Fotos: Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Göttingen sofern nicht anders bezeichnet
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, sehr geehrte Gäste!
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Dieser Satz aus dem jüdischen Talmud leitet unser Stolpersteinprojekt in Göttingen. Vor elf Jahren wurde auf einem Privatgrundstück der erste Stein verlegt und mit dem heutigen Tag werden es 97 Steine sein, die an die Namen der Menschen erinnern, die einmal mitten unter uns in Göttingen gelebt haben. Zu dieser 8. Stolpersteinverlegung darf ich Sie nun auch im Namen der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ganz herzlich willkommen heißen.
Wie Sie wissen, gab es bei uns in Göttingen nicht nur Zustimmung, sondern auch starken Protest gegen dieses Projekt. Es waren jüdische und nichtjüdische Menschen, die nicht zulassen wollten, dass die Namen der Opfer erneut mit Füßen getreten würden. Dass Menschen mitten im Alltag auf ihrem Weg durch die Stadt plötzlich innehalten und sich vorbeugen, ja verbeugen, um die Namen auf den Steinen zu lesen, überzeugte sie nicht als Argument für diese Art der Erinnerungskultur. In Göttingen wurde nach jahrelangen Diskussionen ein Kompromiss gefunden, der uns erlaubt, Stolpersteine zu verlegen, sofern die Nachkommen der betreffenden Personen ihre Zustimmung dazu geben. Da es aber nicht bei jeder jüdischen Familie Überlebende gegeben hat, deren Nachkommen heute für uns auffindbar wären, ist die Zahl der Stolpersteine in Göttingen deutlich geringer als in anderen Städten. In Braunschweig beispielsweise gibt es über 400 Steine, während wir erst im nächsten Jahr die Zahl 100 überschreiten werden.
Doch unser Göttinger Kompromiss hat auch etwas Gutes: Aufgrund der geforderten Zustimmung der Nachkommen sind wir bei jeder Stolpersteinverlegung in einen persönlichen Kontakt gekommen mit den Menschen, deren Vorfahren hier unter uns gelebt haben. Gelegentlich wurde eine Stolpersteinverlegung zu einem regelrechten Familientreffen von Menschen, die durch ihre Göttinger Vorfahren miteinander verwandt waren, aber ansonsten in ganz unterschiedlichen Orten oder gar Ländern wohnen. Die Begegnungen mit diesen Menschen gehören für mich zu den beglückenden Erfahrungen mit unserem Göttinger Stolperstein-Projekt.
Und so freue ich mich auch heute sehr darüber, dass wir so viele Mitglieder der Familie Fränkel als Gäste unter uns haben – Frau Krause hat sie vorhin alle namentlich genannt – und heiße Sie sehr herzlich willkommen. Die Nachkommen der Familie Löwenherz, wohnhaft in den USA, in Israel und in der Schweiz, konnten es leider nicht einrichten, zu diesem Termin zu kommen, werden aber unsere Texte und Fotos bekommen, um auf diese Weise Anteil zu nehmen. Dafür sind Mitglieder des Heimat- und Geschichtsvereins sowie der Bürgermeister von Lauenförde anwesend, denn Familie Löwenherz hat bis auf die letzten Göttinger Jahre in dieser kleinen Stadt gelebt. Wir werden nachher mehr dazu hören. Ein herzliches Willkommen auch Ihnen!
Danken möchte ich den Paten und Sponsoren, die finanziell für die Stolpersteine aufkommen: In diesem Jahr ist es Frau Katharina Ochse, die als langjährige Freundin der Familie Fränkel die Patenschaft für deren Stolpersteine übernommen hat, sowie der Rotary Club Göttingen-Süd, der als Sponsor die Steine für Familie Löwenherz finanziert hat.
Mein Dank geht auch an die Historiker und Historikerinnen vom Geschichtsverein Göttingen, die mit ihrem Sachverstand an der Vorbereitung dieser Stolpersteinverlegung mitgewirkt haben, und an das Team der Stadt Göttingen, allen voran an Frau Kalisch, die als Leiterin des Stadtarchivs die Koordination der gemeinsamen Arbeit für diese Verlegung geleistet hat. Zwar sind wir als Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit offiziell federführend, doch ohne die seit Jahren bewährte Zusammenarbeit in der Stolperstein-AG könnten wir die Verlegungen in dieser Form nicht leisten.
Für den musikalischen Beitrag bei dieser 8. Stolpersteinverlegung danke ich dem renommierten Solo-Bratscher Ulrich von Wrochem, der extra aus Frankleben in Sachsen-Anhalt angereist ist, um uns bei dieser feierlichen Eröffnung Musik jüdischer Komponisten zu Gehör zu bringen und ins Herz zu spielen. Mit dem Stück „Monologue“ des Komponisten Ben Zion Orgad, geboren 1926 in Gelsenkirchen, gestorben 2006 in Tel Aviv hat er uns zu Beginn eingestimmt auf diese Eröffnung. Bevor wir uns gleich gemeinsam auf den Weg zur ersten Verlegestelle machen, gibt er uns mit der unvollendeten Suite von Ernest Bloch, geboren 1880 in Genf, gestorben 1959 in New York, die Möglichkeit, nach diesen vielen Worten noch einmal intensiv ins Lauschen zu kommen. Lieber Herr von Wrochem, danke für diese ganz besonderen Klänge!
Begrüßung
sehr geehrte Damen und Herren,
mein Name ist Anja Krause. Ich bin die Kulturdezernentin der Stadt Göttingen und habe heute die Ehre, Sie im Namen der Stadt Göttingen herzlich zur Stolpersteinverlegung zu begrüßen.
Das Kunstprojekt „Stolpersteine“ von Gunter Demnig, der heute leider nicht persönlich anwesend sein kann, gibt es bereits seit 30 Jahren. Die Stolpersteine erinnern an die Opfer der NS-Zeit, indem vor ihren ehemaligen Wohn- oder Arbeitsorten kleine Gedenktafeln aus Messing in den Bürgersteig eingelassen werden. Seit diesem Jahr gibt über 100.000 Stolpersteine in Europa.
Heute werden wir in Kooperation mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. und dem Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e. V. neun Stolpersteine an zwei Orten verlegen. Dies ist eine sehr wertvolle Zusammenarbeit.
Wir beginnen zunächst in der Münchhausenstraße 17. Dort werden fünf Stolpersteine für Familie Fränkel in den Bürgersteig eingelassen. Robert Cooper, ein Urenkel von Hermann Ferdinand Fränkel, und Frau Ochse stellen uns die Familie Fränkel vor.
Anschließend werden im Friedländer Weg 26 vier Stolpersteine für Familie Löwenherz in den Bürgersteig eingelassen. Dort wird uns die Familie durch Fr. Dr. Rhode vorgestellt.
Die Stolpersteine sind ein ganz besonderes Kunstprojekt, denn sie fordern uns heraus, uns zu erinnern – unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu hinterfragen. Wir wollen nicht vergessen, wir wollen und wir müssen die Erinnerung wachhalten!
Wie wichtig es ist, sich an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, insbesondere an die Opfer, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens Opfer des Nationalsozialismus geworden sind, können wir aktuell täglich in den Nachrichten verfolgen. Öffentlich gelebter Antisemitismus ist präsenter denn je. Der grausame Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel hat eine unvorstellbare Eskalation des Nahostkonfliktes hervorgerufen. Unschuldige Zivilisten, wehrlose Bürger*innen, darunter auch Kinder und Säuglinge sind Opfer des brutalen Terrors.
Dieses Handeln verurteilen wir aufs Schärfste. Noch immer sind zahlreiche Geiseln verschleppt und ihr Schicksal ungewiss. Es ist fast nicht möglich, sich die Angst, Not und Verzweiflung der Angehörigen und Freunde vorzustellen.
Dieser Konflikt wird auch in Deutschland ausgetragen. Die Medien zeigen wie ein Teil unserer Bevölkerung antisemitische Äußerungen tätigt, zu Gewalt gegenüber jüdischen Mitbürger*innen aufruft oder diese verherrlicht. Diese Bilder sind unerträglich. Es ist an uns, dem entschieden entgegenzutreten.
Unser Bundeskanzler Olaf Scholz hat bei seinem Besuch in Israel am 17.10.2023 bereits deutlich gemacht: „Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz. Das Verherrlichen, das Feiern von Gewalt ist menschenverachtend, abscheulich. […] Jüdisches Leben in Deutschland ist ein Geschenk. Jüdische Einrichtungen werden wir beschützen.“
Leider scheint dies nicht für alle eine Selbstverständlichkeit zu sein. Umso wichtiger ist es, unsere Vergangenheit aufzuarbeiten, sich die Geschichte bewusst zu machen und anzuerkennen, welche Verantwortung wir auch heute tragen: Dafür zu sorgen, dass die Opfer des NS Regimes nicht vergessen werden, dass wir uns an ihre Namen erinnern.
Die Erinnerung an die Göttinger Opfer des Nationalsozialismus und ihre Ermordung ist zentraler Bestandteil unserer, der Göttinger Erinnerungskultur. Schritt für Schritt arbeiten wir unsere Vergangenheit auf. Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel nennen: 1973 haben wir das Synagogenmahnmal am Platz der Synagoge eingeweiht. Seitdem erinnern wir in jährlichen Gedenkstunden am 9. November an die Zerstörung sowohl der Synagoge als auch etlicher Geschäfte jüdischer Einwohnerinnen und Einwohner in der Reichsprogromnacht von 1938.
Trotz der beängstigenden aktuellen Situation für alle jüdischen Mitbürger*innen fand auch dieses Jahr wieder die Gedenkstunde statt. Denn gerade in diesen Zeiten ist es ein wichtiges Zeichen, dass wir gemeinsam an die deutsche Vergangenheit und unsere aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung erinnern. Es ist in diesen Zeiten besonders wichtig, dass wir zusammenstehen und uns – wann immer es nötig ist – vor unsere jüdischen Mitbürger*innen stellen. Sie sind nicht alleine!
Ich möchte mich nun nochmal sehr herzlich bei allen bedanken, die die heutige Stolpersteinverlegung möglich gemacht haben und die an dieser Verlegung teilnehmen. Wir setzen heute gemeinsam ein Zeichen der Erinnerung und gegen Antisemitismus. Ich freue mich sehr, Sie im Anschluss an die Stolpersteinverlegungen zu einem kleinen Empfang der Stadt Göttingen im Städtischen Museum am Ritterplan einzuladen und weiter in den Austausch zu gehen.
im Namen der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die zusammen mit dem Geschichtsverein und der Stadt Göttingen das Projekt Stolpersteine trägt, begrüße ich Sie herzlich an diesem Ort. Wir stehen hier im Friedländer Weg vor dem Haus, in das Toni Löwenherz mit ihrer Schwiegertocher Florence Löwenherz, geb. Webb und ihren zwei Enkeltöchtern Renate und Vera 1936 eingezogen ist. Dieses Haus war ihr gemeinsamer letzter Wohnort vor ihrer Flucht. Toni floh in den Freitod. Florence und ihre Kinder Renate und Vera konnten durch Flucht nach England und in die USA mit dem Leben davonkommen. Hier verlegen wir heute die Stolpersteine für Toni, Florence, Renate und Vera als sichtbare Zeichen unseres Gedenkens. Wir schließen sie damit mehr als 80 Jahre nach ihrem Ausschluss symbolisch in die Gemeinschaft Göttinger Bürgerinnen und Bürger ein.
Wer waren die Personen, an die wir uns heute erinnern?
Toni Löwenherz liebte Dahlien. Das wissen wir, weil Käthe Kruse sie auf einem Bild mit ihrer Lieblingsdahlie gemalt hat. Und Toni war sicher das, was man in ihrer Zeit eine Frau von Welt genannt hat. Geboren wurde sie 1876, also kurz nach Gründung des Deutschen Kaiserreichs. Sie stammte aus einer wohlhabenden mecklenburger Familie und heiratete einen erfolgreichen Unternehmer aus Lauenförde, Hermann Löwenherz. Hermann war dort zunächst mit Holzhandel und dann einer florierenden Möbelfabrik zu großem Ansehen gelangt. Die spätere herlag – die heute auf die Herstellung von Gartenmöbeln spezialisiert ist-, wird einigen von uns ein Begriff sein. Die Löwenherz waren seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Lauenförde beheimatet. Dort starb Hermann 1916.
Seine Witwe Toni und ihre fünf Kinder bewohnten in Lauenförde auch nach Hermanns Tod eine große, repräsentative Villa im Park. Toni war eine vielseitig interessierte und sozial engagierte Frau. Sie unterhielt eine Freundschaft mit Franz Rosezweig, dem Gründer des Jüdischen Lehrhauses und mit Martin Buber, dem Religionsphilosophen, der u.a. die hebräische Bibel, den Tanach, neu ins Deutsche übersetzt hatte.
Das Haus, vor dem wir stehen, hatte Toni kurz nach dem Tod Hermanns 1917 gekauft. Ihr Sohn Oskar (1900-1956) wirkte nach dem 1. Weltkrieg als eigenständiger Unternehmer in Lauenförde. 1929 heiratete er die amerikanische Schauspielerin Florence Webb (geb. 1900). Die Kinder der beiden Renate und Vera kamen in Göttingen 1929 und 1930 zur Welt.
Aufgrund der politischen Lage entschloss sich Oskar, 1934 von einer Geschäftsreise in die Niederlande nicht nach Lauenförde zurückzukehren. 1938 emigrierte er weiter in die USA. Die Sorge um die damals 58-jährige Toni und die kleinen Kinder übernahm seine Frau Florence, die damals 34 Jahre alt war. Die Familie war damit bereits 1934 nicht mehr vollständig.
Die Entscheidung, Lauenförde 1936 zu verlassen war nicht freiwillig. Sie war erzwungen. Toni zog mit ihrer Schwiegertochter Florence und den Enkelkindern 1936 nach Göttingen, weil Renate und Vera, die damals sechs und sieben Jahre alt waren, als sog. Mischlingen der öffentliche Unterricht in Lauenförde verweigert worden war. Die Villa in Laufenförde wurde beschlagnahmt, die verbliebenen Möbel verkauft und verschleudert, das Vermögen konfisziert.
In Göttingen versuchte die fragmentierte Familie so etwas wie Normalität herzustellen, sich im Ungewissen einzurichten. Die Enkelinnen wurden privat unterrichtet, die Haushälterin, die aus Lauenförde mitgekommen war, sorgte mit für die Familie. Es ist bekannt, dass Toni dieses Haus im Friedländer Weg selten verließ. Wir wissen aber auch, dass sie den Davidstern, der seit September 1941 allen Jüdinnen und Juden aufgezwungen wurde, mit Stolz trug. Die Normalität im Kleinen herzustellen, wurde allerdings immer schwieriger. 1939 konnte Florence in die USA fliehen, den Kindern Renate, die sich nach der Emigration Renée nannte, und Vera gelang 1939 zunächst die Flucht nach England und anschließend in die USA. Die genauen, für die Kinder sicher dramatischen Umstände dieser Flucht sind nicht bekannt.
Für Toni zerbrach die mühsam hergestellte Normalität immer mehr. Seit 1939 ohne familiäres Netz, war sie immer mehr äußerem Druck ausgesetzt. Eine Abordnung aus Lauenförde wollte sie dazu bewegen, die dortigen Wiesengrundstücke an die Gemeinde abzutreten. Schließlich bekam sie 1942 wie alle Göttinger Jüdinnen und Juden die Aufforderung, sich am 26. März an der Sammelstelle am Albanikirchhof zur Deportation einzufinden. Dieser Aufforderung entzog sie sich durch ihren Freitod am 23. März 1942. Ihr Leichnam wurde in Kassel eingeäschert und die Pappurne in Göttingen beigesetzt.
Nach dem Krieg, 1954 setzte ihre Tochter Erna durch, dass die Urne nach Lauenförde, neben Hermann umgebettet werden konnte. Tochter Erna und Schwiegertochter Florence machten nach 1945 zunächst erfolglos Wiedergutmachungsansprüche geltend.
Tonis Sohn Oskar, ihre Schwiegertocher Florence und die Enkelinnen Renate /Renee und Vera legten nach ihrer Ankunft und Einbürgerung in den USA den Namen Löwenherz ab und nahmen Florence‘ Mädchennamen Webb an. Oskar starb 1956 in New York, Renate mit 41 Jahren 1970 ebenfalls dort.
Florence und Vera hatten nach dem Zweiten Weltkrieg die schwere Entscheidung auf sich genommen, sich der Konfrontation mit dem Land, das sie zur Flucht und Emigration gezwungen hatte, zu stellen. Sie nahmen Kontakt zu der Familie auf, die die Villa der Löwenherz in Lauenförde als Motorradhotel wiederaufgebaut und genutzt hatte. Sie reichten der deutschen Nachkriegsgesellschaft damit die Hand. Dafür, wie auch für die Erlaubnis, die Steine zu verlegen, sind wir den Nachkommen der Familie dankbar.
Mit den Stolpersteinen wollen wir dafür sorgen, dass die Erinnerung an Menschen, die Bürger dieser Stadt waren, es aber nicht sein durften, sondern entrechtet, verfolgt und ermordet wurden, nicht verloren geht.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Anwohner und AnwohnerInnen,
Vielen Dank, dass Sie alle hier sind. Heute ist ein sehr wichtiger und besonderer Tag für die Familie Fränkel und ihre Nachfahren. Mein Name ist Robert Cooper, ich bin der Urenkel von Hermann und Lilli Fränkel. Heute bin ich sozusagen der deutschsprachige Vertreter der Nachkommen von Hermann und Lilli. Es ist das erste Mal, dass wir als Familie alle in Göttingen sind, die Stadt, die unsere Vorfahren verlassen mussten. Ich möchte heute über die Menschen sprechen, für die hier vor Münchhausenstraße 27 Stolpersteine verlegt werden.
Die Familie Fränkel hatte 1935 fünf Mitglieder und zwar Hermann (1888-1977), Lilli (1890-1986), und ihre drei Kinder Hans (1916-2003), Edith (1920-2000), und Brigitte (1928-2020). Hermann und Lilli waren beide geborene Fränkel, beide waren jüdische Herkunft, beide sind in Berlin geboren, aber sie haben sich in Göttingen kennengelernt. Lilli wollte ihren Bruder Eduard in einem Studentenwohnheim in Göttingen besuchen. Sie fragte am Eingang einfach nach einem Studenten namens “Fraenkel”, der Altphilologie studierte. Statt Eduard kam Hermann Fränkel zur Tür, eine unerwartete, aber schöne Überraschung für Lilli. Er muss ihr gefallen haben, und sie ihm, weil die beiden 1915 geheiratet haben. Hermann lebte hier in Göttingen als Student zunächste im Nikolausberger Weg 59 (1915), dann in der Oesterleystraße 3 (1920), dann mit der Familie in der Schillerstraße 32 (bis 1935) und ganz zuletzt hier in der Münchhausenstr. 27.
Hermann hat 15 Jahre als Oberassistent der Altphilologie an der Universität Göttingen gelehrt und geforscht. Nach der Machtergreifung an die Nazis 1933 konnte er seinen bis 1935 befristete Stelle behalten, weil er Veteran des Ersten Weltkriegs war. Es war aber schwer vorstellbar, dass man seine Stelle verlängern und ihm einen Lehrstuhl anbieten würde, ganz einfach weil er Jude war. Leider hatte er wirklich keine Zukunft mehr an der Universität Göttingen – in ganz Deutschland nicht. Glücklicherweise schlug ein amerikanischer Altphilologe, der bei Hermann in Deutschland studiert hatte, ihn als Vertretung für eine Professur an der Stanford University in Palo Alto, Kalifornien vor.
Hans, der älteste Sohn meiner Urgroßeltern, erinnerte sich, dass die Familie noch nie von Stanford gehört hatte, und sie konnte die Uni nicht auf einer Landkarte finden. Eine Stadt namens Stanford gibt es auch gar nicht, aber in die USA kennt jeder die Stanford University. Trotzdem war Hermann sehr begeistert von der Idee, nach Kalifornien zu gehen. Im Mai 1935 haben Hermann und Lilli Edith und Brigitte zunächst nach Sussex, England geschickt, damit sie dort die Schule “Beatrice Goode’s School For Girls”besuchen. Edith und Brigitte wurden von einer Freundin der Familie, Käthe Sachs, begleitet. Lilli hatte von 1910-1911 an dieser Schule Deutsch unterrichtet, deswegen kannte die Familie diese Schule schon. Edith und Brigitte haben uns zwei Erinnerungen von der Ausreise aus Deutschland erzählt. Edith erinnerte sich, dass sie kein Geld mitnehmen sollten, aber sie haben etwas Geld in ihren Händen versteckt, und hin- und hergereicht. Brigitte erinnerte sich, dass ein Soldat ihren Teddybär aufgeschnitten und gerissen hat, weil er nach Geld gesucht hat.
Im August 1935 sind Hermann, Lilli, und Hans mit dem Schiff in die USA gefahren und November hat Tante Käthe Edith und Brigitte auch in die USA gebracht. Vor zehn oder so Jahren hatte Brigitte mir eine Perlenkette geschenkt, die Tante Käthe gehört hat. Die Kette erinnert mich an Käthe und daran, wie sie meiner Familie bei der Ausreise geholfen hat.
Am Anfang wohnten Hermann und Lilli in einem Haus auf dem Stanford Campus und danach für 37 Jahre in der Umgebung von Palo Alto, eine halbe Stunde südlich von San Francisco. Lilli hat die kalifornische Sonne geliebt und hat sehr oft im Hausgarten gearbeitet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wollte Hermann nach Deutschland zurückkehren. Er hat sich unter anderem an der Universität Göttingen beworben, aber vergeblich. Die Universitäten Kiel und Freiburg haben ihm in den 50iger Jahren Gastprofessuren angeboten, die er angenommen hat.
Hermanns Freund und junger Kollege an der Freiburg Universität, Horst Ochse, hat ihm geholfen, einen Antrag auf „Wiedergutmachung" zu stellen. Es hat sieben Jahre gedauert, bis der Antrag genehmigt wurde. Mit 69 Jahren erhielt Hermann rückwirkend ab 1950 Versorgungsbezüge vom deutschen Staat, die ihm zugestanden hätten, hätte er ab 1933 die Stelle erhalten, die seiner Qualifikation entsprach. Horsts Tochter Katharina ist heute hier bei uns. Sie hat für die Verlegung eine sehr große Rolle gespielt.
Als Hermann und Lilli älter wurden, sind sie nach Santa Cruz umgezogen, eine Kleinstadt eine Stunde südlich von Palo Alto. Dort lebte ihre Tochter Edith, die sich um sie kümmerte. Ihr Enkel Thomas, mein Vater, erinnerte sich, dass einer von Hermanns Kollegen und Freunden von Stanford regelmäßig auf Besuch gekommen ist. Der Kollege war Engländer und hatte nur einen Arm, weil er den anderen im Ersten Weltkrieg gegen die Deutschen verloren hatte. Diese Besuche gehören zu den Erinnerungen, die mein Vater mit seinem Großvater verbindet.
Hermann und Lillis ältestes Kind, Hans, hatte hier in Göttingen das heutige Max-Planck-Gymnasium besucht. Er war ziemlich sprachbegabt. Er hat an der Stanford und der Berkeley University studiert undals Geheimdienst Offizier während des Zweiten Weltkrieges Deutsch, Spanisch, und Italienisch übersetzt. Hans’ Tochter Emma erinnerte sich, es scheint, als ob Hans immer die Muttersprache jedes Landes sprechen konnte, das die Familie besucht hat.
1947 war Hans nach China gezogen, um westliche Sprachen an der Peking Universität zu unterrichten. An der Uni hat er Chang Ch’ung-Ho kennengelernt, eine chinesische Autorin, Opernsängerin und Malerin. Die beiden haben 1948 geheiratet. Hans sagte, er wäre gerne in China geblieben, aber aufgrund der chinesischen Revolution sind sie in die USA zurück gegangen. Nach der Rückkehr in die USA hat Hans die chinesische Sprache, Dichtung und Literatur an der Yale University in Connecticut unterrichtet. Ch’ung-Ho hat chinesische Kalligraphie an Yale und anderen Universitäten gelehrt und hat chinesische Musik und Tanz allein und zusammen mit ihrer Tochter ausgeführt. Hans und Ch’ung-Ho hatten zwei Kinder, Ian und Emma. Emma ist heute bei uns.
Das mittlere Kind, Edith, hatte hier in Göttingen das Hainberg-Gymnasium besucht. In den USA hat Edith ein Masterstudium in Pädagogik in Chicago absolviert und anschließend an einer Grundschule in einem armen Viertel unterrichtet. Später hat Edith als Lehrerin in einer Schule für Menschen mit geistigen Einschränkungen gearbeitet. Sie spielte gerne Violine und Viola mit Freunden zu Hause und mit besonderen Reisegruppen für Musik. Edith hat auch gerne Theaterstücke geschrieben. Ein zehnminütiges Stück wurde veröffentlicht und wird manchmal von Universitätsstudenten aufgeführt. Sie hat auch Beratung für Familien und Einzelpersonen gemacht. Verheiratet war Edith mit Grosvenor Cooper, dessen Vater William Germanist an der Stanford University war. Grosvenor und Edith haben in Boston, New York, und Chicago gewohnt. In Chicago haben sie 20 Jahre gelebt, wo Grosvenor als Musikprofessor an der University of Chicago lehrte. 1969 ist die Familie nach Santa Cruz, Kalifornien umgezogen, um näher bei Hermann und Lilli zu sein. Dort hatte Grosvenor eine Stelle als Musikprofessor an der University of California Santa Cruz bekommen.
Grosvenor und Edith hatten drei Kinder: Benjamin, Christopher und Thomas. Diese drei Brüder sind alle hier bei der Verlegung. Außerdem Benjamins Sohn Tim, und Thomas’ Kinder Andy, Emily und ich, Robert.
Das jüngste Kind Brigitte war 1935 erst 6 Jahre alt. Auch sie kehrte zeitweilig nach Deutschland zurück. 1975 erwarb sie einen Doktorgrad in Philosophie von der Ludwig-Maximilian Universität. Wie ihr Bruder war Brigitte sehr sprachbegabt. In jedem Land, in das sie mit ihrer Familie zog, hat Brigitte die Sprache gelernt. Einmal hat Brigitte mir gesagt, “es wird einfacher nach fünf Sprachen.” Sie war eine Expertin imStricken und Nähen. Oft hat Brigitte Pullover mit komplizierten Mustern erstellt. Sie war auch eine talentierte Köchin und Bäckerin und ich erinnere mich, dass sie mir einmal leckeres irisches Sodabrot und Erbsensuppe zubereitet hat. Als junge Frau hat sie Wandern und Bergsteigen genossen, als Erwachsene hat sie Karate praktiziert. Brigitte war auch eine gläubige Christin. Religion spielte eine große und wichtige Rolle in ihrem Leben. Brigittes erster Mann, Howard Bowman, hat für den Auslandsgeheimdienst gearbeitet. Daher hat sie mit ihm und ihren vier Kindern, Jonathan, Brand, Mark, und Michael in Bern, Athen, Wien, Bonn und München gelebt. In zweiter Ehe war sie mit Stanislav Bojarski verheiratet, der aus Polen kam. Deswegen hat Brigitte Polnisch gelernt. Sie haben beide in Warschau für ein paar Jahre gewohnt, bevor sie zurück in den USA gekommen sind.
Für mich sind Stolpersteine ein Teil der Vergangenheitsbewältigung Deutschlands. Sie sind ein Zeichen, dass Deutschland sich um seine Vergangenheit kümmert und sie nicht einfach unter den Teppich kehrt. Im Gegensatz zu vielen Museen und Denkmälern sind Stolpersteine eine besondere Anerkennung einer Einzelperson oder einer einzelnen Familie. Deren Namen sind oft vergessen. Wenn man einen Name auf einem Stolperstein sieht, kann man sich fragen: Was für ein Leben hätte diese Person gehabt, wenn sie dort hätte bleiben können? Würde vielleicht die Umgebung anders aussehen? Als ich diese Rede schrieb, dachte ich mir: Gäbe es eine deutsche „Ausgabe“ von mir, wenn die Familie Fränkel in Deutschland hätte bleiben können? Es gibt unendlich viele hypothetische Fragen.
Ich möchte mich bei vielen Menschen für die Stolpersteinverlegung und das Colloquium bedanken. Bedanken möchte ich mich bei Frau Kristin Kalisch und gesamten Stolperstein-AG und bei der Stadt Göttingen sowie bei Professor Heinz-Günther Nesselrath vom Institut für Klassische Philologie der Universität Göttingen für das Colloquium. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Stefan von der Lahr für die Unterstützung des Colloquiums durch die Kulturstiftung des CH Beck Verlags. Zuletzt möchte ich mich besonders bei Katharina Lilli Ochse bedanken. Sie hat unserer Familie den Vorschlag gemacht, die Stolpersteine verlegen zu lassen und hat unglaublich viel getan, damit wir heute hier für die Verlegung der Stolpersteine der Familie Fränkel zusammengekommen sind.
Vielen Dank, dass Sie alle hier sind und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Erinnerungskultur
von Clara Hörschler, 16.11.2023 © GT — mit Genehmigung
Hermann Fränkel war Professor an der Uni Göttingen. Er verlor aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1933 seine Anstellung. Am Montag werden für ihn und acht weitere jüdische Mitbürger Stolpersteine verlegt.
Göttingen. Für den klassichen Philologen Hermann Fränkel (1888 – 1977) und acht weitere jüdische Mitbürger werden am Montag, 20. November, in Göttingen Stolpersteine verlegt. Es ist die achte AktionNovember, in Göttingen Stolpersteine verlegt. Es ist die achte Aktion dieser Art in Göttingen – und die erste Stolperstein-Verlegung für einen Angehörigen der Georg-August-Universität.
Fränkel war klassischer Philologe, der an der Universität Göttingen eine außerplanmäßige Professur innehatte und zu Homer und Ovid forschte. Er gehörte zu den Gelehrten, die 1933 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ihre Anstellung verloren. 1935 wurde ihm von der Universität Stanford in Kalifornien eine Professur angeboten.
So war für ihn und seine Frau Lilli und ihre drei Kinder Hans, Edith und Brigitte Göttingen ihr letzter Wohnort in Deutschland. Das Seminar für klassische Philologie der Universität kündigt an, dass im Anschluss an die Verlegung zu Ehren Fränkels ein Kolloqium ausgerichtet werden soll.
Die Jüdin Toni Löwenherz führte eine Zeit lang die Holzwarenfabrik Herlag, nachdem ihr Mann gestorben war. Sie lebte mit ihrer Schwiegertochter Florence und deren Kindern Renate und Vera in Göttingen. Florence, eine amerikanische Staatsbürgerin, konnte 1939 mit ihren Kindern in die USA emigrieren. Toni blieb in Göttingen zurück. Sie nahm sich am 22. März 1942 angesichts der drohenden Deportation das Leben.
Anja Krause, Dezernentin für Soziales und Kultur der Stadt Göttingen, erklärt: „Die Erinnerung an die Göttinger Opfer des Nationalsozialismus und ihre Ermordung ist zentraler Bestandteil der Göttinger Erinnerungskultur.“ Die Stolpersteinverlegungen seien dabei ein wichtiger Baustein der Vergangenheitsaufarbeitung. Die neuerliche Stolperstein-Verlegung freue sie besonders, „da sich auch Nachkommen der Familien angekündigt haben, die in diesem JahrNachkommen der Familien angekündigt haben, die in diesem Jahr Stolpersteine bekommen werden“, so Krause.
Die Veranstaltung zur Stolperstein-Verlegung soll am 20. November um 13 Uhr am Alten Rathaus beginnen. Der Musiker Ulrich von Wrochem, der 1. Solobratscher der Mailänder Scala, wird mit zwei Stücken jüdischer Komponisten des 20. Jahrhunderts die Veranstaltung musikalisch einrahmen.
Gegen 13.45 Uhr ist die Verlegung für Fränkel und seine Familie an der Münchhausenstraße 27. Gegen 14.20 Uhr erfolgt die Verlegung für Toni Löwenherz, Florence Löwenherz und die Kinder Renate und Vera im Friedländer Weg 26. Ab 15 Uhr gibt es einen Empfang im Städtischen Museum. Das Kolloquium für Fränkel findet am gleichen Tag um 16.30 Uhr im Hannah-Vogt-Saal der Alten Mensa (Wilhelmsplatz 3) statt.
Alle interessierten Bürgerinnen und Bürger sind eingeladen, an den Stolpersteinverlegungen, dem Empfang sowie am Kolloquium teilzunehmen.