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Geschichte der Stolpersteine in Göttingen

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6. Stolpersteinverlegung am 18.Mai.2021

Gedenken an Opfer der Nazi-Zeit

Erinnerung an die Familien Kahn, Baruch und Nussbaum

Video und Bilder © Stadt Göttingen; mit Erlaubnis.

Hier klicken für den Text des Vortrags über die Familie Kahn von Dr. Peter Kriedte (PDF-Datei)

Einzelbilder aus dem Film


 

hier klicken für mehr Info über die Familie Nussbaum

Leben in Göttingen – Flucht vor Ausgrenzung und Verfolgung – weiter leben im Exil und in der Göttinger Erinnerung

Teil I

Im Frühjahr dieses Jahres haben wir, der Geschichtsleistungskurs des Max-Planck-Gymnasiums, angefangen, uns im Rahmen des Seminarfachs intensiver mit dem jüdischen Leben Göttingens in der Zeit des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Infolge dessen haben wir uns mit dem Schicksal der Familie Nußbaum, zu deren Ehren im kommenden Mai Stolpersteine verlegt werden, auseinandergesetzt und wollen versuchen, sie mit unserem heutigen Beitrag zurück in die Erinnerung unserer Göttinger Stadtgemeinschaft zu holen.

Der Kaufmann Jacob Nußbaum, 1882 in Leipzig geboren, heiratete 1910 die Göttingerin Ida, geborene Pohly und lebte mit den 1910 und 1911 geborenen Töchtern Rosa, später Rosel oder Rose genannt und Hilde in der Weender Landstraße. Jacob übernahm den Ölgroßhandel seines Vaters Mendel und weitete das Geschäft, trotz aufkommender antisemitischer Strömungen in Göttingen nach dem 1. Weltkrieg, aus. Rosa und Hilde verbrachten ihre Schulzeit am Lyzeum, dem heutigen Hainberggymnasium. Für ihr geisteswissenschaftliches Studium ging Hilde Nußbaum zeitweise an die Universitäten Bonn und Berlin.

Wie viele andere jüdische Familien Göttingens, litt auch die Familie Nußbaum, unter einer sich stetig zuspitzenden judenfeindlichen Stimmung, die auch medial von Göttinger Zeitungen geprägt werden. Der Jude sei ein Fremdkörper des deutschen Staats- und Volkselements, der unbedingt entfernt werden müsse, schreibt das Göttinger Tageblatt in den frühen 1920er-Jahren und stößt bei der Göttinger Stadtbevölkerung, die unter anderem durch die antisemitisch und stark sozialdarwinistisch beeinflussten Werke des in Göttingen lebenden Theologen Paul de Lagarde geprägt ist, auf Zustimmung und Unterstützung. Neben diesem rassenideologischen Ansatz des Antisemitismus, diente die jüdische Bevölkerung als Sündenbock für die wirtschaftliche Erfolglosigkeit des Bürgertums nach Ende des Krieges 1918. Unter Berücksichtigung dieser Umstände erscheint es umso beeindruckender, dass die Familie Nußbaum in der Lage war, ihr Geschäft weiterhin erfolgreich zu führen und in den folgenden Jahren sogar zu vergrößern. Mithilfe angesparten Vermögens überstand der Ölgroßhandel auch die Weltwirtschaftskrise 1929, der zahlreiche andere Geschäfte zum Opfer fielen.

Obgleich die jüdische Gemeinschaft in wirtschaftlicher Hinsicht ein wichtiger Faktor Göttingens blieb, wurde sie immer häufiger Opfer von offen antisemitisch motivierten Übergriffen. So erfuhr auch die Familie Nußbaum Vandalismus, als 1931 der Sandsteinsockel in ihrem Garten, vermutlich von Parteimitgliedern der NSDAP, umgestoßen wurde und somit die Mauer beschädigte.

Die Situation spitzte sich in der Endphase der Weimarer Republik reichsweit und auch in Göttingen zunehmend zu und gipfelte 1933 in der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Durch neu erlassene Gesetze, Verordnungen und sogenannte „Führererlasse“ wurde der strukturelle Antisemitismus nun auch staatlich legitimiert. Auch hier bei uns übernahm zeitnah der systemtreue Albert Gnade, ein Parteimitglied der frühesten Stunde und SS-Standartenführer, das Amt des Bürgermeisters und etablierte auch regional eine judenfeindliche Politik. Durch die stetig drängender werdenden Repressalien, die Ausgrenzung auf dem beruflichen und gesellschaftlichen Leben werden von 1933 bis 1941 viele jüdische Bewohner Göttingens, darunter auch die Familie Nußbaum, zur Flucht gezwungen.

Teil II

Die antisemitische Stimmung im Reich, geschürt von der nationalsozialistischen Propaganda, führte immer häufiger zu offenen Anfeindungen, Gewalt und dem Boykott jüdischer Unternehmen. Außerdem wurden seit dem Frühjahr (1933) alle im Reich lebenden Juden zur Auswanderung aufgefordert. Auch in Göttingen hatte der Aufmarsch von etwa 200 Mitgliedern der SA am Abend des 28. März 1933 Vandalismus gegen zahlreiche jüdische Geschäfte und die Synagoge zur Folge. Selbst den außerhalb der Innenstadt wohnenden Nussbaums wurden in Folge dieses Märzpogroms die Fensterscheiben ihres Geschäfts und ihrer Wohnung in der Weender Landstraße Nr.33 eingeworfen. Tatsächlich gelang es, Robert Ruch jun. als Täter festzustellen. Seine Begründung: Er habe sich an Nussbaum für angeblich abfällige Äußerungen gegenüber der NSDAP rächen wollen. In den folgenden Jahren verschlechterte sich die Lage der Familie zunehmend, die Spätfolgen der Weltwirtschaftskrise trafen nun den Handel mit Öl und chemisch-technischen Produkten und so auch das Geschäft der Familie Nussbaum. Wirtschaftlich auf diese Weise geschwächt, sah sich Jakob Nussbaum im Jahr 1935 dazu gezwungen, Teile seines Grundbesitzes zu verkaufen. Dazu gehörten ein großer Hausgarten in Weende, Teile des Fabrikgebäudes und das anliegende Wohnhaus in der Weender Landstraße Nr.29. Der Eigentümer der "Göttinger Automobil-Werkstätten", August Münstermann, bezahlte Nussbaum hierfür knapp 32.000 RM, weniger als den Jahresumsatz von Nussbaums Unternehmen im Jahr 1934. Für die Familie Nussbaum bedeutete diese Entwicklung einen plötzlichen Einschlag. Zu den vandalistischen Taten gegen die Familie kamen nun auch die tiefgreifenden Folgen der Boykotte gegenüber der jüdischen Bevölkerung spürbar hinzu. Der offene Antisemitismus erlangte bald eine Omnipräsenz im gesellschaftlichen Leben, auch des Lebens hier in Göttingen. An Ortseingängen, Bädern und Geschäften wurden judenfeindliche Schilder aufgehängt: "Juden haben in diesem Ort nichts zu suchen", "Juden sind hier unerwünscht", "Jude bleibt Jude! Darum [...] verschwinde!".  Vermutlich sahen sich auch Rosa und Hilde Nussbaum, wie viele andere Juden, der Perspektivlosigkeit ausgesetzt. Ein zukünftiges Leben im deutschen Reich war wohl für die beiden jungen Frauen zu dieser Zeit kaum vorstellbar.  Sehr wahrscheinlich verließen deswegen Hilde und Rosa Nussbaum im Jahr 1936 das Deutsche Reich. Über Hamburg emigrierte Hilde wie über 200.000 Jüdinnen und im nächsten Jahr zunächst nach Palästina, wo sie 1938 die dortige Staatsbürgerschaft erhielt. Allerdings verließ sie das Land kurz darauf und wandert nach New York aus. Ihre Schwester Rosa hingegen lebte dort bereits seit zwei Jahren. Rosa heiratete in New York Samuel Goldenstein. Auch Hilde immigrierte, nachdem sie 1936 nach Palästina geflohen war, im Mai 1941 in die USA und heiratete Karl-Heinz Meissner, den sie auf der Flucht kennengelernt hatte. Im Deutschen Reich ging 1937 es für das Geschäft der Eltern in Göttingen unweigerlich bergab. In den vorherigen zwei Jahren hatte sich die Branche zwar teilweise wieder erholt und auch der Laden der Nussbaums konnte einen kleinen Aufschwung verbuchen, doch immer mehr Kunden und Mieter weigerten sich, offene Rechnungen zu bezahlen und die Bank drohte mit der Kündigung von Hypotheken. Mit Konsequenzen hatten diese Leute damals nicht zu rechnen. Trotz alledem konnte sich das Geschäft noch bis in den Herbst 1938 halten, bis wohin die verbleibenden Lagerbestände verkauft und Ersparnisse aufgebraucht werden mussten. Letztendlich rang sich Jakob Nussbaum zum Verkauf der verbliebenen Teile seines Geschäfts durch. Der Hamburger Paul Miehlmann, der sich durch günstigen Erwerb selbstständig machen wollte, bekundete Interesse als Käufer.  Die von Nussbaum verlangte Summe entsprach mit 30.000 RM dem Wert des Auftragsbestandes, doch wurde dieser Preis vom Hildesheimer Regierungspräsidenten Hermann Muhs, der Einschätzung der Historikerin Cordula Tollmien nach „einer der führenden Köpfe der Göttinger Nationalsozialisten“, nicht genehmigt und auf 5000 RM gesenkt. Mielmann hingegen schien nicht bereit zu sein irgendetwas für das Geschäft zu bezahlen und berief sich darauf, dass es verboten sei, überhaupt etwas für jüdische Geschäfte zu bezahlen.  Die damalige Reichsregierung hatte dafür gesorgt, dass Jüdinnen und Juden Schritt für Schritt aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben verdrängt wurden. Beispielsweise wurden alle jüdischen Beamten im Jahr 1936 zwangspensioniert und drei Jahren später sogar allen Juden die Teilhabe an Gewerben verboten.  Durch die Ereignisse in der Reichspogromnacht verlor Jakob Nussbaum sein Geschäft aber schon vorzeitig und mit ihm seinen Lebensunterhalt und seine Perspektive in Göttingen. Er wurde am 10. November 1938 mit vielen anderen in Göttingen verbliebenen Juden der Gemeinschaft, unter anderem Nathan Hahn, in so genannte Schutzhaft ins Gerichtsgefängnis von Reinhausen genommen. Dort wurde er nun massiv gedrängt sein Geschäft zu veräußern. Die restlichen Besitztümer, die ursprünglich für mehr als 30.000 RM hätten verkauft werden sollen, wurden für nicht einmal 3000 RM an Paul Miehlmann abgetreten. Jakob Nussbaum wurde im Gegenzug die Entlassung versprochen.  Durch den Verlust des Geschäfts wirtschaftlich stark getroffen und als Juden aus der Göttinger Stadtgemeinschaft ausgeschlossen, verließen Ida und Jakob Nussbaum über Hamburg und Spanien Deutschland und emigrierten so wie ihre beiden Töchter in die USA, wo sie 1941 in New York ankamen.

Teil III

Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg und damit die nationalsozialistische Terrorherrschaft in Deutschland. Es beginnt jedoch die Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung. Wen trifft wo die Schuld und wer erlangt sein ehemaliges Besitztum wieder?

Das Schicksal der Familie Nussbaum ist kein Einzelfall, sondern steht exemplarisch für das Leben vieler anderer jüdischer Familien nach dem zweiten Weltkrieg. Etwa 60% der jüdischen Bevölkerung Deutschlands gelang ab 1933 die Flucht ins Ausland – knapp die Hälfte davon emigrierte in die USA. Durch die Ausreise wurde den 140 Tausend in die USA geflüchteten Jüdinnen und Juden, unter ihnen auch Jakob, Ida, Hilde und Rosa, das Leben ermöglicht, welches ihnen in Deutschland zu führen verwehrt blieb. Den wenigen in Deutschland verbliebenen Teilen der jüdischen Bevölkerung, die den Völkermord der Nationalsozialisten überlebten, stand eine harte Zeit der Wiedereingliederung in die Gesellschaft bevor. Sie sahen sich sowohl auf rechtlicher, als auch auf sozialer Ebene mit erheblichen Problemen konfrontiert. Eigens zu diesem Zweck ins Leben gerufene Entschädigungsgerichte, sollten den, im Zuge der Arisierung und Requirierung, geraubten jüdischen Besitz, zurück in die Hände der rechtmäßigen Besitzer führen oder für Entschädigung sorgen. Auch die Familie Nussbaum wurde im Jahr 1953, nach langwierigem Verfahren, finanziell, wenn auch weit unter dem eigentlichen Wert des Verlustes, entschädigt.

Die geflüchteten Jüdinnen und Juden bekamen die Möglichkeit, mithilfe der Wiedergutmachungskammer, ihre verlorenen Besitztümer und Grundstücke zurückzufordern.

Jakob Nussbaum versuchte seine Rechte geltend zu machen. Nach langwierigen Verhandlungen kam es 1953 zu einem Vergleich mit Paul Miehlmann, welcher ihn Ende 1938 aus seinem Geschäft verdrängte. Er zahlte für die Grundstücke 26.000 DM und für den Betrieb 9.000 DM. Diese hartnäckigen Verhandlungen und die Einigung auf einen Vergleich unterhalb der ursprünglichen Forderung zeigten, dass das antisemitische Gedankengut in Göttingen in der Bevölkerung nach dem Krieg nicht direkt verschwand. Es handelt sich ja eher um eine rechtliche Frage, deswegen muss dieser Satz geändert werden.

Bevor die Verhandlungen mit August Müstermann um das Grundstück Nr.29 und Teilgrundstück Nr.31 endeten, verstarb Jakob Nussbaum. Auch hier kam es, mit der dann Anspruchsberechtigten Ida Nussbaum, zu einem Vergleich über 28.000 DM.

Trotz des nurmehr symbolischen Wertes der Entschädigung, mit dem die jüdische Bevölkerung sich wieder nähern sollte, stellte sich unmittelbar bei Kriegsende ein jüdisches Gemeindewesen ein, welches parallel zur übrigen Gesellschaft stattfand, aber keinen integrierten Teil darstellte.

Obwohl zehntausende Familien einem gleichen oder ähnlichen Schicksal wie die Familie Nussbaum gegenüberstanden, sollen die vertriebenen Göttinger Jüdinnen und Juden heute besonders gewürdigt werden. Zwar haben es die Nussbaums geschafft, sich ins Ausland zu retten, allerdings war der Preis dafür ihr Leben in Göttingen.

Doch wie brutal und erschütternd muss es sein, alles, was man sich aufgebaut hat, zurücklassen zu müssen oder gewaltsam dessen beraubt zu werden?

Wie kann man die Ungewissheit der eigenen Zukunft sowie den Verlust von Freunden und Familie ertragen?

Wer kann schon sagen, inwieweit die Flucht die Aufgabe der eigenen Identität bedeutet und wie man weiterleben soll?

Für uns als Schüler*innen hat die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Familie Nussbaum und der Versuch, die damalige Stimmung zu begreifen, viele derartiger Fragen aufgeworfen.

Indem wir diejenigen, die damals hier in Göttingen alles verloren haben, die hier in Göttingen durch Göttinger Mitbürger*innen gesellschaftlich ausgegrenzt und um ihre Existenz gebracht wurden, in das Bewusstsein unserer Stadtgemeinschaft zurückholen, können wir einen Beitrag dazu leisten, sie zu würdigen und ihnen ein Weiterleben in unserer Erinnerung zu ermöglichen. Durch ihre Geschichten können wir inspiriert werden, die Welt zu einem friedlicheren und vielfältigeren Ort werden zu lassen. Denn auch heute sind viele Menschen gezwungen, ihr Leben aufzugeben und den bisherigen Umständen zu entfliehen.

Es ist ohne Zweifel die Aufgabe/Verantwortung der Gesellschaft als Ganzes, jede Form der Diskriminierung zu verhindern und Werte wie Toleranz, Freiheit und Gleichheit zu beschützen. Dies muss über eine rechtlich-abstrakte Ebene hinaus im persönlich-zwischenmenschlichen Rahmen geschehen. Es sind die alltäglichen Handlungen von Individuen, die eine Gemeinschaft ausmachen und Unrecht verhindern können. Es liegt also in der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, die Werte, die uns verbinden, zu leben, und derer zu gedenken, die unter dem Terror des NS-Regimes litten und von denen so viele ihr Leben ließen oder wie die Familie Nussbaum zur Flucht getrieben wurden.

Die jüdisch-deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin und Nobelpreisträgerin Nelly Sachs hat ausgedrückt, was so schwer in Worte zu fassen ist. Sie hat verdeutlicht, wie wichtig es ist, dem Vergessen entgegenzuwirken, und dennoch versuchen weiterzuleben. In ihrem Gedicht „Chor der Geretteten“ (1946) schreibt sie:

„Wir Geretteten Bitten euch: Zeigt uns langsam eure Sonne.Führt uns von Stern zu Stern im Schritt. Laßt uns das Leben leise wieder lernen.“