Ein ganzes Jahr beschäftigen sich Menschen mit dem Thema „1700 Jahre jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands“. Peter Aufgebauer hat über die Geschichte der Juden in Deutschland recherchiert – nachzulesen im Tageblatt.
Die Göttinger Jüdenstraße am Eingang zur Speckstraße, in diesem Bereich der Altstadt gab es zwei Synagogen.
Foto: Christine Hinzmann
Göttingen. Im Themenjahr „1700 Jahre jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands“ wird in zahlreichen Städten an die jeweilige jüdische Geschichte erinnert. Das Göttinger Tageblatt berichtet in loser Folge über die jüdische Vergangenheit unserer Stadt.
In der großen Pestepidemie des Mittelalters, dem „Schwarzen Tod“ von 1348 bis 1350, wurde ein Drittel der Bevölkerung Europas hingerafft, und es kam zu Judenverfolgungen und Judenmorden in großem Umfang. Die Ursachen der Epidemie waren unbekannt, und rasch verbreiteten sich Gerüchte, dass Juden durch Brunnenvergiftung gezielt die Pest verbreiteten. Ende des Jahre 1350 war auch die Göttinger Gemeinde, die in der „Jüdenstraße“ eine Synagoge unterhalten hatte, gewaltsam ausgelöscht.
20 Jahre später aber konnte sich eine neue Gemeinde bilden, nun aber unter dem Schutz des Rates, der mittlerweile die wichtigsten herzoglichen Rechte in die Hand bekommen hatte. Die Juden blieben wegen des kirchlichen Zinsverbots weiterhin unentbehrlich für die städtische Wirtschaft, und es lag im Interesse der Städte, in ihren Mauern einige fnanzkräftige Juden anzusiedeln.
Aufnahmevertrag mit dem Rat
Mit den Mitgliedern der zweiten mittelalterlichen jüdischen Gemeinde schloss der Rat im Jahre 1370 einen Aufnahmevertrag. Er enthielt sowohl Vergünstigungen als auch Beschränkungen und bildete den Rahmen des fortan hier am Ort geltenden „Judenrechts“. Der Vertrag wurde in die Statuten aufgenommen und war so Bestandteil des schriftlich fixierten und damit auch einklagbaren Stadtrechts. Interessant ist die Beobachtung, dass jetzt nicht mehr das Lateinische als Rechtssprache benutzt wurde, sondern das in Göttingen wie in Norddeutschland und im gesamten Hansegebiet gesprochene Mittelniederdeutsch.
Auf die Datumsformel folgt die Nennung des Rates als Aussteller der Urkunde: „Na godes bort unses heren dusent drehundert jar in deme seventigesten jare, des neisten fridages na unser leven fruwen lechtmissen, is de rad overkomen mit den joden, alse hiir na gescreven steit.“ Auf Hochdeutsch: „Nach der Geburt unseres Herren tausend dreihundert Jahre im siebzigsten Jahr am Freitag nach Mariä Lichtmess [8. Februar] ist der Rat mit den Juden so übereingekommen, wie es hier geschrieben steht.“
Die einzelnen Bestimmungen lauten:
1. Die Juden stehen wie alle Bewohner der Stadt unter dem Schutz des
Rates.
2. Sie werden an den allgemeinen Bürgerpfichten beteiligt
(Wachdienst, Befestigungsarbeiten an Wall und Graben); im Falle eines
Angriffs auf die Stadt ist ihnen ein bestimmter Abschnitt der Stadtmauer zur Verteidigung zugewiesen.
3. Rechtsstreitigkeiten zwischen
den Juden und christlichen Bürgern werden nach Stadtrecht beigelegt.
Berufungsinstanzen sind allein das herzogliche oder das Ratsgericht.
4. Gemäß einer rund 100 Jahre alten Bestimmung dürfen sie auch
möglicherweise gestohlenes Gut zu Pfand nehmen, wenn dieses
Geschäft öffentlich und im Beisein von Zeugen abgeschlossen wird.
Werden ihnen gestohlene Pferde, Kühe oder anderes Vieh zu Pfand
gegeben, dann sollen sie auch dieses Geschäft nur in Gegenwart von
christlichen oder jüdischen Zeugen abschließen.
5. Messgewänder, Messbücher oder Kelche sollen sie nur dann zu Pfand nehmen, wenn sie
diese vom Pfarrer oder anderen, für ihre Frömmigkeit bekannten Leute
erhalten.
6. Der Zinssatz ist für Geschäfte mit Göttinger Einwohnern
auf wöchentlich 6 Pfennige von der Mark (1,04 Prozent wöchentlich)
festgesetzt. Bei Geschäften mit Auswärtigen ist ihnen freigestellt, den
Zinssatz so hoch anzusetzen, wie sie es vermögen.
7. Bei gerichtlichen Verhandlungen gelten der jüdische Eid und der Eid eines Bürgers gleich
viel.
Dieser 1370 vereinbarte rechtliche Rahmen ermöglichte die Neugründung einer jüdischen Gemeinde von durchschnittlich elf bis 14 Familien beziehungsweise Haushalten, schätzungsweise etwa 100 Personen, was 1,5 Prozent der Stadtbevölkerung entsprach. In diesen Familien war weiterhin die Geld- und Pfandleihe der vorherrschende Erwerbszweig – notgedrungen, einerseits wegen des kirchlichen Zinsverbots, andererseits wegen der Zünfte als christlicher Zusammenschlüsse, zu denen Juden nicht zugelassen waren. Als Gegenstände, die bei den Göttinger Juden versetzt wurden, sind überliefert: goldene Ringe, Spangen und Armreife sowie anderes Geschmeide und Schmuck, Waffen und Waffenteile, ferner Kessel, graue und braune Mäntel und Beinkleider, Schuhe und rote Frauenröcke. Wer rasch Bargeld benötigte, brachte also wertvollen Schmuck, wie ihn vielleicht reiche Kaufeute besaßen, zum jüdischen Pfandleiher, aber in der Hauptsache waren es doch eher alltägliche Gegenstände und Kleidungsstücke, die zu Pfand gegeben wurden, so dass offenbar jedermann in die Lage kommen konnte, etwas verpfänden zu müssen.
Pfandgeschäfte mit Göttinger Juden
Gelegentlich haben auch die fürstlichen Landesherren und ihre adlige Begleitung Pfandgeschäfte mit Göttinger Juden abgeschlossen beziehungsweise abschließen müssen. So versetzten Herzog Friedrich Wilhelm d. J. von Braunschweig-Lüneburg und Graf Kurt von Honstein beim Juden Nachman eine silberne Kette, ein silbernes Halsband und drei goldene Sporen.
Nicht eingelöste Pfänder durften nach Jahr und Tag von den Juden verkauft werden, wodurch sie zu Gebrauchtwarenhändlern mit breitem Sortiment wurden. Andere Berufe als die Geldleihe und den Pfandhandel übten die Bediensteten der jüdischen Gemeinde aus. An der Spitze der Gemeinde standen vier gewählte Repräsentanten. Außerdem gab es einen Rabbiner und einen Synagogendiener. Zeitweise gab es hier auch einen jüdischen Arzt namens Hedesem. Gemeindevorsteher und Synagogendiener deuten darauf hin, dass auch diese zweite Gemeinde eine Synagoge besaß. Sie lag in der Speckstraße, also in unmittelbarer Nachbarschaft der Jüdenstraße – beide bildeten in der Hauptsache das jüdische Wohnquartier.
Die Bedeutung der Juden für das städtische Pfand- und Kreditwesen war ein Grund, weshalb sie hier aufgenommen und geschützt wurden. Ein anderer Grund lag darin, dass man in ihnen ein begehrtes Steuerobjekt sah: An den städtischen Rat zahlten die Juden pro Haushalt ein jährliches Schutzgeld, außerdem eine jährliche Vermögenssteuer sowie Steuern bei besonderen Anlässen wie Hochzeit, Todesfall oder Wegzug. Außerdem hatten sie eine Vermögenssteuer an den König, Schutzgelder an den Landesherren und Sondersteuern aus besonderem Anlass, ebenfalls an den Landesherren, zu zahlen. Insgesamt ergibt sich, dass ein jüdischer Haushalt durchschnittlich sechsmal so hoch mit Steuern und Abgaben belastet war wie ein bürgerlicher.
Simple Erpressung
Gelegentlich griff der Göttinger Rat auch zu einer simplen Erpressung: Im August 1395 setzte er den Juden eine Frist von vier Wochen, die Stadt zu verlassen, wenn sie sich nicht zu höheren Abgaben bereit erklärten. Als einige der vermögenderen Juden in höhere Zahlungen einwilligten, nahm der Rat die Aufkündigung zurück. Dieser finanzielle Druck zwang die Juden zu erhöhter Mobilität. Durchschnittlich hielten sich die jüdischen Familien nur sieben bis acht Jahre hier auf, um dann Orte mit besseren Konditionen zu suchen. Hinzu kamen zunehmend auch judenfeindliche Aktionen und Gebräuche in der Bürgerschaft: Im Jahre 1447 wurde vor dem Göttinger Rat zwischen den Juden und den Handwerksgesellen Folgendes vereinbart: Die Gesellen versprechen, in Zukunft nicht mehr, wie bisher üblich, am Heiligabend und am Rosenmontag mit „Piepern und Basunern“, mit Pfeifern und Posaunenbläsern, durch die Häuser der Juden und durch die Synagoge zu ziehen und so die Juden zu verspotten. Als Gegenleistung hatte jeder Jude jährlich eineinhalb Stübchen Wein (etwa 4,7 Liter) an die Gesellen zu zahlen.
Diese Art von Brauchtum, dass die Juden bei bestimmten Anlässen oder bestimmten Kirchenfesten regelmäßig drangsaliert werden, ist im Spätmittelalter eine sehr häufge Erscheinung. Dieses Göttinger Beispiel zeigt sicherlich eine Art von Schutzmaßnahme des Rates, und man darf annehmen, dass nicht nur die Gesellen von den Juden Geld erhalten haben, sondern dass sich auch der Rat den durch ihn zustande gebrachten Vergleich teuer hat bezahlen lassen.
Wirtschaftlich entbehrlich
Neben solchen judenfeindlichen Aktionen und Gebräuchen führte auch die wachsende Fähigkeit der christlichen Kaufeute, vor allem über Rentengeschäfte einen eigenen Kreditmarkt aufzubauen, dazu, dass die Juden nicht nur zunehmend unbeliebt, sondern dass sie auch wirtschaftlich entbehrlich wurden. „Man bedarf keiner Juden mehr, es gibt genug Andere, die wuchern können“, lautet eine Devise des 15. Jahrhunderts. Die Juden, die das sich entfaltende Städtewesen des 13. und 14. Jahrhunderts als Kreditgeber unbedingt brauchte, waren im 15. Jahrhundert weitgehend ökonomisch ersetzbar geworden. Und so wurden dann auslaufende Schutzverträge nicht mehr verlängert und neue nicht mehr abgeschlossen.
Auf diese Weise fanden im Verlauf des 15. Jahrhunderts die meisten Judengemeinden des Deutschen Reiches, auch die niedersächsischen, ein Ende. Seit 1457 war die mittelalterliche Geschichte der Juden in Hildesheim beendet, seit 1460 in Göttingen, 1485 wurden die Helmstedter Juden ausgewiesen, die Braunschweiger erlitten 1510 eine Vertreibung, in Osnabrück gab es bereits seit 1426 keine Juden mehr.
Und diesmal dauerte es in Göttingen ein rundes Jahrhundert, bis 1559 wieder ein Jude namens Smol (Samuel) vom Rat in der Stadt aufgenommen wurde und für sich und seine Angehörigen einen Schutzbrief erhielt. Mit diesem Schutzvertrag stellte sich der Rat selbstbewusst gegen eine landesweite Verfügung der welfschen Herzöge Erich II. von 1553 und Heinrich des Jüngeren von 1557, die in den welfschen Gebieten überhaupt keine Juden mehr dulden wollten. Eine lebendige jüdische Gemeinde konnte sich unter diesen Bedingungen in Göttingen lange Zeit nicht etablieren. Erst die Zeit der Aufklärung und die unter ihrem Vorzeichen 1737 gegründete Georg-August-Universität, an der von Beginn an auch Juden studieren durften, schuf günstige Bedingungen für die Entstehung einer neuen jüdischen Gemeinde.
Info: Peter Aufgebauer ist ein Göttinger Historiker. Bis 2013 war er Professor am Institut für Historische Landesforschung. Seit seiner Emeritierung ist Aufgebauer Vorsitzender des „Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung“.