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Serie: Jüdisches Leben in Göttingen, Teil 3
Historiker Peter Aufgebauer über jüdisches Leben in der Universitätsstadt Göttingen

Ein ganzes Jahr beschäftigen sich Menschen mit dem Thema „1700 Jahre jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands“. Der Historiker Peter Aufgebauer schreibt über die Geschichte der Juden in der Universitätsstadt Göttingen.


Dr. Holger Berwinkel, Leiter des Unversitätsarchivs, zeigt die Promotionsurkunde des ersten jüdischen Studenten der Georg-August-Universität Göttingen, die im Universitätsarchiv der Alten Universitätsbibliothek (SUB) aufbewahrt Foto: Christine Hinzmann

Göttingen. Im frühen 18. Jahrhundert durchlief Göttingen eine geradezu stürmische Entwicklung: Innerhalb von 30 Jahren, von 1700 bis in die Gründungsphase der Universität um 1730, wuchs die Einwohnerschaft rapide an, von rund 3500 auf über 8500 Bewohner, mehr als das Doppelte in nur einer Generation. Rund zweihundert Häuser wurden in diesen 30 Jahren neu gebaut. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Universität dann etwa 800 Studenten, ein Zehntel der Bevölkerung; im Umfeld der Universität hatten sich spezifsche Gewerbe wie Druckereien, Papierfabrikanten, Buchbindereien niedergelassen. Handwerksgesellen und Dienstpersonal prägten neben den Studenten das Erscheinungsbild der Stadt.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hielten sich durchschnittlich zehn „vergleitete“ – mit befristetem Geleitsbrief der Regierung versehene – jüdische Familien ständig in der Stadt auf. Als Synagoge nutzten sie ein Hintergebäude an der Buchstraße, heute Prinzenstraße, auf dem Grundstück der späteren Commerzbank. Als Friedhof konnten sie ein Areal außerhalb der Stadt an der heutigen Kasseler Landstraße kaufen, das hinter der Gerichtslinde in Nachbarschaft des Galgens lag. Durch Zukäufe im Lauf der Jahrhunderte mehrfach erweitert, befindet sich noch heute hier der Friedhof der jüdischen Gemeinde. Wegen mangelnder Standsicherheit vieler älterer Grabsteine ist er seit Jahren geschlossen und wird derzeit abschnittsweise saniert.

Zu den „vergleiteten“ Juden kam eine unterschiedlich große, offenbar aber zahlenmäßig beachtliche Gruppe von Juden aus den umliegenden adligen Gerichten und dem hessischen Amt Bovenden hinzu, die sich wegen der hiesigen restriktiven Vergleitungspraxis im stadtnahen Umland niedergelassen hatten, aber zumeist hier in der Stadt ihren Geschäften nachgingen.

Die jüdischen Einwohner einer Mittelstadt wie Göttingen, einer Universitätsstadt zumal, waren keineswegs eine in sich homogene gesellschaftliche Gruppe. Es gab eine kleine Anzahl vermögender Kaufeute; sie verfügten zumeist über weitreichende Geschäftsverbindungen und sind beispielsweise über Jahre oder Jahrzehnte hinweg als Besucher der Leipziger Messe nachzuweisen.

Jüdische Spezialberufe

Daneben sind Juden vereinzelt in Spezialberufen anzutreffen: Goldsticker, Pergamentmacher, Petschierstecher und Graveure; ferner Daneben sind Juden vereinzelt in Spezialberufen anzutrefen: gab es zeitweise einen jüdischen Lotterieeinnehmer und einen Universitäts-Zahnoperateur.

Nur drei Juden trieben um die Mitte des 18. Jahrhunderts Handel mit Waren des gehobenen Bedarfs (Seidenwaren, Kaffee, Zucker); ein einziger handelte „en gros“ mit Leder. Bei den allermeisten ist „Pfandgeschäft und normaler Handel“ beziehungsweise „Wechsel“, des Öfteren auch Handel mit Altwaren vermerkt. Vom Zunftwesen und damit den meisten Bereichen der städtischen Wirtschaft blieben die Juden bis ins 19. Jahrhundert ausgeschlossen. Neben wenigen „innerjüdischen“ Berufen wie Rabbiner, Schulmeister, Gemeindediener, Schächter, gelegentlich einem Arzt und den genannten wenigen Spezialberufen am Universitätsstandort blieb für die Mehrheit allein die Geldleihe gegen Zins oder Pfänder.

Geschäfte mit Studenten

Unter den Studenten wollten häufig die aus adligen oder großbürgerlichen Familien auf den gewohnten Lebensstandard nicht verzichten, wozu offenbar nicht selten auch Ausgaben für Luxuswaren wie Tabak, seidene Strümpfe oder Schmuck gehörten, aber auch für Glücksspiel und Liebschaften – offenbar ein lukratives Geschäft für jüdische Geldleiher und Händler. Als Ferdinand Freiherr von Grote aus Hannover, seit dem Wintersemester 1779/80 Student der Jurisprudenz an der Georgia Augusta nach mehrjährigem Aufenthalt von der Universität abging, löste dies wenig später einen weitreichenden Skandal aus. Er hinterließ nämlich Schulden in Höhe von 19 000 Talern. Ein neu berufener Göttinger Professor bezog damals ein durchschnittliches jährliches Grundgehalt von 500 Talern. Der junge Freiherr hätte sich also sieben Jahre lang fünf Professoren halten können. Das hatte er freilich nicht getan, sondern sein beziehungsweise seiner Familie Geld mit Glücksspiel, Liebschaften, Landpartien, Banketten und dem Kauf von Galanterie- und Luxuswaren durchgebracht. Die jüdischen Geldleiher, die mit ihm Geschäfte gemacht hatten, mussten die Stadt verlassen, und die Regierung verbot, künftig überhaupt an Studenten Geld auf Pfand oder gegen Zins zu leihen oder ihnen Waren „auf die Stube“ zu bringen.

„Betteljuden“

Neben den mit Geleitsbrief zugelassenen jüdischen Familien gab es eine zunehmende Anzahl vagierender, nirgendwo vergleiteter sogenannter „Betteljuden“: besitz- und heimatlos, illegal das Land durchstreifend, von jeder Obrigkeit verfolgt, mitunter aus dem Zwang zur Selbsterhaltung in regelrechten Räuberbanden organisiert.

Das zeitgenössische Bild prägten neben den jüdischen Händlern und Kaufeuten vor allem solche „Betteljuden“. Immer wieder ergingen jeweils nach wenigen Jahren landesherrliche Verordnungen „wegen der Bettel=Juden“, die zeigen, wie aktuell das Problem der jüdischen Unterschicht über Jahrzehnte blieb.

Zugleich offenbart sich hier ein Dilemma der Obrigkeit, das man unter das Motto „Wissenschaft und Lumpen“ stellen könnte. Denn vielfach betrieben – neben konzessionierten nichtjüdischen Lumpenhändlern – die durch die Länder wandernden Betteljuden einen weitverzweigten Handel mit Altkleidern und Lumpen. Und diese bildeten bis in das 19. Jahrhundert den hauptsächlichen Rohstoff für die gesamte Papierherstellung, somit auch für die Buch- und Zeitschriftenproduktion, ein entscheidender Wirtschaftsfaktor gerade in der Universitätsstadt. Im Jahre 1788 wurde sogar ein landesweites Ausfuhrverbot für Lumpen und die zur Leimherstellung benötigten Schafsfüße angeordnet, um den Papierbedarf decken zu können. Andererseits freilich wurden durch die oft mit Erregern infzierten Lumpen nicht selten auch Krankheiten verbreitet.

Die Taufe als Ausweg

Um der elenden Lage, der rechtlichen Unsicherheit, den berufichen Einschränkungen und Zurücksetzungen, der Verfolgung oder gar Vertreibung zu entgehen, gab es ein einziges Mittel: die christliche Taufe. So ließ sich 1770 der Schulmeister und Schächter der Göttinger Judengemeinde, Hirschel Marcus, in St. Johannis taufen; Stadt und Universität überreichten je ein Geldgeschenk, Hirschel Marcus erhielt die Taufnamen Christian Philipp und als neuen Familiennamen „Göttinger“ – den Namen der Stadt.

Zwei Jahre später ließen sich Isaac Mendel, seine Frau Rahel und die Tochter Rebecca in St. Nikolai taufen, auch sie erhielten ein Taufgeschenk des Magistrats und neue Namen: Isaac Mendel hieß fortan Stephan Georg und mit Familiennamen „Nicolai“ – der Name der Taufkirche; seine Frau Rahel hieß künftig Johanna Friderica, die Tochter Rebecca erhielt die Vornamen Johanna Juliana Sophia. Die Konversion bedeutete Aufgabe der bisherigen familiären und sozialen Bindungen, Aufgabe aller Erbansprüche, Aufgabe der eigenen Identität und das Überstülpen einer neuen, künstlichen. Trotz eines erheblichen sozialen Drucks blieben solche Konversionen in Göttingen selten.

Jüdische Studenten

Die Georgia Augusta war nach dem Vorbild von Halle bewusst als Universität der Aufklärung ins Leben gerufen worden; dies bedeutete eine weitgehende Freiheit der Lehre, keine Zensur für wissenschaftliche Publikationen, kein Aufsichtsrecht der theologischen Fakultät über die anderen Fakultäten, Zulassung von Juden zum Studium und – erstmals an einer deutschen Universität – auch zur Promotion.

So sind bereits in den ersten Jahren mehr als 40 jüdische Studenten in den Matrikeln nachzuweisen; als erster schrieb sich am 2. Juni 1735 unter der Nr. 300 Benjamin Wolf Ginzburg mit dem erläuternden Zusatz „polnischer Jude“ in der medizinischen Fakultät ein. Er war auch der erste Jude, der in Göttingen promoviert wurde, mit einer Arbeit über „Talmudische Medizin“. Danach kehrte er nach Polen zurück, wo er als Arzt und talmudischer Gelehrter bekannt wurde.

Auch Söhne aus vergleiteten Göttinger jüdischen Familien bezogen bald die Universität, so der 1772 geborene Josef Gumprecht, dessen Bildungsgang im Einzelnen bekannt ist: Nach der Bar Mizwa mit 13 Jahren, trat er in das Lyzeum, die obere Abteilung des Gymnasiums ein, welche auf den Universitätsbesuch vorbereitete. Er wurde unter anderem in den Sprachen Latein, Französisch, Griechisch und Englisch unterrichtet und begann noch während der Lyzeumszeit im Alter von 15 Jahren, Veranstaltungen der Universität zu besuchen; mit 18 Jahren immatrikulierte er sich in der medizinischen Fakultät, wo er sich schließlich besonders der Chirurgie widmete. Mit einer Dissertation über die chirurgische Behandlung von Lungenabszessen wurde er drei Jahre später promoviert. Er war der erste Jude, der auch als Privatdozent zugelassen wurde. Gumprecht lehrte von 1799 bis 1806 an der Universität – ohne Gehalt, allein auf Hörergelder angewiesen. Wie sein Bruder Isaak Jacob Gumprecht, der hier ebenfalls Medizin studiert hatte, praktizierte er später als Arzt in Hamburg.

Ein jüngerer Bruder der beiden Gumprechts, Aron Jacob, studierte Jura und wurde mit einer Dissertation über das „Landfolgerecht“ als erster Jude in Deutschland zum Dr. iuris utriusque promoviert. Da ihm als Jude eine juristische Laufbahn verwehrt war, machte er schließlich in Frankfurt als „Fabrikant“ mit englischen Tuchen eine wirtschaftliche Karriere. Als prominentes Mitglied der Frankfurter jüdischen Gemeinde und der örtlichen Loge zählte er schließlich zu den bekannten jüdischen Persönlichkeiten der Stadt, und die Gemeinde entsandte ihn als Beobachter zum Wiener Kongress.

Jüdische Professoren als Ausnahme

Die Universität ermöglichte den Juden zwar von Beginn an eine wissenschaftliche Qualifkation, aber der Zugang zu einer Professur blieb ihnen noch lange Zeit verschlossen. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Vorbehalte gegen die Anstellung jüdischer Professoren allmählich aufgegeben, erstmals im Revolutionsjahr 1848 zugunsten des Mathematikers Moritz Abraham Stern (1807-1894), Schüler von Carl Friedrich Gauss. Jahrzehntelang konnte er die Lehrerlaubnis für Mathematik nur als „Privatdozent“ ausüben, allein auf Hörergelder angewiesen, und er lebte in dürftigsten Verhältnissen. Schließlich konnte ihm Gauss zu einer „angestellten Professur“ verhelfen, aber erst 1859, in seinem 30. Dozentenjahr, erhielt er den Titel eines ordentlichen Professors; Moritz Abraham Stern war der erste nicht getaufte Jude, der an der Universität in eine solche Position gelangte.

Diejenigen jüdischen Studenten, denen es mit dem Bekenntnis zum Judentum ernst war, wurden auf Zeit Mitglieder der hiesigen jüdischen Gemeinde, und im identitätsstiftenden Gemeindeverbund konnten sie dem Assimilationsdruck der nichtjüdischen Umgebung standhalten – wenn sie bereit waren, ihrem Glauben zuliebe auf eine wissenschaftliche Karriere zu verzichten. Die christliche Taufe war nicht nur, wie für Heinrich Heine, „das Entréebillett in die europäische Kultur“, sondern die Voraussetzung für jegliche gesellschaftliche Anerkennung – bis weit in die Epoche der sogenannten Emanzipation hinein.

Diese Emanzipation begann im Königreich Hannover mit einem Gesetz aus dem Revolutionsjahr 1848. Es formulierte im Paragrafen 6 die volle rechtliche Gleichstellung: „Jeder Landeseinwohner genießt völlige Glaubens- und Gewissensfreiheit und ist zu Religionsausübungen mit den Seinigen in seinem Hause berechtigt. Die Ausübung der politischen und bürgerlichen Rechte ist von dem Glaubensbekenntnisse unabhängig.“

Aber nicht selten wurden auch wissenschaftlich bedeutende jüdische Gelehrte, selbst wenn sie sich hatten taufen lassen, weiterhin mit antijüdischen Vorurteilen und Vorbehalten konfrontiert; dies gilt etwa für Theodor Benfey aus Nörten-Hardenberg, international berühmt und vielfach ausgezeichnet für seine Erforschung des Sanskrit. Er hatte sich 1846 mit seiner Frau und seinen Kindern taufen lassen, erhielt aber erst 16 Jahre später endlich die Ernennung zum ordentlichen Professor. Bezeichnend ist, was seine Tochter Meta rückblickend festhielt: „In der kleinen und kleinlichen Stadt, mit ihrer von hochmütig aristokratischem Kastengeist erfüllten Atmosphäre konnte man auch in verhältnismäßig sehr späten Jahren es durchaus nicht über sich gewinnen, in dem bedeutenden und außerhalb der Mauern seiner Vaterstadt entschieden anerkannten Manne etwas anderes zu sehen als den Sohn des kleinen jüdischen Kaufmanns.“

Info: Peter Aufgebauer ist ein Göttinger Historiker. Bis 2013 war er Professor am Institut für Historische Landesforschung. Seit seiner Emeritierung ist Aufgebauer Vorsitzender des „Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung“.