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Geschichte der Stolpersteine in Göttingen

Gedenken an Opfer der Nazi-Zeit

Flyer zu den Stolpersteinen herunterladen: →hier (PDF-Datei)

7. Stolpersteinverlegung am 21.Sep.2022 in Göttingen

Gedenken an Opfer der Nazi-Zeit

12 Uhr: Einführung im alten Rathaus

Bilder © Stadt Göttingen; mit Erlaubnis.

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Grußworte von Kulturdezernentin Anja Krause

Sehr geehrter Herr Prager,
sehr geehrte Familie Ram,
sehr geehrte Familie Kwasnik,
lieber Schülerinnen und Schüler der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule, lieber Herr Dr. Trüter
lieber Herr Tschirner
liebe Frau Heling-Hitzemann,
lieber Herr Dr. Driever,
liebe Frau Herrmann
liebe Paten der Stolpersteine; hier begrüße ich besonders die Polizeipräsidentin Frau von der Osten,

sehr geehrte Damen und Herren,

mein Name ist Anja Krause. Ich bin die Kulturdezernentin der Stadt Göttingen und habe heute die Ehre, Sie im Namen der Stadt Göttingen herzlich zur 7. Stolpersteinverlegung zu begrüßen.

Das Kunstprojekt „Stolpersteine“ von Gunter Demnig, der heute leider nicht persönlich anwesend sein kann, gibt es bereits seit 30 Jahren. Die Stolpersteine erinnern an die Opfer der NS-Zeit, indem vor ihren ehemaligen Wohn- oder Arbeitsorten kleine Gedenktafeln aus Messing in den Bürgersteig eingelassen werden. Mittlerweile gibt über 90.000 Stolpersteine in 29 europäischen Ländern. Auf seiner Website zitiert Gunter Demnig den Talmud mit den Worten „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen wird“.

Wir wollen nicht vergessen, wir wollen und wir müssen die Erinnerung wachhalten!

Wie wichtig es ist, sich an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, zeigen unter anderem die erschreckenden Zahlen zu antisemitischen Übergriffen in jüngster Zeit. So hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) 2738 für das Jahr 2021 antisemitische Vorfälle registriert. Das sind 7 Vorfälle am Tag! Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Anstieg um40 %.

Und wenn Sie in den letzten Monaten in den Nachrichten Bilder von Demonstrationen der Querdenker-Bewegung gesehen haben, wird Ihnen wahrscheinlich aufgefallen sein, dass dort das seit 1941 zwangseingeführte stigmatisierende Symbol des sogenannten Judensterns zweckentfremdet wurde. Ganz ohne Scham und historisches Verständnis wurde dort der Schriftzug „ungeimpft“ im Symbol des sogenannten Judensternes am Körper getragen.

Auch an die Diskussionen im Zusammenhang mit dem indonesischen Künstlerkollektiv Taring Padi, die sich bei einem Kunstwerk auf der Documenta 15 der antisemitischen Bildsprache bedienten, werden Sie sich sicherlich erinnern.

Leider könnte ich noch eine Vielzahl weiterer Beispiele aufzählen, die deutlich machen, wie wichtig es ist, sich auch 77 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs und dem damit glücklicherweise verbundenen Untergang der NS-Herrschaft zu beschäftigen. Wobei „beschäftigen“ hier nicht meint, mal etwas vom NS gehört zu haben, sondern vielmehr sich der Geschichte bewusst zu machen und anzuerkennen, welche Verantwortung wir auch heute tragen: Dafür zu sorgen, dass die Opfer des NS Regimes nicht vergessen werden, dass wir uns an ihre Namen erinnern.

Die Erinnerung an die Göttinger Opfer des Nationalsozialismus und ihre Ermordung ist zentraler Bestandteil unserer, der Göttinger Erinnerungskultur. Schritt für Schritt arbeiten wir unsere Vergangenheit auf. Lassen Sie mich nur wenige Beispiele nennen: 1973 haben wir das Synagogenmahnmal am Platz der Synagoge eingeweiht. Seitdem erinnern wir in jährlichen Gedenkstunden am 9. November an die Zerstörung sowohl der Synagoge als auch etlicher Geschäfte jüdischer Einwohnerinnen und Einwohner in der Reichsprogromnacht von 1938. 2007 haben wir das Stadthaus in der Gotmarstraße (Stadtbibliothek) zu Ehren des vermutlich jüngsten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz, des Göttingers Thomas Buergenthal, in Thomas-Buergenthal-Haus umbenannt. Damit erinnert die Stadt Göttingen an die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am jüdischen Volk und mahnt – ganz im Sinne Thomas Buergenthals – zu Dialog, gegenseitiger Wertschätzung, Toleranz und Völkerverständigung. Sie zeigt damit auch, dass jüdisches Leben und der jüdische Glauben zu Göttingen gehören, einen Platz in unserer Stadt haben. 

Im Städtischen Museum haben in den letzten Jahren umfangreiche Forschungen über die Herkunft der Museumsobjekte stattgefunden. Im Zuge dieser Provenienzforschung konnte zweifelsfrei ermittelt werden, dass sich in der Sammlung Objekte befinden, die verfolgungsbedingt jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern entzogen wurden und daher nicht rechtmäßig im Besitz des Museums waren. Die Stadt Göttingen hat entschieden, dass selbstverständlich sämtliche während der NS-Zeit geraubten Kulturgüter zurückerstattet werden. Wir sind dankbar, dass mehrere Nachkommen entschieden haben, geraubte Objekte ihrer Vorfahren weiterhin als Leihgaben im Städtischen Museum zu belassen und diese Objekte für Ausstellungen zur Verfügung zu stellen.

Seit 2013 verlegen wir in Göttingen Stolpersteine. Die Frage, ob in Göttingen Stolpersteine verlegt werden sollen, ist hier über mehrere Jahre intensiv und kontrovers diskutiert worden. Als Kompromiss hat die Stadt Göttingen beschlossen, dass Stolpersteine nur verlegt werden, wenn die Nachkommen der Verlegung zustimmen. Liebe Familie Ram, lieber Herr Prager, liebe Familie Kwasnik, Sie alle haben der Verlegung der Stolpersteine für Ihre Familienmitglieder zu gestimmt. Und mehr noch, sie sind heute zur Verlegung der Stolpersteine zu uns nach Göttingen gekommen und sind damit im konkreten wie im übertragenen Sinn einen Schritt auf uns zugekommen. Ich danke Ihnen dafür herzlich.

Heute werden wir in Kooperation mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. und dem Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e. V. insgesamt 20 Stolpersteine an drei Orten verlegen. Wir beginnen zunächst in der Groner Straße 13. Dort werden zwei Stolpersteine für Amalie und Bernhard Katz in den Bürgersteig eingelassen. Herr Dr. Driever wird uns dort im Namen des Geschichtsvereins begrüßen und über das Schicksal von Amalie und Bernhard Katz berichten. Anschließend werden im Papendiek 26 elf Stolpersteine für Markus und Neche Wagner sowie für ihre Kinder Esther, Moses, Karl, Sally, Walter, Hermann und Klara, den Schwiegersohn Hermann Prager und den Enkel Norbert verlegt. Frau Heling-Hitzemann von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und die Schülerinnen und Schüler der Seminarfachgruppe von Dr. Ingo Trüter der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule werden dort einige Worte an uns richten. Sieben weitere Stolpersteine werden wir zum Schluss in der Wöhlerstraße 6 für Rosa, Margarete, Ludwig, Arnold, Betty Meyerstein sowie ihre Tochter Lucie Meininger, geborene Meyerstein und ihrem Mann Kurt setzen. Dort wird Herr Tschirner stellvertretend für die Angehörigen der Polizei Göttingen, die die Patenschaft für einige Stolpersteine übernommen haben, einige Worte sprechen. Die Biographien der Familienmitglieder Meyerstein / Meininger wird uns anschließend Frau Herrmann vorstellen. Musikalisch begleitet werden wir heute von Verena Kalinke, Marina Kueßner und Dietmar Buschhaus vom Projektorchester KlezPO.

Ich möchte mich nun nochmal sehr herzlich bei allen bedanken, die diese Stolpersteinverlegung möglich gemacht haben und die an dieser Verlegung teilnehmen. Ich freue mich sehr, wenn Sie anschließend an die Stolpersteinverlegungen an einem kleinen Empfang der Stadt Göttingen im Städtischen Museum am Ritterplan teilnehmen.

 

12.20 Uhr: Groner Str. 13

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Grußworte von Dr. Rainer Driever für den Geschichtsverein

An dieser Stelle begrüße ich Sie im Namen des Göttinger Geschichtsvereins. Wir verlegen heute zwei Stolpersteine für Amalie und Bernhard Katz.

Als Kunstprojekt begonnen, verlegt der Künstler Gunter Demnig seit nunmehr 30 Jahren Stolpersteine: wir finden in 1.800 europäischen Kommunen über 90.000 Steine im öffentlichen Raum.

Demnig versteht diese Form der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus als Erinnerungskunst. Diese Form der Gedenkens findet seit 10 Jahren auch in Göttingen statt. Von Gunter Demnig durchaus so konzipiert, setzen sich die Stolpersteine von teils monumentalen Mahnmalen und ritualisiertem -deshalb auch unpersönlichem und mitunter erstarrtem – Gedenken ab. Sie stellen die Erinnerung an jedes einzelne Opfer in den Mittelpunkt. Auf diese Weise kehren die Verfolgten und Ermordeten in unseren Alltag, in unsere Gegenwart zurück. Sie sind damit auch im Stadtbild sichtbar, die Stolpersteine finden Platz vor ihren jeweils letzten selbst gewählten Wohnstätten.

Ich habe ganz bewusst gesagt: „Wir verlegen“. Getragen wird das Projekt von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, dem Göttinger Geschichtsverein und der Stadt Göttingen. Unterstützt werden sie dabei von einer Gruppe von Fachleuten. Erfreulicherweise beteiligen sich seit längerem auch Schüler an der Vorbereitung und Durchführung der Verlegungen. Zusammen mit ihren Fachlehrern recherchieren sie die Biografien der Verfolgten und Ermordeten und präsentieren diese anlässlich der Verlegung. Auch sorgen sie seit längerer Zeit für eine musikalische Begleitung der einzelnen Verlegungen. Man spürt ihr Interesse und man sieht deutlich ihr Engagement, den Opfern und Ermordeten wieder ein Gesicht und eine Geschichte zu geben. Das stimmt einigermaßen optimistisch, Stolpersteinverlegungen sind in Göttingen keine Veranstaltung ausschließlich für Leute über 60 Jahren.

Lassen sie mich zum Schluss den heute abwesenden Gunter Demnig zitieren:

„Stolpern, stutzen, stehen bleiben, nachdenken - so kann es jemandem gehen, dem im Trottoir so ein Stein auffällt. Das wünsche ich mir. Die schönste Definition stammt von einem Hauptschüler. Er sagte: "Man fällt nicht hin, man stolpert mit dem Kopf und dem Herzen".

Dr. Rainer Driever zu Amalie und Bernard Katz

Amalie und Bernhard Katz

Amalie Lipschütz wurde am 8. August 1874 in (Wodzisław) Waidiskow, ihr späterer Ehemann David Katz 1867 in Brody geboren. Das Gebiet gehörte zu der Zeit noch zu Russisch-Polen. Das Ehepaar übersiedelte im Frühjahr 1901 von Leipzig nach Göttingen. Sie wohnten zunächst in der Gronerstraße 5. David Katz arbeitete als Borstensortierer.

Am 17. Februar 1903 kommt ihr Sohn Bernhard zur Welt. Das Ehepaar wohnt zu dieser Zeit in der Weenderstraße 14. Wie bei wenig einkommensstarken Familien nicht ungewöhnlich, ziehen die Drei fast jedes Jahr um. 1907 stirbt der erst 40-jährige David Katz. Die sowieso wirtschaftlich angespannte Lage der kleinen Familie verschlechtert sich dadurch dramatisch. Amalie Katz muss nun allein für sich und ihren Sohn Bernhard sorgen. 1915 beziehen die Beiden eine neue Wohnung im zweiten Stock der Gronerstraße 13. Dort werden sie für die nächsten 20 Jahre wohnen bleiben.

Bernhard Katz besucht die Volksschule, danach die Handelsschule. Anschließend absolviert er eine kaufmännische Lehre in der Fellgroßhandlung Raphael Hahn Söhne, einem jüdischen Familienunternehmen mit Sitz in der Weenderstraße 63. Nach seiner Lehre wird er von Max Raphael und Nathan Hahn übernommen. So kann er zum Unterhalt der kleinen Familie beitragen.

Neben seiner Tätigkeit in der Hahn'schen Firma bleibt wenig Zeit. Diese nutzt Bernhard u.a. zum Fussballspielen im 1. SC Göttingen 05. Der mit ihm nicht verwandte Ludolf Katz (emigriert in die USA 1938) berichtete nach dem Krieg: „Ich trat dem Fußballklub von 1905 als Fünfzehnjähriger bei und war bis 1933 oder 1934 Mitglied, bis wir jüdischen Mitglieder auf Anordnung der Partei hinausgeworfen wurden.“ Dazu gehörten neben Bernhard Katz auch Julius Löwenstein und Walter Stern.

Da die wirtschaftliche Lage von Mutter und Sohn sehr angespannt bleibt, eröffnet Amalie Katz im Februar 1924 ein kleines Lebensmittelgeschäft in einem ihrer zwei Zimmer in der Gronerstraße 13. Es gibt zwar Laufkundschaft, das Hauptgeschäft läuft aber über Belieferung. Sie konzentriert sich dabei auf den Handel mit koscheren Fett- und Wurstwaren. Die Ware bezieht sie größtenteils aus Kassel, ihre Abnehmer sind im wesentlichen die strenggläubigen Göttinger Haushalte. Das Sortiment wird durch Putzmittel und Seifen ergänzt.

Gesundheitlich geht es Amalie nicht gut, zudem erschöpfen sie die Anstrengungen des Kleinhandels. Deshalb übernimmt ab 1925 ihr Sohn Bernhard die Leitung. Hauptsächlich holt er die Warensendungen am Bahnhof ab und beliefert dann die Kunden. Der Gewinn ist niedrig, er reicht kaum, um zwei Personen zu ernähren. Bernhard soll den Betrieb ganz übernehmen, geplant ist ein Umzug des Ladens in das Erdgeschoss des Hauses.

April 1933 haben es vor allem zwei SA-Leute auf Bernhard abgesehen: Heinz Lange und Oskar Fiege. Das macht die Auslieferungen schwierig, Bernhard fürchtet Misshandlungen, er hat die Bilder des Märzpogroms wohl noch vor Augen. Das schadet dem bereits niedrigen Umsatz des Geschäftes noch einmal, er geht um die Hälfte zurück. So sieht Bernhard Katz bald keine Zukunft mehr für sich in Göttingen. Im Oktober 1934 geht er nach Frankfurt, heiratet dort und reist mit seiner Frau Paula über Norditalien nach Palästina. Das Ehepaar lässt sich in Haifa nieder. Seine 1927 erworbene deutsche Staatsbürgerschaft erlischt, ab März 1935 gilt er als Staatenloser.

Seine Mutter Amalie führt das kleine Geschäft noch bis Ende 1934 weiter. Dann reicht ihr Einkommen nicht mehr für die kleine Wohnung in der Gronerstraße 13. Sie zieht Ende Februar 1935 in das jüdische Gemeindewohnhaus in der Obere Maschstraße 15 um. Amalie Katz bezieht nun 8 RM Fürsorgezahlungen.

Im Sommer 1933 hatte sie noch eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten. Auf ihre Anfrage hin teilt das polnische Konsulat in Hamburg im Mai 1935 mit, dass ihre polnische Staatsangehörigkeit aufgrund der Papiere ihres Mannes David geprüft würde.

Im Jahre 1938 änderte sich die Lage. Polen unternahm Anstrengungen, den im Ausland lebenden Staatsangehörigen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Dies bot wiederum einen Anlass für die Nationalsozialisten, 17000 Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit zwecks Ausweisung zu verhaften. In Göttingen wurden am 27. Oktober 1938 Markus Wagner, Netty Wagner und Amalie Katz in Ausweisungshaft genommen und in Hildesheim der Gestapo übergeben. Von dort wurden sie an die polnische Grenze gebracht und nach Zbaszyn (Bentschen) getrieben. Im dortigen Lager blieb Amalie Katz, bis sie 1939 einen Platz in einem Heim in Poznan (Posen) fand. Von dort schrieb sie ihrem Sohn Bernhard am 11. August 1939:

„Nun liebe Kinder, teile Euch von mir mit, daß ich mich sehr schwach fühle, das Leben hier war bisher schon schwer genug, aber seit drei Wochen ist es grausam geworden, alle Hilfskomites sind im Auflösen begriffen, weil keine Mittel mehr vorhanden sind und es wird uns gesagt, daß eben halt nichts mehr an Geld vom Ausland für die unglücklichen Emigranten herein kommt. Seit 3 Wochen ist hier im Heim die Küche vollständig geschlossen und werden keinerlei Lebensmittel mehr an uns abgegeben, noch nicht mal ein Glas warmes Wasser. (...) wir hier bekommen wöchentlich... vorläufig 4 Sloti Unterstützung ausgehändigt, da hier aber alles sehr teuer ist, ist es ganz unmöglich sich davon auch nur das nötigste zum Lebensunterhalt zu beschaffen.“

Drei Wochen später stand die Deutsche Wehrmacht bereits in Polen und die Spur der Amalie Katz verliert sich. Wahrscheinlich wurde sie zusammen mit den Posener Juden im Dezember 1939 in das Generalgouvernement abgeschoben. Sie starb entweder in einem der zahlreichen Gettos, spätestens aber in einem der Vernichtungslager. 1962 wurde sie vom Amtsgericht Hannover für tot erklärt.

 

12.50 Uhr, Papendiek 26

12.50 Uhr: Papendiek 26


 

Grußworte von Esther Heling-Hitzemann,
Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Göttingen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, sehr geehrte Gäste!

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Dieser Satz aus dem jüdischen Talmud leitet unser Stolpersteinprojekt in Göttingen. Vor zehn Jahren wurde der erste Stein verlegt und mit dem heutigen Tag werden es 88 Steine sein, die an die Namen der Menschen erinnern, die einmal mitten unter uns in Göttingen gelebt haben. Zu dieser 7. Stolpersteinverlegung darf ich Sie nun auch im Namen der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ganz herzlich willkommen heißen.

Ich freue mich sehr, dass wir heute – anders als im letzten Jahr - diese Zeremonie live mit Ihnen allen begehen können.

Ganz besonders begrüße ich unsere Gäste als Nachkommen derjenigen Menschen, an die wir heute erinnern. Menschen, die vor dem nationalsozialistischen Terror aus unserer Stadt fliehen mussten oder aber deportiert und ermordet wurden. Danke, dass Sie zur Verlegung der Stolpersteine nicht nur Ihre Zustimmung gegeben haben, sondern aus England, Berlin und Norddeutschland angereist sind, damit wir uns im gemeinsamen Erinnern an Ihre Familien persönlich begegnen können.

Begrüßen möchte ich auch die Menschen, die durch ihre Spenden die Stolpersteine finanziert und die Patenschaft für konkrete Steine übernommen haben: Einzelpersonen, Gruppen, aber auch Institutionen – in diesem Jahr unübersehbar die Beamten und Beamtinnen der Göttinger Polizeidirektion. Für diese Station im Papendiek sind es zwei ehemalige Göttingerinnen, die eine wohnhaft in Bonn, die andere in Hamburg, denen es ein besonderes Anliegen ist, die Erinnerung an jüdische Familien in ihrer alten Heimatstadt durch Stolpersteine zu unterstützen. Ihnen allen danke ich sehr für ihr Engagement.

Den Künstler Gunter Demnig, der das europaweite Gesamtkunstwerk dieser Erinnerungsspuren konzipiert und bisher Tausende dieser Stolpersteine selbst verlegt hat, kann ich nur in Abwesenheit grüßen. Er nimmt aus Altersgründen nicht mehr alle Termine persönlich wahr, sondern vertraut in unserem Fall auf die erfahrenen Mitarbeiter des Göttinger Bauhofs. Ein herzliches Dankeschön an Herrn Grops und sein Team!

Danken möchte ich auch den Historikern und Historikerinnen vom Geschichtsverein Göttingen, die mit ihrem Sachverstand an der Vorbereitung dieser Stolpersteinverlegung mitgewirkt haben, ganz besonders Herrn Dr. Peter Kriedte, der mit der Konzeption der Inschriften viel Recherche-Arbeit und auch manchen Ärger hatte. Mein Dank geht auch an das Team der Stadt Göttingen, allen voran an Frau Kalisch, die als Leiterin des Stadtarchivs die Koordination der gemeinsamen Arbeit für diese Verlegung geleistet hat. Zwar sind wir als Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit offiziell federführend, doch ohne die seit Jahren bewährte Zusammenarbeit in der Stolperstein-AG könnten wir die Verlegungen nicht in dieser Form leisten.

Für den musikalischen Beitrag an jeder Station danke ich drei Mitgliedern des Göttinger Projektorchesters KlezPO – Frau Kalinke, Frau Kueßner und Herrn Buschhaus - sowie ihrem Leiter Wieland Ulrichs, der für den heutigen Anlass die Musik ausgesucht und dieses „mobile Einsatzkommando“ zusammengestellt hat.

Last but not least möchte ich an dieser Station die Schülerinnen und Schüler der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule begrüßen, mit ihrem Lehrer Dr. Ingo Trüter und ihrer Schulleiterin Tanja Laspe. Sie haben sich als Seminarfachgruppe mit den Biografien der elf Menschen beschäftigt, die wir mit diesen Stolpersteinen im Papendiek in die Göttinger Erinnerung zurückholen wollen. Als ehemalige Lehrerin weiß ich, wie viel Zeit und Kraft so ein besonderes Projekt neben dem normalen Pensum erfordert. Ich danke dir, lieber Ingo, dass du mit deiner Lerngruppe die Aufgabe übernommen hast, uns die Familien Wagner und Prager vorzustellen. Zusätzlich zu eurem Vortrag habt ihr sogar einen Flyer erstellt, mit Fotos und einem Überblick über diese große Familie. Ihr zeigt uns die Menschen, an deren Namen wir erinnern. Vielen Dank für eure Arbeit!

Und nun habt ihr das Wort.

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Schüler*innen der Georg-Christoph-Lichtenberg Gesamtschule erzählen

1. Einleitung

Wir verlegen heute elf Stolpersteine vor dem Haus Papendiek 26, um an die Familien Wagner und Prager zu erinnern. Sie wohnten und arbeiteten zwischen 1920 und 1939 in dem Haus, das Ende der 50er Jahre diesem Gebäude weichen musste. Zehn von elf Familienmitgliedern gelang die Flucht nach England und Palästina. Das Leben dieser Familie steht exemplarisch für die Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Mitmenschen während der nationalsozialistischen Diktatur. Heute und hier werden die konkreten Schicksale der Familien Wagner und Prager erzählt. Sie führen uns vor Augen, wie schnell sich die Stimmung in Göttingen gegen jüdische Mitbürger wendete, wie gewaltbereit Göttinger Bürger waren, wie viele von der Ausgrenzung der Familie Wagner profitierten und wie wenige bereit waren zu helfen. (Der von uns erstellten Broschüre können Sie Abbildungen, einen Stammbaum und einige Stichpunkte zu Familie Wagner und Familie Prager entnehmen.)

2. Anfänge in Göttingen/ Das Geschäft der Familie Wagner

Markus Wagner und seine Frau Netty (Neche) stammten aus Polen und eröffneten ihr erstes Altwarengeschäft bereits 1906 in der Groner Straße 4. Das Geschäft vergrößerte sich und 1911 zog es in die Johannisstraße 11 um. Während Markus von 1915 bis 1918 im Ersten Weltkrieg beim Militär diente, führt Netty das Geschäft in der Johannisstraße erfolgreich weiter. Familie Wagner erwarb 1919 das Grundstück, vor dem wir uns befinden. Netty Wagner handelte in einem Ladengeschäft zur Straße mit gebrauchten Textilien und Möbeln, Markus errichtete im Hinterhof die „Rohproduktenhandlung Markus Wagner“. Bis zu 20 Sammelhändler belieferten Wagner mit Altmaterial. Markus übertrug zunehmend Verantwortung an seine drei im Betrieb mitarbeitenden Söhne – Hermann, Walter und Sally –, da er gesundheitlich angeschlagen war. Die Geschäftsführung gab er schon vor Hitlers Machtübernahme überwiegend an seinen Sohn Hermann ab.

3. Diffamierung, Ausgrenzung, Gewalt

Die Nationalsozialisten versammelten in Göttingen besonders früh viele Anhänger um sich. Schon bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 erzielten sie in Göttingen die absolute Mehrheit (im Gegensatz zum Gesamtergebnis im Deutschen Reich). Damit begann sogleich die planvolle Ausgrenzung, Diffamierung und Verfolgung der Juden in Göttingen. Am 28. März 1933 fand ein Marsch der Sturmabteilung (SA) durch Göttingen statt. In 30 Geschäften – nicht nur von Juden betriebenen – wurden 56 Schaufenster zerstört, die Synagoge gestürmt, antisemitische Parolen allerorts auf Bürgersteige und Wände geschmiert. Auch die Familien Wagner und Prager waren betroffen. Als polnische Juden standen die Wagners in der rassistischen Werteskala der Nationalsozialisten ganz unten. Insbesondere die jungen Männer der zweiten Generation mussten das leidvoll erfahren:

Bereits im Frühsommer 1933 wurde Sally (24-jährig) von Nationalsozialisten auf dem Nachhauseweg brutal verprügelt: Sie schlugen Sally bewusstlos, brachen ihm das Nasenbein, spalteten ihm die Lippe, schlugen ihm einen Zahn aus und verletzten sein Auge. Sally war Mitglied im Reichsbanner Schwarz Rot Gold – einem Verband, der 1924 zum Schutz der Demokratie der Weimarer Republik gegen ihre radikalen Feinde gegründet worden war. Sally ging bald nach Dänemark, um in einem Lehrgang zum Landwirt umzuschulen – er bereitet sich auf seine Auswanderung nach Palästina vor, die er im August 1936 antrat.

Hermann wurde mehrfach in Göttingen überfallen und zusammengeschlagen. Die Kunden wiesen ihn ab. Deshalb endeten viele Geschäftsbeziehungen. Darunter litt er psychisch so massiv, dass er 1934 in der Geiststraße ambulant behandelt wurde. Markus und Netty nahmen ihren Sohn aus der Schusslinie und auch er strebte die Auswanderung nach Palästina an. Deshalb besuchte er von 1935 bis 1936 in Steinach und Blankenese einen Hachscharah-Umschulungskurs, der ihn darauf vorbereitete, in Palästina Land zu bewirtschaften und zu siedeln. In Palästina konnte er jedoch nicht recht Fuß fassen und auch aus gesundheitlichen Gründen verließ er es wieder. Entwurzelt begab er sich nach Frankreich, kehrte 1938 kurz nach Göttingen zurück. Schließlich gelangte er nach England, wo er bis zum Krieg und darüber hinaus bleiben sollte.

Walter wurde 1937 von nationalsozialistischen Schlägern bewusstlos geprügelt – es war derselbe Schläger dabei, der schon 1933 Sally angegriffen hatte. Auch Walter sollte Göttingen und Deutschland schnellstmöglich verlassen. Über Stationen in Köln und Belgien gelangte er im Mai 1939 nach England.

4. Polenaktion/ Flucht

Obwohl die Gesetze zur Ausgrenzung der Juden immer strikter wurden, konnte sich das Altwarengeschäft über Wasser halten, da die deutsche Wirtschaft auf erfahrene Recyclingunternehmen angewiesen war. Markus Wagner gab am 3. 9. 1936 anlässlich der geplanten Auswanderung der Söhne in seiner eidesstattlichen Erklärung folgendes zu Protokoll: „Obwohl der immer stärker werdende antisemitische Druck sich nicht so sehr auf das Geschäft auswirkte, hatten wir doch persönlich darunter zu leiden, so daß wir beschlossen auszuwandern.“ Viele seiner Altwarensammler arbeiteten nun für andere – „arische“ – Betriebe. Durch die Ausschaltung dieser traditionell jüdischen Geschäfte erlebten diese Betriebe einen starken wirtschaftlichen Aufstieg, wie zum Beispiel Heinrich Resebeck. Die Eltern überlegten lange trotz sich deutlich verschIechternder Geschäftszahlen, wie es weitergehen konnte. Von ihrem Vermögen würden sie nur einen Bruchteil mitnehmen, ihren Grundbesitz nur unter größten Verlusten verkaufen können. In ihr Geburtsland Polen – dessen Staatsbürgerschaft sie noch besaßen – zurückzukehren, war angesichts des dort herrschenden Antisemitismus allerdings ebenso wenig verlockend. Am 27. Oktober 1938 wurden die Überlegungen hinfällig: Markus und Netty kamen in Abschiebehaft. Im Zuge der sogenannten „Polenaktion“ wurden sie an die polnische Grenze gebracht und verblieben anschließend im Flüchtlingslager in Bentschen. Erst im April 1939 konnten sie ihren Söhnen nach Palästina folgen. Bei der sogenannten „Polenaktion“ wurden auf Betreiben Himmlers 17.000 polnischstämmige Juden aus dem Deutschen Reich abgeschoben.

5. Die Töchter Klara und ihr Bruder Karl

befanden sich während der Nacht des Novemberpogroms in Kassel und bemühten sich ihrerseits um Ausreisepapiere. Am Tag nach dem Pogrom kehrte Klara Wagner nach Göttingen zurück, wo sie Haus und Geschäft ihrer Eltern verwüstet vorfand. Aus Angst vor einer Verhaftung versteckte sie sich zunächst bei Freunden. Anschließend löste sie das Geschäft ihrer Eltern auf und kümmerte sich um den Verkauf des noch vorhandenen Hausrats und der wenigen heil gebliebenen Möbel. Im März 1939 wurde der Altwarenhandel Wagner, rückwirkend zum 31. Dezember 1938, dem Stichtag des Betätigungsverbots für jüdische Geschäftsleute, offiziell abgemeldet. Im Juni 1939 stellte die Göttinger Passbehörde ihr einen „Fremdenpass“ aus, der sie zu Emigration berechtigte. Im Juli konnte sie dank eines sogenannten domestic servants visa nach England emigrieren. Die 17-jährige Klara war gerettet, musste nun aber wie etwa 20.000 andere geflüchtete jüdische Frauen in England als Hausbedienstete (zum Teil unter sehr unangenehmen Bedingungen) arbeiten – eine in England „untold story“. 1 Erst später konnte Klara nach Israel auswandern. Auch Markus und Netty hatten es geschafft, nach Palästina auszuwandern. Markus starb in Israel jedoch schon 1946. Völlig entwurzelt – der Landessprache nicht mächtig – gelang es ihm und seiner Frau nicht, sich eine neue Existenz aufzubauen. Netty ging bald darauf nach England, wo sie bei ihrer Tochter Esther und deren Mann Hermann übersiedelte

6. Familie Prager

Esther, die sich später Elsie nannte, war die älteste Tochter von Markus und Nette. Sie heiratete 1929 den ebenfalls aus Polen stammenden Hermann Prager. ###Dies waren die Großeltern des heute hier anwesenden Michael Prager, den wir nochmals besonders herzlich begrüßen.### Hermann war 1919 nach Göttingen gekommen. Er hatte versucht, verschiedene Geschäfte aufzubauen, dabei aber wenig Glück gehabt. Er heiratete und zog in das Elternhaus von Familie Wagner ein und spezialisierte sich zu Beginn der 30er Jahre erfolgreich mit einer Vertretung für Wein. Die Gestapo entzog ihm im Juni 1938 die Lizenz. Zusammen mit seiner Frau und dem 1932 geborenen Sohn, Norbert, emigrierte er Ende Juli 1939 nach England.

7. Moses

Noch keine Erwähnung fand Moses Wagner, der älteste Sohn von Markus und Nette. Moses wurde 1906 – noch in Hannover, kurz vor dem Umzug nach Göttingen – geboren. Seit seinem vierten Lebensjahr lebte er nicht mehr bei den Eltern, sondern aufgrund einer geistigen Behinderung im Rosdorfer Weg in der dortigen Heil- und Pflegeanstalt. Wir wissen nichts Genaueres über die Art seiner Beeinträchtigung, genau so wenig, wie es ihm erging oder wie die Beziehung zu seiner Familie gestaltet wurde. Spätestens mit der Machtübernahme der Nazis und deren Verachtung von Menschen mit Beeinträchtigungen dürfte sich Moses‘ Lage deutlich verschlechtert haben. Der Polenaktion 1938 entging Moses wegen seiner Beeinträchtigung. Im Rahmen des „Euthanasieprogramms“ der Nazis wurde Moses im September 1940 zunächst nach Wunstorf „verlegt“. Bald darauf wurde er mit einem Bus der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH (GEKRAT), die unter diesem Decknamen für die sogenannte T4-Aktion verantwortlich war, in eine Tötungsanstalt in Brandenburg verschleppt und in einer Gaskammer getötet. Es ist unwahrscheinlich, dass Moses‘ Eltern über seinen Verbleib informiert wurden, da sie bereits geflüchtet waren.

 

13.20 Uhr: Wöhlerstr 6

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Grußwort von Kriminaldirektor Oliver Tschirner

Sehr geehrte Frau Nastasja Kwasnik,
Sehr geehrte Frau Gabriela Kwasnik,
Sehr geehrter Herr Lutz Kwasnik,
Liebe Mitwirkende an der Vorbereitung und Gestaltung der heutigen Stolpersteinverlegung,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

zunächst möchte ich mich Ihnen kurz vorstellen. Mein Name ist Oliver Tschirner. Ich leite als Kriminaldirektor den Zentralen Kriminaldienst der Polizeiinspektion Göttingen.

Heute habe ich die Ehre, stellvertretend für alle Angehörigen der Polizei Göttingen, die Begrüßungsworte an dem dritten Verlegungsort, hier in der Wöhlerstraße 6, an Sie richten zu dürfen. Ich schätze mich an dieser Stelle glücklich, dass wir, die Polizei Göttingen, die Patenschaft für die Stolpersteine in Erinnerung an Margarte Meyerstein, Lucie Meyerstein und ihren Ehemann Kurt Meininger übernehmen dürfen.

„Was sich nicht widerholen soll, darf niemals vergessen werden“ – mit diesen erst kürzlich bei einem Besuch des einstigen Konzentrationslagers Bergen Belsen von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier geäußerten Worten, verweist dieser darauf, dass die Shoah ein „schmerzvoller Teil deutscher Geschichte [ist], der zu uns gehört, den wir nicht leugnen […] und den wir niemals vergessen dürfen.“

Noch heute, 77 Jahre nach dem faktischen Ende des „Dritten Reichs“ im Jahr 1945, sind die Zahlen, welche objektiv Konsequenzen und Bilanzen der nationalsozialistischen Diktatur veranschaulichen sollen, zwar omnipräsent – erscheinen aber dennoch unfassbar: Circa sechs Millionen Jüdinnen und Juden starben in Gefängnissen, Euthanasieanstalten, Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern, wurden auf offener Straße von den Nationalsozialisten hingerichtet oder in den Suizid getrieben. Die Shoah, mit ihren über sechs Millionen Todesopfern, ist traurigerweise eine tiefe Zäsur in der Geschichte – ein grausamer Wendepunkt für viele jüdische Familien weltweit.

Die Geschwister Margarte und Lucie Meyerstein sowie Kurt Meininger, das waren Menschen - Menschen wie Sie und ich. Menschen, die lachten, die liebten und die weinten. Menschen, die Hoffnungen und Träume hatten, die Freundschaften schlossen und am öffentlichen Leben teilnahmen. Sie waren aber auch diejenigen, die auf brutalste Art zu spüren bekamen, zu welchen Gräueltaten Menschen in der Lage sind. Aufgrund von willkürlichen Zuschreibungen der Nationalsozialisten wurde sie zu Feinden erklärt und zu Nummern degradiert. Sie wurden nicht nur schikaniert, enteignet und auf engsten Raum konzentriert, sondern auch verfolgt, vertrieben, gefoltert, deportiert und letztendlich ermordet. Ihnen wurde unbeschreibliches Leid zugefügt. Das geschehene Leid übersteigt unser aller Vorstellungskraft.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

80 Jahre nach der ersten Massendeportation von Jüdinnen und Juden aus Göttingen in das Warschauer Ghetto sind wir heute hier zusammengekommen. Gemeinsam möchten wir der Opfer, die dem Unrecht und der Brutalität der Nationalsozialisten schutzlos ausgeliefert waren, erinnern.

Wir, die Polizei Göttingen, wir sind uns bewusst, dass diese staatlichen Verbrechen an Millionen von unschuldigen Menschen auch unter der Beteiligung der Polizei im „dritten Reich“ erfolgten. Aus diesem Grund stehen wir geschlossen hier, um Ihnen zu zeigen, dass wir diese Verbrechen nicht vergessen werden und sie für uns immer ein Mahnmal bleiben - ein Mahnmal an die dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte.

Mit der Übernahme der Patenschaft für die drei Stolpersteine möchten auch wir unseren Beitrag zu einer aktiven und lebendigen Erinnerungskultur leisten. Die Opfer – Sie dürfen niemals vergessen werden! Die Opfer, sie waren Nachbarn, Freunde und Einwohnerinnen und Einwohner in unserer schönen Stadt Göttingen.

Die dunkelsten Zeiten haben uns schmerzhaft vor Augen geführt, dass Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus ein gesellschaftliches Gift sind. Gleichzeitig müssen sie uns zu gegenseitigem Austausch, Wertschätzung und Toleranz mahnen.

Den immer noch vorhandenen Antisemitismus und den Rechtsextremismus, der die größte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung darstellt, müssen wir konsequent gesamtgesellschaftlich entgegentreten. Wir sind uns dabei im Klaren, dass uns als Polizei als Teil der Exekutive hierbei eine besondere Verantwortung zu kommt.

Schlagzeilen über rechte Chatgruppen innerhalb der Polizei, über Rassismusvorwürfe und Polizeigewalt stehen konträr zu dieser Verantwortung und können einen erheblichen Verlust in das Vertrauen in unsere Arbeit bedeuten. Und deswegen kann ich stellvertretend für alle Kolleginnen und Kollegen sagen, dass jede dieser Schlagzeilen schmerzt und eine zu viel ist!

Aus diesem Grund bin ich stolz, dass so viele Kolleginnen und Kollegen hier sind, um gemeinsam mit Ihnen ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen für unsere freiheitliche Demokratie, für den Rechtsstaat und für eine offene und pluralistische Gesellschaft, in der weder Ausgrenzung, Diskriminierung noch Rassismus Platz findet.

Liebe Familie Kwasnik,

wir sind Ihnen sehr dankbar, dass sie der Verlegung der Stolpersteine in Erinnerung an Ihre Familienangehörigen zugestimmt haben. Ihr Einverständnis war eine konstitutive Voraussetzung dafür, dass die Stolpersteine hier verlegt werden und wir die Patenschaft übernehmen konnten.

Auf seiner Internetseite zitiert Gunter Demig den Talmud: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“. Lucie Meyerstein, Margarte Meyerstein und Kurt Meininger – ihre Namen sind und bleiben unvergessen!

Beate Herrmann M. A., begleitend Daniel Herrmann, zu den Familien Meyerstein und Meiniger

Schalom, geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, liebe Familie Kwasnik, an dieser Stelle möchten wir ihnen im Rahmen der Zeit einige ausgewählte Details zu den Lebensverläufen von sieben Angehörigen der jüdischen Familie Meyerstein vorstellen. Unter dem Dach ihres Hauses Wöhlerstraße 6 fanden in den Jahren 1912 bis 1940 nicht nur Familienmitglieder Schutz und Zuflucht vor immensen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen und Zäsuren.

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Im April 1912 machte sich die neunköpfige jüdische Familie von Rosa und Max Meyerstein (1865-1933) aus dem 9 Kilometer südöstlich von Göttingen gelegenen Ort Bremke auf den Weg in ihr neues Zuhause in der Universitätsstadt Göttingen.

Über mehr als 200 Jahre wurzelten die jüdischen Familienzweige der Meyersteins in Bremke, unter ihnen auch Vorsteher der jüdischen Gemeinde Bremke. Von Generation zu Generation wuchsen diese Meyersteins weit über die Region und Göttingen hinaus ins Land. Gesetzliche Änderungen begünstigten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter jüdischen Landfamilien die Abwanderung in größere Städte. Die Hoffnung auf wirtschaftlichere Perspektiven, auf höhere Bildung verbunden mit gesellschaftlicher Integration waren zentrale Motive.

Aus seiner Bremker Tätigkeit als Kaufmann für Manufakturwaren verfügte Max Meyerstein über genügend Mittel zum Erwerb dieses Hauses. Das Bremker Haus verkaufte er 1913. Dauerhafte Existenz sowie Ausbildungskosten für die zwischen 1900 und 1908 geborenen sieben Kinder, schienen gesichert.

Doch es sollte anders kommen ....

Rosa Meyerstein geborene Rosenbaum (1867-1942)

1899 hatte Rosa Rosenbaum, genannt Röschen, mit 32 Jahren in Bremke den zwei Jahre älteren jüdischen Kaufmann Max Meyerstein geheiratet. Sie war 1867 in Förste, Kreis Osterode am Harz, geboren, wo ihr Vater, der jüdische Händler Abraham Rosenbaum (um 1825-1880), in der umliegenden Region tätig gewesen war.

Im Zentrum ihres Lebens stand ihre große Familie.

Am 3. Februar 1933, drei Tage nach der Machtübertragung an die NSDAP, wurde Rosa Meyerstein Witwe und musste nun der neuen Rolle als Hauseigentümerin und Vermieterin gerecht werden. Im Alter von 67 Jahren war ihr Mann gestorben. Rosa und ihre Kinder mussten erleben, wie antijüdische Gesetze und Verordnungen sie sukzessive entrechteten, aus der Gesellschaft ausschlossen und ihre wirtschaftliche Existenz zerstörten, wie aggressive NS-Propaganda Hass schürte und ihnen jegliche Würde entriss. Nach dem Novemberpogrom fanden Familienangehörige aus Bremke und Nordhessen verstärkt bei ihr Unterschlupf. Die letzten jüdischen Einwohner von Bremke flüchteten im Herbst 1939 vorübergehend in die Wöhlerstraße 6, sämtlich Mitglieder der Familie Meyerstein.

In besonderer Weise unterstützte die seit 1919 in Wolfenbüttel lebende älteste Tochter Gertrud Meyerstein (1900-1942) ihre Mutter und vier Geschwister, auch finanziell. Als nach dem Novemberpogrom auch Rosa Meyerstein vom NS-Regime zur erhobenen Sonderabgabe, der sogenannten Judenvermögensabgabe, zu zahlen in vier Raten, verpflichtet wurde, half Tochter Gertrud mit einem Darlehen über 2.000 RM. Per „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ hatte das NS-Regime im April 1938 gezielt die jüdische Bevölkerung zu Vermögenserklärungen gezwungen. Mit dieser Maßnahme wurde die Datengrundlage als Vorstufe zur vollständigen Enteignung der jüdischen Bevölkerung erschlichen.

1940 verlor Rosa Meyerstein ihr Haus im Zuge der seit 1938 vom NS-Regime forciert betriebenen sogenannten „Arisierung“ des Immobilienbesitzes. Es kam zu einem Ringabtausch, an dem ein Schornsteinfegermeister und die Industrie- und Handelskammer Hildesheim beteiligt waren. In dessen Folge musste sie das Haus verkaufen. Den im Kaufvertrag vereinbarten Kaufpreis von 29.000 RM setzte die Göttinger Preisbehörde auf 27.150 RM herab.

Bei der jüdischen Witwe Toni Löwenherz kam Rosa Meyerstein mit ihren Kindern Margarete, Lucie und Arnold vorübergehend unter. Im Juli 1941 erfolgte auf behördliche Weisung, gestützt auf das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939, der Umzug in das Jüdische Altersheim an der Weender Landstraße. Hier hatte Rosa Meyerstein einen sogenannten „Pensionspreis“ von 104,00 RM monatlich an die Reichsvereinigung für die Juden in Deutschland zu zahlen. Um ihn aufbringen zu können, musste sie die Devisenstelle beim Oberfinanzpräsidenten in Hannover bitten, einen entsprechenden Betrag von ihrem Sperrkonto einmal im Monat freizugeben.

75-jährig wird Rosa Meyerstein am 21. Juli 1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Zwei Monate später wurde sie von dort in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Am Tag ihrer Ankunft, Ende September 1942, wurde Rosa Meyerstein ermordet. Ihr gesamtes Vermögen hatte das Reich bereits im August 1942 eingezogen.

2Zuvor hatte Rosa Meyerstein in Göttingen noch einen der sogenannten Heimeinkaufsverträge unterzeichnen müssen, ein Betrugsmanöver, auf das sich die Reichsvereinigung hatte einlassen müssen, offenbar ohne genau zu wissen, was sie tat.

Margarete Meyerstein (1901-1942)

Am 10. April 1901 wurde Margarete Meyerstein als zweite Tochter in Bremke geboren. Zusammen mit ihrer älteren Schwester Gertrud Meyerstein (1900-1942) und der jüngeren Schwester Margot besuchte sie ab August 1912 das Städtische Lyzeum (das heutige Hainberg Gymnasium). Nach 3 1⁄2 Jahren verließ sie die Schule. Zwischen 1920 und 1928 lernte sie als sogenannte Haustochter (einem Au-Pair-Mädchen heutzutage vergleichbar) zeitweise an verschiedenen Orten mit verwandtschaftlichem Bezug, wie man einen Haushalt führt. Sie verblieb im Familienkreis bis zum Tag ihrer Deportation am 26. März 1942 aus dem sogenannten „Judenhaus“ Weender Landstraße, dem Jüdischen Altersheim. Wie ihre Mutter Rosa musste sie den sogenannten „Pensionspreis“ von 104,00 RM monatlich an die Reichsvereinigung für die Juden in Deutschland quittieren. Zusammen mit ihrer Schwester Lucie, ihrem Schwager Kurt Meininger und mehr als 70 weiteren jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern Göttingens wurde sie vier Tage später aus dem Sammellager Hannover- Ahlem in das Warschauer Ghetto deportiert und in der Folge ermordet.

Lucie Meyerstein (1903-1942)

Tochter Lucie Meyerstein wurde am 13. Dezember 1903 in Bremke gehörlos geboren. Ihre Eltern meldeten sie deshalb mit neun Jahren gezielt an einer Taubstummenanstalt an, wo sie Lesen und Schreiben lernen sollte. Im Bereich Hauswirtschaft folgte eine Ausbildung. Zwischen 1926 und 1927 ging Lucie hauswirtschaftlicher Arbeit bei Verwandten in Göttingen nach. Lucie blieb an der Seite ihrer Mutter und Geschwister bis sie am 31. Dezember 1941 den 47-jährigen Kurt Meininger heiratete. Anschließend konnte sie noch drei Monate in Kurts Göttinger Elternhaus wohnen.

Ob beide noch hofften, mit diesem Schritt eventuell der drohenden Deportation „in den Osten“ entgehen zu können?

Seit das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ mit dem 01. Januar 1934 in Kraft trat, drohte ihnen die Zwangssterilisierung - eine Gefahr, mit der Lucie und Kurt sowie ihre jüngere Schwester Betty ständig rechnen mussten. Für Lucie und Kurt war gerichtlich jeweils ein Vormund jüdischer Konfession bestellt worden.

Lucie und ihr Mann, Kurt Meininger wurden am 26. März 1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem in das Warschauer Ghetto deportiert und in der Folge ermordet.

3Kurt Meininger (1894-1942)

Kurt Meininger war das jüngste von neun Kindern der jüdischen Unternehmerfamilie Mendel Meininger (1846-1903) und Regine geborene Meyerstein (1853-1941). Zusammen mit Kurts Onkel hatte sein Vater die Firma „Gebr. Meininger“ in der Viehhandelsbranche über drei Jahrzehnte hinweg geführt; als besondere Auszeichnung erhielt er den Titel, „Hoflieferant seiner Majestät und des Kaisers und Königs“. Am 15. November 1894 wurde Sohn Kurt in Göttingen geboren.

Der frühe Tod seines Vaters 1903, verbunden mit der Übertragung der Firma an seine Mutter, war ein gravierender Einschnitt in das Leben des jungen Kurt.

Fernab vom elterlichen zuhause verbrachte Kurt ab 1905 seine Kindheit. Anschließend erhielt er an israelitischen Bildungsanstalten eine dreijährige Ausbildung zum Gärtner. Im Ersten Weltkrieg wurde Kurt kurzzeitig zu Instandsetzungsarbeiten eingezogen. Immer wieder fand Kurt für Wochen, teilweise Monate, in den Familien seiner Schwestern Schutz und Zuflucht, insbesondere nach 1933 vor eskalierenden antisemitischen Hetzen. Außerdem bewahrte ihre finanzielle Unterstützung Kurt vor noch größerer Not.

Nach dem Novemberpogrom wurde Kurt von Ossendorf aus für vier Wochen in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Anschließend kehrte er nach Ossendorf zurück, erst im Oktober 1940 zurück nach Göttingen. Als Gärtner konnte er in der hiesigen Gärtnerei Lange zunächst arbeiten.

Mit Einführung der Zwangsarbeit im März 1941 wurde Kurt Meininger zu schweren Erdarbeiten in einer sogenannten ‚Judenkolonne‘ für eine Baufirma verpflichtet.

An der Seite seiner Frau Lucie geborene Meyerstein wurde Kurt Meininger am 26. März 1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem in das Warschauer Ghetto deportiert und in der Folge ermordet.

Betty Meyerstein (1905-1943)

Tochter Betty Meyerstein wurde am 24. Januar 1905 in Bremke geboren, ebenfalls gehörlos. Wie bereits für ihre Schwester Lucie ermöglichten die Eltern Unterricht und das Erlernen hauswirtschaftlicher Tätigkeiten mit mehreren Arbeitsstellen bis 1924. Nach ihrer Rückkehr in die Wöhlerstraße 6 verließ Betty Meyerstein Göttingen 1929 Richtung Berlin, wo bereits Verwandte wohnten.

Welche Hoffnungen und Ziele nahm sie wohl mit? Wenig ist bislang bekannt über ihre Jahre in Berlin, zu denen Recherchen geführt werden.

1936 kehrte Betty für drei Monate noch einmal nach Göttingen zurück. Nach 1938 zog Betty in Berlin mehrfach um.

Am 02. März 1943 verließ der „32. Osttransport“ mit 1837 jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern Berlins den Güterbahnhof Putlitzstraße in Berlin-Moabit direkt zum Vernichtungslager Auschwitz. Darunter auch Betty Meyerstein.

Ludwig Meyerstein (1906-1942)

Am 16. Juli 1906 wurde in Bremke Ludwig Meyerstein geboren. Er verließ nach 3 1⁄2 Jahren die Göttinger Oberrealschule (das heutige Felix-Klein-Gymnasium) und machte anschließend eine Ausbildung zum Handlungsgehilfen.

Um 1928 zog Ludwig Meyerstein nach Berlin, im Blick möglicherweise auch die Hoffnung auf eine Arbeitsstelle?

In Berlin wurde Ludwig Meyerstein am 10. Februar 1933 Vater einer unehelichen Tochter. Deren Nachkommen sind heute hier anwesend. Nur ihrer Zustimmung ist es im Übrigen zu verdanken, dass wir heute Stolpersteine für die Familie Meyerstein verlegen können.

In einem anderen Kontext steht Ludwigs Verhaftung und Verurteilung wegen sogenannter „Rassenschande“ im Jahre 1937. Die „Nürnberger Gesetze“ von 1935 legitimierten die rassistische und antisemitische Ideologie der Nationalsozialisten. Sie führten zu einem sprunghaften Anstieg der Hetze auf jüdische Männer und Denunziationen wie dieser, der Ludwig auf fatale Weise zum Opfer fiel.

Nach mehr als fünf Jahren erlag Ludwig Meyerstein am 25. März 1942 mit 33 Jahren im Konzentrationslager Buchenwald den physischen und psychischen Folgen seiner Odyssee durch Berliner Gefängnisse und die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau.

Erfolgreich bemühten sich Ludwigs Schwägerin Gertrud, Ehefrau seines jüngeren Bruders Arnold und seine Schwester Betty, um die Überführung von Ludwigs Urne aus dem Konzentrationslager Buchenwald zur Beisetzung auf dem Jüdischen Friedhof Berlin- Weißensee. Bezeichnender Weise sandte die Lagerverwaltung den Hinterbliebenen eine beschriftete Pappschachtel gegen eine Gebühr zu.

Arnold Meyerstein (1908-1942)

Als letztes Kind von Max und Rosa Meyerstein wurde am 5. April 1908 Sohn Arnold in Bremke geboren.

Auch nach dem Besuch der Göttinger Oberrealschule für circa drei Jahre blieb Arnold Meyerstein zuhause wohnen. Über seinen weiteren Lebensweg ist noch wenig bekannt.

Als Arbeiter leistete Arnold Meyerstein 1936 körperlich schwere Arbeiten bei einer Tiefbaufirma.

1937 prangte in den sogenannten „Stürmer-Kästen“ Arnold Meyersteins Name öffentlich lesbar unter der Rubrik „Rassenschande ohne Ende“ in einer Ausgabe vom schärfsten Hetzblatt der Nationalsozialisten, „Der Stürmer“. Über mögliche Folgen für Arnold Meyerstein ist bislang kein Quellenhinweis bekannt.

1941 wurde Arnold Meyerstein zur Zwangsarbeit in einer eigens aufgestellten, sogenannten „Judenkolonne“ bei einer Baufirma, zu der auch Kurt Meininger und Verwandte der Meyersteins herangezogen worden waren, verpflichtet.

Am 18. Juni 1941 heiratete Arnold Meyerstein in Berlin die gebürtige jüdische Berlinerin Gertrud Lewinsohn (1904-1942). Unter sehr ärmlichen Verhältnissen bewohnte das Paar ein Zimmer zur Untermiete am Rande des jüdischen Scheunenviertels. In einem Bautrupp der Deutschen Reichsbahn musste Arnold Meyerstein erneut Zwangsarbeit verrichten, für einen Stundenlohn von 0,85 RM.

Am 9. Dezember 1942 wurden 1061 jüdische Bewohnerinnen und Bewohner Berlins mit dem „24. Osttransport“ über das Sammellager Große Hamburger Straße vom Güterbahnhof Putlitzstraße in Berlin-Moabit direkt zum Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet, unter ihnen Arnold Meyerstein und seine Frau Gertrud.

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Die Bilanz ist bedrückend. Von der neunköpfigen Familie und den zwei Schwiegerkindern überlebte niemand die NS-Diktatur. Das Konzentrationslager Buchenwald, die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka sowie das Warschauer Ghetto zeichnen als Orte ihrer Ermordung. Nur Vater Max Meyerstein und eine Tochter entgingen dank frühen Todes der Shoa.

Nicht wenige Schlüssel für die Gegenwart und Zukunft liegen in der Geschichte ihrer Biografien.
Ein hebräischer Segensspruch lautet:
Ihre Seelen mögen geborgen sein im Hort der Lebendigen.
Schalom.

 

Schlußveranstaltung im Städischen Museum

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