiefbaufirma August Drege.
In ihrer bitteren Armut sahen sich die Meyersteins immer wieder gezwungen, in erschwinglichere Wohnungen umzuziehen, bis sie schließlich in dem jüdischen Gemeindewohnhaus in der Oberen-Masch-Straße 10 ein dauerhafteres Obdach fanden. Hier stehen wir heute und erinnern an sie. Das Gebäudenebenan, ein neuerer Bau, dient zur Zeit als vorübergehende Aufnahmestelle für Flüchtlinge. Das Haus gibt also heute Schutzbedürftigen ein Dach über dem Kopf und bietet ihnen Sicherheit, eine Sicherheit, die den Juden damals grausam verwehrt worden ist.
Gewiss haben auch die Kinder des Ehepaars Meyerstein kein sorgenfreies Leben genossen: Die Judendiskriminierung der Nationalsozialisten erreichte in Göttingen von Anfang an ein erschreckendes Ausmaß. Es wird berichtet, dass der jüngere Sohn, Georg Meyerstein, am Tag nach der sog. „Reichspogromnacht” verängstigt und müde die Schule betrat, nur um als Jude von seinem Lehrer für immer des Unterrichts verwiesen zu werden. Wegen dieses Schulverbots wurde er ab 1940 mit anderen jüdischen Kindern aus Göttingen privat unterrichtet. Dieser Schulersatz wurde jedoch kurz darauf ebenfalls verboten und eingestellt.
Der ältere Sohn der Familie, Ludwig, war zur Zeit des Machtantritts der Nationalsozialisten kein Schüler mehr und musste in verschiedenen Städten und Zwangsarbeiterlagern schwerste körperliche Arbeit verrichten. Er wurde von dieser Zwangsarbeit, die er zuletzt in Bielefeld leistete, nur entlassen, um am Tag der Deportation wieder in Göttingen zu sein.
Wie die anderen jüdischen Göttinger wurde die Familie am 26. März 1942, als die sog. „Endlösung“ beschlossen war, auf dem Hof der Albanikirche versammelt und durch die Stadt zum Bahnhof getrieben, Anschließend wurden sie nach Hannover in das Durchgangslager Ahlem verschleppt und dann gemeinsam mit Tausenden anderen Juden in das Warschauer Ghetto deportiert. Hier verlieren sich die Spuren der Meyersteins. Vermutlich ist die Familie in Warschau oder in einem Vernichtungslager auf gewaltsame Art und Weise ums Leben gekommen. Grausam war dort der Hunger, die Kälte und die Erschöpfung, rücksichtslos der Ausstoß aus der Gesellschaft und unmenschlich die Erfahrung der Eltern, den Tod der eigenen Kinder machtlos miterleben zu müssen.
Betroffen vom Schicksal dieser Familie, entwickelte sich zu Beginn unserer Vorbereitung auf die Verlegung der Stolpersteine unter uns eine angeregte Diskussion. Wieso sollten ausgerechnet auf Betonwürfel montierte Messingplatten angemessen an die jüdischen Opfer des NS-Regimes erinnern? Welches Denkmal wäre denn angemessen? Wird es überhaupt jemals irgendein Denkmal geben, das den Todesopfern des NS-Regimes gerecht wird? Würden die Opfer selber, könnten sie uns sehen, unsere Bemühungen gutheißen?
Wir sehen in den Stolpersteinen einen Pfad, der durch ganz Europa reicht und nun auch seinen Abdruck mitten durch Göttingen hinterlässt. Stolpersteine sind eine spezielle, aber vor allem individuelle Art, an die Verstorbenen zu gedenken. Sie lassen uns aus unserem Alltag aufschrecken, den Kopf senken und die Grausamkeiten realisieren, von denen wir lasen und hörten. Die Stolpersteine rütteln wach beziehungsweise bewirken wortwörtlich ein „Wachstolpern”. Denn wir alle wissen zwar, was im Holocaust passiert ist, doch wissen wir auch, ob deportierte Juden früher in unserem Haus gewohnt, unsere Treppe genutzt und auf den Straßen gegangen sind, auf denen wir heute täglich gehen?
Stolpersteine geben also einen Namen und einen Ort zurück. So wird ein Gesicht der Vergangenheit geschaffen, das auch den einstigen Alltag der einzelnen deutschen Juden im Allgemeinen und nun speziell auch der Familie Meyerstein wieder aufleben lässt.
Der Nationalsozialismus hat sehr gezielt versucht, seine Opfer nicht nur zu verdrängen und zu ermorden, sondern sie auch aus dem Gedächtnis zu löschen. Dieses Denkmal ist ein Versuch, ihnen ihren Namen und ihr Haus zurückzugeben und dem Vergessen entgegenzuwirken: Hugo Meyerstein, Paula Meyerstein, Ludwig Meyerstein, Georg Meyerstein haben hier unter uns ihren Alltag bestritten.
Wir, die Schülerinnen und Schüler des Otto-Hahn-Gymnasiums, haben uns entschieden, Paten eines Stolpersteins zu werden. Wir haben den Stein von Georg Meyerstein ausgesucht, der zu Zeitpunkt seines Todes noch jünger war als wir heute. Das, was wir mit unseren 17 und 18 Jahren erleben, durfte er niemals erleben. Mit diesem Stolperstein wollen wir an seine genommene Jugend, an sein genommenes Leben erinnern. Hiermit bekommt Georg Meyerstein einen Ort des Gedenkens und einen kleinen Teil seines Lebens zurück.
Else Kaufmann wurde am 26. Januar 1877 in Salzwedel als Tochter der Eheleute Marianne und Bernhard Beschütz geboren. Sie heiratete im Jahr 1900 den Göttinger Arzt und Sanitätsrat Julius Kaufmann. Ihre Eltern starben in der Zeit des Ersten Weltkriegs in Göttingen.
Die Kaufmanns hatten drei Kinder:
Fritz, geboren 1901, war verheiratet mit Ilse Liebert. Er emigrierte 1934 nach Almelo in den Niederlande und starb dort 1952.
Klara - genannt Thea -, geboren 1902, war verheiratet mit Arthur Götting. Die Eheleute bewohnten das elterliche Haus auch nach dem Krieg. Klara Götting starb 1972 in Göttingen.
Hans, geboren 1911, war Medizinstudent und emigrierte 1936 nach Brasilien. Dort arbeitete in der von Deutschen gegründeten Kolonie „Roland“ (Rolandia) und später in Itapeva. Er starb im November 2006 in Sâo Paulo, Brasilien.
Die beiden ersten Kinder von Else und Julius Kaufmann kamen in der Prinzenstraße 2 zur Welt, 1908 kaufte die Familie das Haus Weender Landstraße 5b, an dessen Stelle wir heute stehen. Dort wurde Hans geboren.
Anfang der 1920er Jahre wohnte Elses Cousin Julius Philippson in Göttingen, der später im Internationalen Sozialistischen Kampfbundes aktiv am Widerstand gegen die Diktatur beteiligt war und im August 1943 in Auschwitz starb. Elses Mann Julius nahm 1928 an der Gedenkfeier für Leonard Nelson teil, dem Gründer des Kampfbundes. Eine Nähe der Familie zum ISK ist daher nicht unwahrscheinlich. Zudem hatte die Familie Kontakt zu dem jüdischen Porträtisten und Landschaftsmaler Hermann Hirsch in Bremke, ebenfalls ein Verwandter, der Else 1922 großformatig porträtierte.
1935 starb Elses Ehemann Julius, der als praktischer Arzt bis zuletzt seine Praxis in Göttingen betrieb. Ihre Tochter Klara, die 1929 nach Eckernförde gegangen war, kam 1937 zusammen mit ihrem Mann wieder nach Göttingen zurück, um ihrer Mutter zur Seite zu stehen.
Ein im August 1939 gestellter Antrag von Else Kaufmanns Onkel Robert Philippson aus Magdeburg zusammen mit seiner Frau Franziska zu ihr zu ziehen, wurde von der Stadt Göttingen mit der Begründung abgelehnt, dass man „grundsätzlich gegen den Zuzug auswärtiger Juden wäre”.
Ende der 1930er Jahre wurde das Kaufmann'sche Haus zu einem sog. „Judenhaus“ umfunktioniert. Eine ganze Reihe von Juden aus Göttingen und Umgebung mussten dort einziehen, sodass ab 1941 neben Else Kaufmann und dem Ehepaar Götting noch weitere neun Personen das Haus Weender Landstraße 5b bewohnten.
Else Kaufmann wurde am 21. Juli 1942 zusammen mit den letzten in Göttingen verbliebenen Juden deportiert. Sie wurde in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt und traf dort ihre Schwester Clara Marcuse und deren Tochter Trudi. Darüber hinaus war auch ihr Großonkel, der Geografieprofessor Alfred Philippson, dorthin deportiert worden. Im November 1942 trafen zudem noch ihr bereits erwähnter Onkel Robert und seine Frau Franziska im Konzentrationslager ein. Beide starben noch vor ihr. Else Kaufmann starb in Theresienstadt am 12. August 1943 an Herzversagen.
Bei Ankunft in unserem Hotel gestern abend sah ich einen Stadtplan. Darauf zu lesen war das Motto “Göttingen Stadt, die Wissen schafft” und dachte mir, dass auch dieses Wissen dazu gehört obwohl es keine Wissenschaft ist.
Zuerst möchte ich im Namen der Familie Herr Dr. Rainer Driever sehr danken, der sich soviele Mühe gegeben hat, um dieses für unsere Familie zu ermöglichen, sowie auch damals für Hermann Hirsch, auch ein Mitglied unsere Familie.
Erinnern und nicht vergessen
Dass wir als Familie hier stehen ist was besonders als man in Betracht nimmt, was in der Vergangenheit geschehen ist. Das hat damit zu tun, dass wir ausgezogen sind ohne Hass gegen Deutschland, was wir unserer Mutter zu Verdanken haben und auch dass euer Land seine volle Verantwortung genommen hat für was in der Nazizeit geschehen ist.
Liebe Menschen, wir sind hier heute zusammen, damit wir erinnern und nicht vergessen, dass die 6.000.000 Opfer des Holocaust Menschen waren wie du und ich.
Menschen die gespielt haben, Freundschaften geschlossen haben, in die Schule gegangen sind, sich verliebt haben, das Leben geschenkt haben an Nachwuchs, die geträumt haben, Hoffnungen hatten, (zeigen Bild von Grossmutter und Grossvater um 1900) die aber im letzten Teil ihres Lebens nur Angst und Elend gekannt haben.(Foto Grossmutter Else mit Sohn Fritz um 1935)
Als meine Frau und ich kurz nach die Wende in die ehemalige DDR fuhren, fuhren wir in Hamburg vorbei am Haus der Schwester meines Großvaters und ihrem Mann, die sich selbst das Leben genommen haben und machten eine Photo von dem Haus und schickten das an den Bruder meines Vaters, der im Exil in Brasilien lebte. Ich bekam als Antwort einen sehr emotionellen Brief: Denn hinter einem von diesen Fenstern hat seine Mutter ihm nachgeschaut als er an Bord ging und das war das letzte, was er von Sie gesehen hat.
Durch diese Stolpersteine bekommen diese Menschen eine bestimmte Identität.
Aber eine Identität ist noch kein Gesicht, ist noch keine Persönlichkeit. Das wurde Ihnen für immer genommen mit der Konsequenz, dass auch wir, die Enkelkinder wie meine Bruder und Schwester und unsere Kusinen in Brasilien nie die Möglichkeit hatten, sie kennen zu lernen. Aber in uns und durch uns lebt sie weiter, trotz ihres tragischen Tods in Theresienstadt. Unsere Großmutter Else Kaufmann-Beschütz.
Frits Kaufmann
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Gemeinsam mit dem Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e.V. und der Stadt Göttingen:
Die erste Stolpersteinverlegung auf öffentlichem Grund in Göttingen am 17. März 2015 ab 14 h.
Stolpersteine wurden verlegt: in der Groner Str. 9 vier Stolpersteine für die Familie Katz: für Leopold und Mathilde Katz, die 1942 in das Ghetto Warschau deportiert und dort ermordet wurden, sowie ihre beiden Kinder Rosa und Ludolf, die vor der Reichspogromnacht in die USA fliehen konnten (14 h),
im Papendiek 26 fünf Stolpersteine für die Familie Asser: für Julius und Jenny Asser, ihre Kinder Kurt und Lissy und die Mutter von Jenny Asser Bertha Fernich, die zu fünft 1942 in das Ghetto Warschau deportiert und dort ermordet wurden (ca. 15 h),
in der Weender Landstraße 12 ein Stolperstein für Hermann Hirsch, der gedemütigt und entrechtet wurde und bereits 1934 in den Tod geflohen ist (ca. 16 h).
169-mal kommt das Wort „זכור“ (Sachor) in der Hebräischen Bibel vor, die die Christen gewöhnlich Altes Testament nennen. So zentral ist dieser Begriff. Gedenken - sich erinnern ist aber auch für unser gemeinsames gesellschaftliches Gedächtnis konstitutiv.
Sehr bald wird es niemanden mehr geben, den wir nach ihren und seinen Erinnerungen an den nationalsozialistischen Terror und an die Shoa fragen können. „An die Stelle der lebendigen Schilderung derer, die die Verfolgung miterlebt haben“, - so Dr. Heinrich Mussinghoff – „treten schriftliche Zeugnisse, Bilder, Gedenktage und Gedenkorte... Wenn nicht alles täuscht, dann hat dieser Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis bereits begonnen.“ (1) Der Auftrag: „Sachor – Erinnere Dich“ bleibt – für Juden, für Christen, für die Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt.
Gunter Demnig erinnert mit seinem Kunstprojekt „Stolpersteine“ an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbstgewählten Wohn- oder Arbeitsort Gedenktafeln aus Messing in den Bürgersteig einlässt. Inzwischen liegen STOLPERSTEINE in über 500 Orten Deutschlands und in mehreren Ländern Europas. 'Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist', zitiert Demnig den Talmud. Mit den Steinen vor den Häusern wird die Erinnerung an die Menschen lebendig, die einst hier wohnten. (2)
Ich freue mich sehr, dass Sie alle heute zur Verlegung von 10 Stolpersteinen gekommen sind. Für alle Steine haben sich übrigens Paten aus unserer Stadt gefunden. Ganz herzlichen Dank!
Mit unserer Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit haben die Stadt Göttingen und der Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e.V. diese Verlegung vorbereitet. Für die gute Zusammenarbeit bedanke ich mich.
Ich begrüße für die Stadt Göttingen Bürgermeister Wilhelm Gerhardy, Stadträtin Dr. Dagmar Schlapeit-Beck, Hilmar Beck vom Fachbereich Kultur und Dr. Ernst Böhme vom Stadtarchiv – für den Landkreis Göttingen Landrat Bernhard Reuter. Die Mitglieder des Geschichtsverein -namentlich den Vorsitzenden Prof. Dr. Peter Aufgebauer – heiße ich herzlich willkommen und selbstverständlich auch die Mitglieder unserer Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit – namentlich Dr. Bettina Kratz-Ritter, die für uns federführend dieses Projekt betreut, - die Damen und Herren der vorbereitenden Arbeitsgruppe, - sowie unser Mitglied Liz Eck, die sich seit 2002 für Stolpersteine in unserer Stadt eingesetzt hat. Ich freue mich besonders, dass Mitglieder der Jüdischen Gemeinde da sind und begrüße die Vorsitzende Jacqueline Jürgenliemk. Herzlich willkommen Gunter Demnig und für die Musik Yoko Teuteberg.
Gleich nach meiner Rede wird Herr Demnig mit der Verlegung beginnen. Dann wird Dirk Mederer von der Supporters Crew 05 e.V. die Familie Katz vorstellen.
Es ist uns eine ganz besondere Ehre, dass Ralph Ibson mit seiner Verlobten Liz Anne und seiner Tochter Zoe zu diesem Anlass aus den Vereinigten Staaten zu uns nach Göttingen gereist ist. Ralph Ibson ist der Sohn von Rose Ibson, die unter ihrem Mädchennamen Rosa Katz hier in der Groner Straße 9 gelebt hat und 1937 vor den faschistischen Verfolgungen in die USA fliehen konnte.
Am vergangenen Sonntag wurde im Alten Rathaus die Ausstellung „Moment!“ eröffnet. Sie dient als Plattform für den Diskurs über Kulturen der Erinnerung und stellt letztlich die Frage: Welche Ereignisse und Personen sollen im sozialen Gedächtnis bewahrt werden. Wir sind der Überzeugung, dass an die verfolgten und ermordeten Opfer des Nazi-Regimes in Göttingen erinnert werden muss - nicht nur zentral am Mahnmal der Synagoge, sondern auch dezentral vor ihren früheren Wohn- und Arbeitsorten. Mit den ersten 10 Stolpersteinen auf öffentlichem Grund beginnen wir, diese Erinnerung in die Stadt einzuschreiben – auch zur Mahnung: Nie wieder!
Sachor – Erinnere Dich und Gedenke!
Heiner J. Willen, 17. März 2015 (1) Festrede von Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff, Vorsitzender der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum der Deutschen Bischofskonferenz, bei der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit am 3. März 2013 in München, dbk Kaiserstraße 161 3113 Bonn, S. 2 (2) vgl. /http://www.stolpersteine.eu/start/
Leopold und Mathilde Katz Ludolf Katz Rosa Katz
Am 28. März 1933 steht Ludolf Katz vor dem Geschäft seiner Eltern. Vielleicht steht er exakt an dem Ort, an dem sich die Stolpersteine seiner Familie nun befinden. Er will die Übergriffe fotografisch festhalten, will bei den Behörden sein Recht als freier Bürger der Stadt einfordern. Ein Recht, welches die Juden zu diesem Zeitpunkt faktisch bereits verloren haben.
Hier, vor der Groner Straße 9, wird er von Angehörigen der SA angegriffen, verfolgt und in einem Hinterhof zusammengeschlagen. Später wird man behaupten, er habe den marodierenden Mob provoziert. Es ist der Beginn einer schlimmen Zeit für die Göttinger Juden, für die Familie Katz ...
Liebe Anwesende, liebe Angehörige der Familie Ibson,
als sich die Supporters Crew 05, der Fandachverband des 1. SC Göttingen 05, der Aufbereitung der jüdischen Geschichte von 05 annahm, geschah dies, um dem Vergessen zu begegnen. Ludolf Katz, der 15 Jahre lang Mitglied des Vereins war, und seiner Familie gilt hier und heute unser Gedenken:
Ludolfs Vater war Leopold Katz. Der 1875, in Alsfeld geborene Geschäftsmann, arbeitete in seiner Geburtsstadt im Manufakturwarengeschäft seines Vaters.
Ludolfs Mutter war Mathilde Apt. Sie wurde 1878 in Niederaula, als ältestes von sechs Mädchen geboren. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebte und arbeitete sie im Textilgeschäft ihrer Tante in Geismar.
Mathildes Schwester Fanny war es, die die beiden zusammen brachte.
1902, nach Leopolds Militärausbildung, heirateten sie und zogen nach Göttingen. Hier übernahmen sie das Manufaktur- und Textilgeschäft von Leopolds Verwandten in der Groner Str. 11.
1903 kam ihr Sohn Ludolf auf die Welt. In den folgenden Jahrzehnten erweiterte das Ehepaar die Geschäftsräume auch auf die Häuser mit der Nummer 10 und 9. Die 1905 erworbene Nummer 9 wurde zum ständigen Wohnhaus der Familie.
1911 wurde Ludolfs Schwester Rosa geboren. Sie erkrankte im Alter von zwei Jahren an Kinderlähmung. Dank der Hilfe eines Göttinger Spezialisten wirkte sich die Polio nur als leichte Behinderung aus. Sie schränkte die aktive Frau zeitlebens kaum ein. Für die Mutter war es jedoch eine schwere Zeit, denn sie führte während des Ersten Weltkriegs das Geschäft alleine.
Leopold Katz diente vier Jahre im deutschen Heer. Mit dem Ende des Kriegs ging es in der Groner Straße stetig aufwärts. Das Haus mit der Nummer 9 brummte vor Geschäftigkeit. Das Ehepaar Katz lebte hier nicht nur mit seinen Kindern, sondern beherbergte auch zahlreiche Lehrlinge.
Nach Ladenschluss wurde über Abrechnungen und Textilwaren gewerkelt und nicht selten sang Mathilde Katz mit schöner Stimme zur Zither. Ludolf besuchte das Realgymnasium, das heutige Felix-Klein-Gymnasium.
Rosa ging auf das Lyzeum, das heutige Hainberg-Gymnasium. Rosa hatte die musikalische Ader ihrer Mutter geerbt und studierte nach ihrer Schulzeit Musik in Kassel.
Später bestritt sie ihren Lebensunterhalt mit Klavierunterricht. Ludolf stieg in die Fußstapfen seiner Eltern und arbeitete bald im Göttinger Geschäft, bald in anderen Städten. Seine Leidenschaft galt dem Sport. Neben Tennis und Kegeln, widmete er sich insbesondere dem 1. Göttinger Sportklub von 1905. Außerdem leitete er den jüdischen Jugendverein der Stadt. Drei Jahrzehnte lang war die Familie Katz ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen und kaufmännischen Wirkens in Göttingen.
Leopold und Mathilde pflegten Freundschaften zu nichtjüdischen Familien und nahmen als Theaterabonnenten am kulturellen Leben der Stadt teil. Doch über diese guten Jahre legte sich ein Schatten. Antijüdische Stimmung machte sich in Göttingen breit. Die Stadt der Studentenbünde war ein Brutherd der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus. Mit der Machtergreifung wurde den Juden in Göttingen nach und nach der Zugang zum gesellschaftlichen Leben abgeschnürt.
Ablehnung, Hass und Gewalt machten das Alltägliche zur Tortur. Als er vom SA-Mob zusammen geschlagen wurde, war Ludolf Katz 29 Jahre alt. Seine Familie war eine deutsche Familie. Sein Vater war für Deutschland in den Krieg gezogen. Seine Mutter, seine Schwester und er hatten sich weit über das normale Maß in Göttingen engagiert.
Nichts von alledem zählte mehr.
Lange Zeit kämpfte die Familie darum, ihr gesellschaftliches Ansehen zu wahren. Ein hoffnungsloser Kampf, denn die Stadt und ihre Bürger brachten ihnen weder Respekt entgegen, noch ließen sie ihnen ihre Würde. Die Kinder von Leopold und Mathilde erkannten die fatale Entwicklung. Rosa Katz wanderte im Februar 1937 in die USA aus. Dort heiratete sie den deutsch-jüdischen Emigranten Kurt Ibson. Ihr Bruder Ludolf folgte mit seiner Frau Reneé, im Oktober 1938, nach. Die Eltern blieben in Göttingen. Sie wollte nicht wahrhaben, dass sie ihrer Existenz beraubt werden sollten. Alles was sie hatten, was sie waren, verbanden sie mit dieser Stadt, mit dieser Straße, mit diesem Haus.
Nur wenige Tage nach Ludolfs Emigration wurde in der Pogromnacht das Wohneigentum der Familie zerstört.
Später wurde das Ladeninventar an nichtjüdische Geschäfte verteilt. Leopold Katz verkaufte als einer der letzten Göttinger Juden sein Geschäft zu einem Spottpreis. Das Ehepaar musste beim neuen Eigentümer zur Miete leben. Rose und Ludolf versuchten verzweifelt sie aus dem Land zu bekommen. Doch es war zu spät. Als die Schiffstickets sie erreichten, herrschte Krieg und sie durften das Deutsche Reich nicht mehr verlassen.
Mathilde und Leopold Katz wurden am 26. März 1942 über Trawniki ins Warschauer Ghetto deportiert. Von dort schrieb Leopold seinen Kinder noch vom Tod ihrer Mutter durch Typhus. Er selbst blieb verschollen. Ludolf Katz starb am 14. August 1994 in Sarasota, Florida mit 91 Jahren. Seine Schwester Rose starb am 17. Februar 2013 in Rockville, Maryland im Alter von 100 und einem Jahr.
Als wir vor einem Jahr zu forschen begann, waren es Ludolfs Briefe, die einen Faden zur jüdischen Vergangenheit unseres Vereins woben. Ein Faden, der sich auch mit anderen Namen verbindet und schließlich zur Groner Straße 9 zurück führte: Wir wollen heute auch des Kaufmannslehrlings Julius Löwenstein gedenken. Er arbeitete und lebte hier im Geschäftshaus des Ehepaares Katz.
Julius Löwenstein wurde 1897 in Banteln geboren und entfloh mit seiner Frau dem nationalsozialistischen Terror nach Argentinien. Dort starb er am 17. Juli 1985 in Buenos Aires. Er erzählte seinen Kindern nie von Göttingen. Das erlebte Grauen ließ ihn verstummen.
Für uns, von der Supporters Crew 05, sind diese Stolpersteine nicht nur Gedenken, sondern auch eine Mahnung an gegenwärtige und kommende Generationen: „Bleibt wachsam, steht auf und ruft: „Nie wieder!“
Dirk Mederer, Supporters Crew 05 e.V. 17.03.2015
Sehr geehrter Herr Willen, sehr geehrte Frau Jürgenliemk, sehr geehrter Herr Prof. Aufgebauer, sehr geehrter Herr Demnig, sehr geehrte Herr Dr. Wolfgang Ram, sehr geehrte Damen und Herren,
zur ersten Verlegung von Stolpersteinen in Göttingen begrüße ich Sie im Namen der Stadt Göttingen sehr herzlich! Ich bin froh und glücklich, dass wir heute hier stehen, um auf diese beeindruckende Weise auch in Göttingen der von den Nationalsozialisten verfolgten, vertriebenen und ermordeten jüdischen Bürger unserer Stadt zu gedenken. Die heutige erstmalige Verlegung von Stolpersteinen in Göttingen ist auch für mich persönlich ein ganz besonderes großes Ereignis.
Am 22. September 2014 haben Sie Herr Dr. Ram mich angeschrieben und den Wunsch geäußert, dass für die Geschwister Lissy und Kurt Asser in Göttingen Stolpersteine verlegt werden sollen. Lissy und Kurt Asser wurden am 26. März 1942 aus Göttingen verschleppt. Sie waren die Enkel ihres am 20. September 1872 in Altona geborenen und nach Göttingen verzogenen Urgroßonkels Cäsar Asser. Aus Ihrer mütterlichen Familie Asser sind alleine in Hamburg und Göttingen siebzehn Mitglieder von den Nationalsozialisten ermordet worden. Sie hatten den Wunsch, den Kindern Lissy und Kurt Asser Stolpersteine zu stiften, um diese in ihrer ehemaligen häuslichen Umgebung vor dem Vergessen zu bewahren.
Herrn Dr. RAM hat irritiert, dass bisher in Göttingen keine Stolpersteine verlegt worden sind und dass hierzu die Zustimmung von Nachfahren und Angehörigen erforderlich ist.
Um diese Regelung zu verstehen, muss man die Vorgeschichte der Göttinger Diskussion über die Stolpersteine kennen:
Über die Verlegung von Stolpersteinen wird in Göttingen seit vielen Jahren intensiv und sehr kontrovers diskutiert. Von Befürwortern und Gegnern wurden und werden schwerwiegende, bedenkenswerte und sehr grundsätzliche Argumente für die jeweiligen Standpunkte vorgebracht. Wegen dieses grundsätzlichen Charakters der Diskussion war eine beide Seiten gleichermaßen zufriedenstellende Lösung der Frage lange Zeit nicht möglich.
Die jüdische Gemeinde Göttingen e.V. hat die Verlegung von Stolpersteinen stets unterstützt. Sie bezieht sich auch auf die theologische Stellungnahme von Herrn Rabbiner Dr. Gabor Lengyel von der liberalen jüdischen Gemeinde Hannover e.V. vom 24.7.2012. Der Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinden in Hannover und Göttingen befürwortet die Verlegung von Stolpersteinen. Unter anderem betont er, dass die Stolpersteine lediglich Erinnerungssteine seien und nicht auf einem Friedhof lägen. Eine der wichtigsten Grundlagen des jüdischen Glaubens sei der Begriff "Zachor", gedenke und erinnere! Die Stolpersteine hätten diesen Zweck. Zudem müsse man sich zum Lesen der Inschrift etwas bücken und verneige sich damit nachträglich symbolisch vor den Opfern.
Die jüdische Kultusgemeinde für Göttingern und Südniedersachsen e.V. hat Bedenken gegen die Verlegung von Stolpersteinen, da man die Erinnerung nicht mit Füßen betreten soll, und weist darauf hin, dass sie andere alternative Formen des Gedenkens und der Erinnerungskultur befürworte. Ihre Vorsitzende hat schließlich im Jahre 2012 dem Kompromiss zugestimmt, dass sie unter der Voraussetzung damit einverstanden sei, Stolpersteine zu verlegen, wenn Nachkommen der jüdischen Opfer diesen zustimmen würden.
Nach einer über ein Jahrzehnt währenden kontroversen öffentlichen Diskussion auch zwischen den beiden jüdischen Gemeinden in Göttingen, ist es mir nunmehr in 2013 gelungen, diesen Kompromiss zu finden. Aber, und das ist mir sehr wichtig, es wurde ein Kompromiss gefunden, der für alle Beteiligten akzeptabel sein sollte: Stolpersteine werden dann verlegt, wenn Angehörige der Opfer dem zugestimmt haben. Wir sollten diese Lösung nicht als Sieg oder Niederlage der einen oder anderen Seite sehen, sondern als Gewinn für uns alle: Zeigt sich darin doch die Fähigkeit unserer freiheitlichen Gesellschaft, grundlegende und langwierige Konflikte schließlich zu einer gedeihlichen Lösung zu bringen, mit der alle Seiten leben können. Darauf können wir ruhig ein wenig stolz sein, denn in vielen Gegenden der Welt würde eine solche Lösung als Sensation gelten.
Der Rat der Stadt Göttingen hat schließlich am 13. September 2013 hierzu beschlossen:
"Der Rat der Stadt Göttingen begrüßt und unterstützt die Verlegung von "Stolpersteinen" in Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus auf öffentlichen Flächen, sofern Nachfahren und Angehörige der Opfer zustimmen."
Ein weiterer Punkt ist mir wichtig. Die Verlegung der Stolpersteine erfolgt unter der Federführung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit – dafür sei Ihnen, Herr Willen, als dem Vorsitzenden der Gesellschaft ausdrücklich gedankt. Gleichzeitig aber und in der Praxis sind die Göttinger Stolpersteine ein Gemeinschaftsprojekt der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, des Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung und der Stadtverwaltung, genauer gesagt des Stadtarchivs, des Fachdienstes Kultur und des Baubetriebshofs.
Die reibungslose, unbürokratische und zielorientierte Kooperation zwischen Kommunalverwaltung und den Organen der Zivilgesellschaft – auch das ist doch etwas, auf das einmal mit einer gewissen Zufriedenheit verwiesen werden darf. Allen, die an dieser Kooperation beteiligt waren, die durch ihr Engagement dazu beigetragen haben, dass heute in Göttingen Stolpersteine verlegt werden können, sei daher hiermit sehr herzlich gedankt!
Ich persönlich bin froh und dankbar darüber, dass es nunmehr auch in Göttingen gelungen ist, Stolpersteine als Zeichen gelebter Erinnerung zu verlegen.
Stadt Göttingen Dr. Dagmar Schlapeit-Beck Kulturdezernentin
Diese fünf Stolpersteine erinnern an den Kaufmann Julius Asser, seine Ehefrau Jenny Asser geb. Fernich, an Jennys Mutter Bertha Fernich und an die beiden Kinder von Julius und Jenny Asser, Kurt und Lissy. Julius Asser wurde 1905 in Göttingen geboren, wo sein Vater Cäsar Asser einen kleinen Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen unterhielt. Im Alter von 21 Jahren heiratete Julius die aus Klotten an der Mosel stammende Jenny Fernich, die ein Jahr älter war als er. Das Paar bekam zwei Kinder, im Jahr 1926 den Sohn Kurt und 1927 die Tochter Lissy. Der Familienalltag der Assers war seit den späten zwanziger Jahren zunehmend von wirtschaftlich beengten Verhältnissen geprägt, innerhalb weniger Jahre musste die Familie viermal umziehen. Seit der Mitte der dreißiger Jahre hatte die Familie, wie die meisten Juden in Deutschland, besonders unter den restriktiven und explizit judenfeindlichen Maßnahmen des Regimes zu leiden; so musste Julius Asser, der in den städtischen Meldeunterlagen als Kaufmann eingetragen ist, sich mehrfach als Hilfsarbeiter einer Tiefbaufirma verdingen. Als die politische Lage und die wirtschaftliche Situation es der Familie unmöglich machten, ihre Wohnung zu halten, stellte im September 1938 die jüdische Gemeinde einige Räume im Gebäude der Synagoge in der Unteren Maschstraße 13 zur Verfügung. Fünf Wochen später, in der Pogromnacht des 9. November 1938, verlor die Familie durch das Niederbrennen der Synagoge ihre Wohnung mitsamt dem Hausrat und allem Besitz. Eine neue Bleibe fanden die Familie Asser und Bertha Fernich schließlich hier im Haus Papendiek 26. Eine Woche später mussten der zwölfjährige Kurt und die elfjährige Lissy Asser ihre Schule, die Lutherschule am Ritterplan, verlassen; am 15. November ordnete Bernhard Rust, Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, per Erlass, „mit sofortiger Wirkung“ an: „Juden ist der Besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen.“ Als Vorwand diente das Attentat Herschel Grynszpans auf den Diplomaten Ernst vom Rath in Paris am 7. November 1938: „Nach der ruchlosen Mordtat von Paris kann es keinem deutschen Lehrer […] mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, dass es für deutsche Schüler unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen.“ Durch den jüdischen Lehrer Heinz Junger wurde daraufhin für 7-10 jüdische Schüler bis zu den Osterferien 1941 Privatunterricht erteilt, vermutlich im jüdischen Gemeindehaus Weender Landstraße 26. Kurt Asser konnte wahrscheinlich zu Ostern 1940 seine Schulausbildung beenden und hielt sich von April 1940 bis April 1941 in Berlin auf und kehrte dann nach Göttingen zurück, um eine nicht näher bezeugte Tätigkeit als „Lehrling“ auszuüben. Lissy Asser konnte wahrscheinlich bis April 1941 ebenfalls diese jüdische Privatschule besuchen und wohnte anschließend, von ihren Eltern getrennt, für ein halbes Jahr in Kassel in der Rosenstraße 22, wo sich ein jüdisches Waisenhaus und Internat befanden. Julius und Jenny Asser wurden am 26. März 1942 zusammen mit ihren beiden Kindern, dem 15-jährigen Kurt und der 14-jährigen Lissy sowie deren Großmutter Bertha Fernich von Göttingen aus in den Osten deportiert und ermordet. Julius und Jenny Asser, ihre Kinder Kurt und Lissy und Jennys Mutter Bertha Fernich haben kein Grab, das Angehörige und Verwandte aufsuchen können. Diese Stolpersteine vor ihrer letzten Göttinger Wohnung sind von jetzt an der wichtigste Erinnerungsort an diese jüdische Göttinger Familie.
Peter Aufgebauer 17. März 2015
Grußwort: Prof. Dr. Peter Aufgebauer, Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung
„Yad Vashem“ - „Ort und Name“: Unter der biblischen Weisung (Isaia 56,5) steht die zentrale Mahn- und Gedenkstätte für ermordeten Juden Europas in Jerusalem. Auch in Göttingen lässt sich das Gedenken und mahnende Erinnern an die verfolgten, vertriebenen, ermordeten jüdischen Mitbürger mit „Ort und Name“ fassen: 1973 wurde das Mahnmal am Standort der 1938 niedergebrannten Synagoge errichtet, das seither der zentrale Ort des Erinnerns an die Pogromnacht ist. Eine Generation später, 1992, dokumentierte ein im Auftrag von Stadt und Landkreis erarbeitetes „Gedenkbuch“ in mehr als 800 Einzelbiographien das Schicksal der jüdischen Bürger im Gebiet des heutigen Landkreises. Auf der Grundlage des Gedenkbuches wurden im Jahre 1995 die 282 Namen der im Nationalsozialismus ermordeten Juden auf fünf Bronze-Namenstafeln dokumentiert. Heute, wiederum, fast eine Generation später, beginnen wir eine neue Form des mahnenden Erinnerns; Yad Vashem – Ort und Name: das können wir nun auf die Stolpersteine beziehen, die jeweils den Namen eines vom NS-Regime verfolgten oder Ermordeten vor seiner letzten selbst gewählten Wohnung dokumentieren. Wir holen nach und nach jedes Einzelne der Opfer in unsere Stadt und in unseren Alltag zurück. Die Erinnerung an die Namen und das Erinnern vor ihrer letzten Wohnstätte ist nicht auf Jahrestage und zentral organisierte Gedenkveranstaltungen beschränkt, sondern kann und soll jederzeit, im Alltag, im Straßenleben stattfinden. Um Ort und Name zusammen zu bringen, um zu erfahren, welcher Name auf einem Stolperstein steht, muss man sich hinab beugen – sich vor dem Opfer verneigen. Die mehr als 50 000 Stolpersteine, die Gunter Demnig inzwischen europaweit verlegt hat, sind längst nicht mehr nur die Aktion eines Einzelnen; als ein großes Flächenmahnmal haben der Künstler und die Generation der Nachkommen der Tätergesellschaft gemeinsam ein Netzwerk des mahnenden Erinnerns geschaffen. Heute sind Angehörige der durch die Verlegung von zehn Stolpersteinen Geehrten aus Südamerika, den USA, aus München, Hamburg, Berlin und Schleswig-Holstein nach Göttingen gekommen. Dies zeigt, wie wichtig und richtig es ist, die Erinnerung an den Einzelnen und an sein Wohnumfeld in unsere Stadt und unseren Alltag zurück zu holen – Ort und Name, Yad Vashem.
Peter Aufgebauer 17. März 2015
Hermann Hirsch wurde am 4. 6. 1861 in Rheydt als zweitjüngster Sohn des jüdischen Ehepaars Moritz und Rosetta Hirsch geboren. Nach dem Besuch eines Gymnasiums in Köln absolvierte Hirsch eine Lehre als Holzzeichner und -‐stecher bei Brend' amour in Düsseldorf. Eine Unterstützung durch seinen Onkel ermöglichte ihm ab 1881 die Aufnahme des Studiums an der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin. Hermann Hirsch wurde dort in Malerei und Plastik ausgebildet. 1886 schloss Hirsch noch ein Semester an der Kunstakademie Düsseldorf an.
Hirschs Lebensmittelpunkt in diesen Jahren war Berlin. Dort war er Mitglied im Verein Berliner Künstler. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit der Anfertigung von Illustrationen für auflagenstarke Wochenzeitungen, eine Arbeit, die er hasste. Bis 1914 war Hirsch in neun Jahren mit Werken auf den Großen Berliner Kunstausstellungen vertreten. In diese Zeit fallen auch teils längere Aufenthalte des Künstlers in Italien (auf Capri und Sizilien) und in der Schweiz. In Italien war er ordentliches Mitglied im Deutschen Künstler-‐Verein in Rom und nahm an dessen Ausstellungen teil.
Nach dem Ersten Weltkrieg kaufte der Junggeselle Hirsch im Alter von 58 Jahren durch Vermittlung seiner Schwester Julie Hendel das Haus Nummer 93 (heute: An der Waldbühne 1) in Bremke bei Göttingen. Dort wurde er auch Mitglied der Jüdischen Gemeinde. Kommerziell orientierte sich der Künstler nach Göttingen, bald waren erstmals Bilder von ihm in einer Göttinger Kunsthandlung ausgestellt. Bis 1932 nahm er fünf Mal mit Bildern und Plastiken an den Ausstellungen der Vereinigung Göttinger Kunstfreunde teil. Diese Ausstellungen und vor allem seine Porträts von Mitgliedern des Göttinger akademischen Bürgertums (z.B. des Nobelpreisträgers Max Born oder des späteren Oberbürgermeisters Jung) begründeten seinen Ruf als führender Porträtist und Landschaftsmaler der Region. 1925 kehrt Hirsch für kurze Zeit noch einmal nach Italien zurück und brachte Bilder aus Mondello bei Palermo wieder mit zurück nach Bremke. Im Dorf war er inzwischen anerkannt und akzeptiert, im Februar 1932 wurde er Mitglied im Gemeindeausschuss.
Angesichts des handgreiflichen Antisemitismus in Bremke übersiedelte Hirsch Anfang Mai 1933 nach Göttingen in die Weender Landstraße Nr. 12. Seine Verwandten, die Familie des Arztes Julius Kaufmann, wohnte gegenüber. Julius Kaufmann starb ein Jahr nach Hirsch, seine Frau Else im Konzentrationslager Theresienstadt am 12. August 1943. Sie hatten drei Kinder: Thea verblieb mit ihrem „arischen“ Mann Arthur Götting im elterlichen Haus und starb 1972. Ihr Bruder Fritz floh 1939 in die Niederlande und starb 1952 in Almelo. Ihrem Bruder Hans gelang 1936 die Emigration nach Brasilien. Er arbeitete dort u.a. in der von Deutschen gegründeten Kolonie „Roland“ (Rolandia). Hans starb im November 2006 in Sâo Paulo. Ich freue mich besonders, heute seinen Sohn, Bernardo Kaufmann, aus Sao Paulo, Brasilien, bei der Verlegung des „Stolpersteins“ für Hermann Hirsch begrüßen zu dürfen.
Hermann Hirsch erlebte in der Stadt noch ein dreiviertel Jahr fortschreitende Diskriminierung und Entrechtung. Im Alter von 73 Jahren, am 1.3.1934, nahm er sich in seiner Wohnung das Leben. Seine engeren Verwandten emigrierten frühzeitig, ein Weg der dem 73Jährigen anscheinend nicht mehr offenstand. Zum Schluss möchte ich seinen Freund zitieren, der beim Begräbnis auf dem Jüdischen Friedhof an dem Maler erinnerte: Dr. Wilhelm Lange, Geschäftsführer und Leitender Redakteur der Göttinger Zeitung. Ich zitiere aus seiner Rede:
„Er durfte, was die Masse nur ahnt und ferne sieht, bildhaft formen und gestalten. Ihm war die Gnade zuteil, zu sagen, was ist. Das war das Glück und die Tragik seines Lebens. Denn er war nie fertig geworden mit sich selbst. Immer zweifelnd an seiner Kraft und an seiner Sendung, oft ganz verzweifelnd, wurde ihn das Leben zu einem ewigen Ringen. Denn seine Kunst war ihm kein billiges Spiel, kein leichtes und liebenswürdiges Vergnügen, vor allem nicht materieller Erwerbszweck. Sie war für ihn Glauben und Bekenntnis.“
Dr. Rainer Driever 17. 03. 2015
Nachfahren wohnen Verlegung in Göttingen bei / Weitere Gedenksteine sollen folgen
Von Jörn Barke |18.03.2015, Copyright © 2015 Göttinger Tageblatt — mit Genehmigung
Göttingen. Erstmals sind in Göttingen im öffentlichen Raum zehn Stolpersteine zur Erinnerung an jüdische Opfer der nationalsozialistischen Diktatur verlegt worden. Die Gedenksteine im Straßenpflaster erinnern an drei Familien, deren Mitglieder erniedrigt, entrechtet und ermordet wurden. Der Kölner Künstler Gunter Demnig verlegte die Steine jeweils vor den ehemaligen Wohnhäusern der Familien. Reden und Klarinetten-Musik von Yoko Teuteberg sorgten für einen feierlichen Rahmen. Knapp 200 Besucher wohnten der Zeremonie bei, darunter auch Nachfahren der Familien.
„Das ist ein guter Anfang, aber nur ein Anfang“, meinte der Vorsitzende der Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit, Heiner J. Willen. Er kündigte für das nächste Frühjahr die Verlegung von weiteren Stolpersteinen an. Von einer beeindruckende Weise, der NS-Opfer zu gedenken, sprach Göttingens Sozialdezernentin Dagmar Schlapeit-Beck (SPD). Demnig hat in Deutschland und weiteren europäischen Ländern bereits rund 50 000 Stolpersteine verlegt.
In Göttingen würdigten die Historiker Prof. Peter Aufgebauer und Dr. Rainer Driever das Leben der Familie Asser und des Malers Hermann Hirsch, deren Gedenksteine im Papendiek 26 und in der Weender Landstraße 12 liegen. Nach einer langen Reihe von Demütigungen in Göttingen wurden fünf Mitglieder der Familie Asser 1942 in das Ghetto von Warschau deportiert und dort ermordet, darunter die beiden Jugendlichen Kurt und Lissy. Der Maler Hermann Hirsch setzte nach vielen Erniedrigungen seinem Leben 1934 selbst ein Ende. Nicht nur Nachfahren, auch Zeitzeugen aus Göttingen waren bei der Verlegung am Dienstag dabei, so die 87-jährige Erika Mischke, die als Kind mit Lissy Asser gespielt und sie um ihre dicken schwarzen Zöpfe beneidet hatte.
Dirk Mederer von der Supporters Crew 05 würdigte in der Groner Straße 9 das Leben der Familie Katz, die auf vielfältige Weise in Göttingen verwurzelt und engagiert war. Die Eltern betrieben ein Textilgeschäft in der Groner Straße, Sohn Ludolf engagierte sich unter anderem beim Fußballverein Göttingen 05. Bis zuletzt, so Mederer, hätten die Eltern nicht wahrhaben wollen, „dass sie ihrer Existenz beraubt werden sollten“. Das bezahlten sie mit ihrer Deportation und dem Tod. Die Kinder dagegen konnten rechtzeitig emigrieren.
Aus der US-Hauptstadt Washington war der Sohn von Rosa Katz, Ralph Ibson, mit seiner Verlobten und seiner Tochter nach Göttingen gereist. Der 69-Jährige zeigte sich bewegt von der Gedenkstein-Verlegung, die ihm sehr viel bedeute. Es sei wichtig zu wissen, dass an die Tragödie der Vergangenheit erinnert werde und dass die Menschen verstehen, dass so etwas nie wieder passieren dürfe. Die zwei wichtigsten Worte kann Ibson auch auf Deutsch sagen: „Nie wieder!“
Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig startet
Von Jörn Barke |21.01.2015 21:42 Uhr, Copyright © 2015 Göttinger Tageblatt — mit Genehmigung
Für Sozialdezernentin Dagmar Schlapeit-Beck ist es ein „großer Moment“ und ein „großartiges Projekt“: Im März sollen erstmals auch in Göttingen Stolpersteine verlegt werden, die an Menschen erinnern, die während der nationalsozialistischen Diktatur vertrieben oder ermordet wurden.
In Dransfeld liegen sie bereits, in Göttingen sollen Stolpersteine im März verlegt werden. © Hinzmann
Göttingen. Auf den Stolpersteinen, die ins Pflaster eingelassen werden, ist eine Messingplatte aufgebracht, in die Informationen zu den Opfern eingraviert sind. Verlegt werden die Steine seit 2000 vom Kölner Künstler Gunter Demnig, der das Projekt initiiert hat.
Demnig habe mittlerweile rund 50 000 Stolpersteine in Deutschland und 17 weiteren europäischen Ländern verlegt, sagte Heiner J. Willen, Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit bei der Vorstellung des Vorhabens für Göttingen.
Die meisten der Opfer, an die erinnert werde, seien Juden, aber es gebe Stolpersteine unter anderem auch für Homosexuelle, Sinti und Roma oder Zeugen Jehovas, die Opfer der NS-Diktatur gewesen seien. Die Steine werden vor dem letzten frei gewählten Wohnhaus der Opfer verlegt.
In Göttingen gibt es bislang nur einen Stolperstein auf einem Privatgrundstück. Im öffentlichen Raum waren bisher aufgrund des Einspruchs der konservativen jüdischen Kultusgemeinde keine Steine verlegt worden. Der Name der Opfer werde mit Füßen getreten und beschmutzt, lautete der Einwand.
„Gutes Mittel des Erinnerns und Gedenkens“
Für Willen sind die Stolpersteine dagegen ein „gutes Mittel des Erinnerns und Gedenkens“. Die liberale Jüdische Gemeinde in Göttingen und damit die Mehrheit der Juden in der Stadt stehe hinter dem Projekt. Wer den Text auf den Stolpersteinen lesen wolle, müsse sich hinunterbeugen und damit vor den Opfern verneigen, so Willen.
Ein Kompromiss machte es schließlich möglich, das Projekt auch in Göttingen zu realisieren: Stolpersteine sollen nur dann verlegt werden, wenn Nachfahren und Angehörige einverstanden sind. Dieser Formel hat auch der Rat der Stadt zugestimmt. Opfer ohne Angehörige bleiben damit vorerst ohne Stolperstein – doch die Initiatoren hoffen darauf, dass es hier im Verlauf des Projektes ein Umdenken geben könnte.
Am 17. März sollen nun die ersten zehn öffentlichen Stolpersteine in Göttingen verlegt werden. Der Künstler hatte diese Höchstzahl vorgegeben. Die Namen wählte eine bei der christlich-jüdischen Gesellschaft angesiedelte Arbeitsgruppe aus, der auch der Leiter des Städtischen Museums und des Stadtarchivs, Ernst Böhme, sowie der Vorsitzende des Geschichtsvereins, Peter Aufgebauer, angehören.
Böhme würdigte das Stolperstein-Projekt als „Prozess des kollektiven Erinnerns“. Aufgebauer sagte, er sei „sehr dankbar“, dass für das Projekt in Göttingen nun endlich ein Kompromiss gefunden worden sei. Das Projekt sei auf jüdischer Seite weithin akzeptiert, betonte der Historiker.
An diese zehn Opfer soll erinnert werden
Die stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Bettina Kratz-Ritter, hat am Mittwoch die Namen der zehn jüdischen Opfer der NS-Diktatur vorgestellt, für die die ersten öffentlichen Stolpersteine in Göttingen verlegt werden.
Unter den Opfern sind zwei Jugendliche und der Maler Hermann Hirsch, der sich in der Verzweiflung über die zunehmende Entrechtung selbst das Leben nahm. Die Inschriften beginnen mit den Worten „Hier wohnte“, dann folgen die Angaben:
Bei der Verlegung der Stolpersteine würden auch Angehörige und Verwandte der Opfer erwartet, sagte Heiner J. Willen, Vorsitzender der christlich-jüdischen Gesellschaft. Auf diese zehn Stolpersteine sollen jedoch noch zahlreiche weitere folgen, wenn es nach den Initiatoren geht. Das Projekt werde die Gesellschaft wohl mindestens fünf Jahre lang beschäftigen, meint Willen.
Die nächsten Stolpersteine könnten aber frühestens 2016 verlegt werden. Die Stolpersteine werden über Patenschaften finanziert. Paten werden auch für die Pflege der Steine gesucht. Ansprechpartner sind die Gesellschaft und der Geschichtsverein.
Mehr Informationen unter geschichtsverein-goettingen.de und gcjz-goettingen.de
Am Samstag, dem 26. Mai 2012, verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig den ersten Göttinger Stolperstein auf einem Privatgrundstück. Der gemeinsamen Initiative von christlich-jüdischer Gesellschaft und Bonifatiusschule Göttingen ging ein einstimmiger Beschluss der jetzigen Haus- und Eigentümergemeinschaft Bühlstraße 4 voraus, die den Wunsch hatte, an die frühere Bewohnerin und Eigentümerin der Immobilie, Hedwig Steinberg, zu erinnern. Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 10 R 1 der Bonifatiusschule begaben sich auf Spurensuche: Die Klasse widmete dem Thema „Judentum in Stadt und Landkreis Göttingen“ eine ganze Projektwoche, unternahm Exkursionen und Recherchen, besuchte das Duderstädter Stolpersteine-Projekt und fand noch eine hochbetagte Zeitzeugin, die damals zusammen mit dem Ehepaar Steinberg im Haus gewohnt und deren tragisches Ende selbst miterlebt hatte.
HIER WOHNTE
HEDWIG STEINBERG
JG. 1867
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
MINSK
???
Hedwig Steinberg war 1889 mit ihrem Ehemann, dem Rechtsanwalt Hugo Steinberg, nach Göttingen gekommen und wohnte seit 1915 in dem Dreiparteienhaus im unteren Ostviertel. Von dort wurde sie am 21. Juli 1942 deportiert, zunächst, wie viele andere Göttinger Jüdinnen und Juden, in das Sammellager Hannover-Ahlem, dann weiter nach Theresienstadt und Minsk, wo sich ihre Spur verliert. Sie gilt daher als verschollen, was auf dem Stolperstein mit drei eingravierten Fragezeichen angedeutet wird. Der vollständige Text lautet:
Mit seinem Stolperstein-Projekt erinnert Gunter Demnig an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing in den Boden einlässt, in diesem Falle in den Zugang innerhalb der Grundstücksgrenzen. Göttingen ist die 745. Gemeinde, in der ein Stolperstein verlegt wurde. Inzwischen sind es gut 35000 Stolpersteine, von Rotterdam bis in die Ukraine, von Oslo bis nach Rom.
© Text und Fotos: Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Göttingen
Die Gebote sind zumeist Verbote. Tu’s nicht!, sagen sie. Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht falsch Zeugnis reden. Tu’s nicht! Die Gebote, die meisten, sind negativ formuliert.
Bei einem Gebot zumindest ist das auffallend anders, bei dem Erinnerungsgebot. – Das ist keines der Zehn Gebote aus dem 2. oder 5. Buch Mose. Das ist eines, das einem in der Bibel, der jüdischen Bibel, unserem Alten Testament, immer wieder begegnet: das Erinnerungsgebot. Es besteht nur aus einem einzigen Wort: Gedenke! oder – im Deutschen sind´s dann zwei Worte - Erinnere dich!
Elefantengedächtnis. Ich weiß nicht, ob es das wirklich gibt. Jedenfalls – der Begriff sagt: Elefanten vergessen nicht. Menschen schon. Zu ihrem Leidwesen. Manchmal auch zu ihrem Glück; wenn sie Belastendes nicht mehr länger mitschleppen müssen, endlich vergessen können.
Gedenke! Erinnere dich! – Wie lange? Wie lange muss ich mich erinnern – als Deutscher, als Christ – an das, was Juden von Christen, von Deutschen angetan worden ist. Wie lange? – Fluch oder Gnade des Vergessens. – Wie lange müssen wir gedenken? Und wie gedenken? Erinnerung ist heikel.
Stichwort – das stand oft genug im Göttinger Tageblatt – Stolpersteine.
Die ersten sind gelegt, hier St. Johannis ganz nahe: für die Familie Katz in der Groner Straße, für die Familie Asser im Papendiek. Aber einfach war‘s nicht.
Erinnerung darf wohl – manchmal muss sie auch! – schmerzend sein, aber andere verletzen soll sie nicht. Und manche Juden fühlten sich durch die bloße Vorstellung von Stolpersteinen schon verletzt, Frau Tichauer vor allen: Durch diese Steine würden die Namen derer, an die erinnert werden sollte, mit Füßen getreten.
Deswegen der Göttinger Kompromiss: nur für diejenigen im Dritten Reich verfolgten Göttinger Juden wird ein Stolperstein gesetzt, deren Angehörige sich damit ausdrücklich einverstanden erklärt haben.
Gut. Aber zum Beispiel Georg Meyerstein. Aus seiner Familie hat keiner überlebt. Kann dann auch keiner mehr sein Einverständnis geben für einen Stolperstein mit seinem Namen? Fällt er der Vergessenheit anheim?
Gedenke! Einmal im Jahr erinnern sich die Christen – z.B. die, die am 11. Sonntag nach Pfingsten in die Kirche gehen – an ihr Verhältnis zu den Juden. Das ist schwierig. Schon zu denken schwierig. Denn – vielleicht haben Sie Paulus noch im Ohr (Epistellesung: Römerbrief, Kapitel 11) – sind die Juden nicht das auserwählte Volk? Oder waren sie es nur? Sind seit Christus die Christen die Erwählten – und die Juden als Gottes Volk enterbt?
Das Verhältnis von Juden und Christen. Schon das zu denken ist schwierig. Aber auf dem Hintergrund der Geschichte, die wir haben, ist das noch viel schwieriger! Juden und Christen in Deutschland – gedenke! Erinnere dich!
Wir haben das einmal versucht; ist schon über zwanzig Jahre her: Goldene Konfirmanden, Geburtsjahr 1926/7, haben sich erinnert, wie das war in Göttingen 1938/9 zwischen Juden und Christen. Welche Lieder sie damals, damals noch Kinder, gesungen haben, welche Spottverse:
Jude, Jude Itzenbiel / wohnte früher Stumpfebiel
weil ihn so die Christen hassen, zog er in´ Pandektengassen.
Pöff, pöff, pöff, da kommt ein Kinderwagen
pöff, pöff, pöff mit einem Jud´ beladen.
Pöff, pöff, pöff – wo will der Jude hin?
Er will wohl nach Jerusalem, wo alle Juden sind.
Schmeißt sie raus, die ganze Judenbande,
schmeißt sie raus aus unserm Vaterlande!
Schickt sie alle nach Jerusalem.
Hackt se beede Beene spitz,
sonst komm‘se wieder ‘rin!
Und (gesungen):
Sie ziehn dahin, daher,
sie ziehn durchs Rote Meer.
Die Wellen schlagen zu,
die Welt hat Ruh.
Frau Thiel, geb. Müller, konnte sich erinnern, wie sie zwei Tage nach dem Brand der Synagoge noch einmal nach Schulschluss dahin gegangen waren: „Die qualmte immer noch.“ Die Familie ihrer Klassenkameradin Lissy, die Assers – nachdem sie vorher in der Weender Straße, dann im Papendiek gewohnt hatten – waren schließlich in der Masch, im Gebäude der Synagoge untergekommen, hatten nun keine Wohnung mehr.
„Warum kommst du so spät?“ hatte Mutter Müller ihre Tochter gefragt. „Wir sind noch einmal bei Lissys Haus vorbeigegangen.“ – Da hatte sie sich eine Ohrfeige eingefangen, die einzige – jedenfalls die einzige, an die sie sich erinnern könne. „Unglück anderer ist nichts zum Angucken!“ hatte die Mutter zur Begründung gesagt.
Als am 17. März dieses Jahres für die Familie Asser die Stolpersteine gesetzt wurden, war von Lissys Klassenkameradinnen nur noch Erika Mischke dabei. Sie ist wohl die letzte noch Lebende.
Kann man Erinnerung vererben? Oder wird sie sozusagen natürlich gelöscht, wenn die Zeitzeugen sterben? – Eingetaucht in den Strom des Vergessens? – Und wenn – ist das gut so?
Die Griechen, die alten Griechen, waren der Meinung: Ja! In Athen – nach den Gräueln des Peloponnesischen Krieges – hat man das sogar von Staats wegen angeordnet: an Schlimmes, an vergangenes Unrecht durfte nicht mehr erinnert werden. Die Regierenden in Athen sahen sonst Zusammenleben und Zukunft gefährdet: nicht mehr davon reden, nicht mehr erinnern, Vergangenes vergangen sein lassen!
Liebe Gemeinde, das ist ernsthaft zu überlegen. – Aber ich ticke da eher jüdisch: Gedenken, meine ich, tut gut; auch wenn es wehtut. Erinnerung ist manchmal eine bittere Medizin; aber sie kann heilen helfen. Erinnerung ist der Boden, auf dem Hass wachsen kann, ja. Aber auch Frieden.
„Gebt einander ein Zeichen des Friedens!“ heißt es bei der Feier des Abendmahls. Und das tun wir dann. „Solches tut“, hat Jesus gesagt, „solches tut zu meinem Gedächtnis!“
Gedächtnis, sein Gedächtnis macht Frieden möglich. Amen.