Fotos: Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Göttingen sofern nicht anders bezeichnet
Sehr geehrte Familie Hayden, sehr geehrte Frau Barton, sehr geehrte Frau Kanter,
liebe Mitwirkende in der Vorbereitung und Gestaltung dieser Stolpersteinverlegung, liebe Schülerinnen und Schüler vom FKG und MPG,
liebe Stadträtin Petra Broistedt, lieber Vorsitzender des Geschichtsvereins Prof. Dr. Peter Aufgebauer,
lieber Herr Demnig, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Gunter Demnig erinnert mit seinem Kunstprojekt „Stolpersteine“ an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem Wohn- oder Arbeitsort Gedenktafeln aus Messing in den Bürgersteig einlässt. Inzwischen liegen Stolpersteine in über 1.100 Orten in Deutschland und in vielen Ländern Europas. 'Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist', zitiert Demnig auf seiner Internet-Seite den Talmud. Mit den Steinen vor den Häusern wird die Erinnerung an die Menschen lebendig, die einst hier wohnten und arbeiteten.
Ich freue mich sehr, dass Sie alle heute zur Verlegung von 18 Stolpersteinen gekommen sind. An vier Stellen in unserer Stadt wird Herr Demnig Steine für die Familien Hahn, Silbergleit und Meiniger setzen. Für alle 18 Steine haben sich übrigens Patinnen und Paten aus unserer Stadt gefunden. Vielen, vielen Dank und allen Paten ein herzliches Willkommen. Musikalisch begleitet werden wir von Silas Kömen, Saxophon, und Jakob Gründemann, Gitarre vom Felix-Klein-Gymnasium. An dieser ersten Verlegestation werden sie die Hatikva spielen. Mit unserer Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit haben die Stadt Göttingen und der Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e.V. diese Verlegung vorbereitet. Für die gute und erfolgreiche Zusammenarbeit – insbesondere mit Dr. Böhme und Prof. Aufgebauer - bedanke ich mich ganz herzlich. Wir stehen hier vor dem Stammhaus der Familie Hahn. Die Fassade des Hauses erinnert immer noch daran. In diesem Haus arbeitet heute die Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Jacqueline Jürgenliemk, die ich herzlich begrüße.
Es ist uns eine ganz besondere Ehre, dass Diane Kanter aus Belgien mit ihrer Schwester Trudy Barton aus Kanada und Prof. Dr. Michael Hayden mit Familie ebenfalls aus Kanada zu uns nach Göttingen gereist sind. Sie sind Nachkommen der Familien Hahn, die hier in der Weender Straße 70 ihr Stammhaus hatten. Von den Nationalsozialisten wurden die beiden Familien Hahn seit Anfang der 30ger Jahre verfolgt, ins Gefängnis geworfen, gedemütigt und ausgeraubt. Die damals noch jüngeren Familienmitglieder konnten fliehen, die beiden Ehepaare Getrud Tana und Max Raphael Hahn, sowie Betty und Nathan Hahn wurden von den Faschisten ermordet. Mit den 8 Stolpersteine für die zwei Familien Hahn wird die Erinnerung an Ihre Vorfahren, liebe Frau Barton, liebe Frau Kanter und liebe Familie Hayden in das Straßenpflaster eingeschrieben – zur Erinnerung und zur Mahnung für uns.
Galit Noga-Banai – eine israelische Wissenschaftlerin - schrieb von einigen Tagen in der FAZ, Stolpersteine seien „Verbindungsadern in die Vergangenheit – eine Tradition, die nicht abreißen darf“. Mit den Steinen könne ein „imaginärer Stadtplan“ entstehen und so z.B. auch das in der Shoa verlorengegangene jüdische Göttingen in die Straßen unserer Stadt eingeschrieben werden. Nach und nach können so Stolpersteine unsere Stadt, unser Land und Europa in ein sichtbares Martyrologium verwandeln, in ein jüdisches Märtyrerverzeichnis. Frau Noga-Banai fordert daher konsequent, endlich auch in München Stolpersteine zu verlegen. Aber auch für Göttingen hätte das Konsequenzen: es würde bedeuten, dass auch der Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserer Stadt gedacht werden müsste, aus deren Familien niemand fliehen konnte, alle ermordet wurden, so dass es keine Nachkommen mehr gibt. Das ist leider derzeit nicht möglich. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass Erinnerungs- und Mahnsteine auf öffentlichem Grund allen Opfern des deutschen faschistischen Systems zustehen und appelliere an dieser Stelle an den Rat der Stadt Göttingen, die Grundlagen dafür zu schaffen!
'Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist'. Ich bin dankbar, dass wir heute die Erinnerung an 18 Göttingerinnen und Göttinger wachrufen, die in der Nazizeit entrechtet wurden, geflohen sind, ermordet wurden.
Unser herzlicher Dank geht an Dr. Rainer Driever, der jetzt die beiden Familien Hahn würdigt.
Heiner J. Willen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. 07. Februar 2018
Familie Hahn
Die Familie Hahn gehörte zu den angesehensten innerhalb der jüdischen Gemeinde Göttingens. Nathan, geboren 1868, und sein Bruder Max Raphael, geboren 1880, leiteten das Familienunternehmen Rohhäute und Fellgroßhandlung Raphael Hahn Söhne OHG ab 1896 in Nachfolge ihres Vaters Raphael. Dieser kaufte das Haus, vor dem wir heute stehen, im Jahre 1864. Es wurde zum Stammsitz der Familie.
Nathan heiratete 1908 Betty Grünbaum. Ihre Söhne Max und Leo wurden 1909 und 1913 beboren. Sie verbrachten einen großen Teil ihrer Kindheit im Haus in der Weender Straße.
Max Raphael arbeitete während des Ersten Weltkrieges für Walther Rathenau in der Preußischen Kriegsrohstoffabteilung. 1917 heiratete er Gertrud Lasch. Zwei Jahre später kehrte Max Raphael nach Göttingen zurück. Das Ehepaar bezog eine Villa in der Merkelstraße, wo auch ihren beiden Kinder Rudolf und Hanni 1919 und 1922 geboren wurden.
Die Familie Hahn gehörte seit den 1890er Jahren zunächst zur kleinen orthodoxen Gemeinde („Austrittsgemeinde“). 1919 schloss sich Max Raphael der reformorientierten jüdischen Mehrheitsgemeinde an. Von 1921 bis 1940 gehörte er in den Kreis der Vorsitzenden und wurde zur dominierenden Persönlichkeit der Gemeinde. Zusammen mit seiner Frau engagierte er sich zudem in der jüdischen Moritz-Lazarus Loge, die sich der Verbindung von religiöser und nationaler Identität sowie der Wohlfahrtspflege widmete.
Max Raphael trat auch als Sammler von Judaica die Nachfolge seines Vaters an. Für die Bedeutung der Sammlung spricht ein Artikel im Israelitischen Familienblatt 1929 und ihre Aufnahme in das Handbuch des jüdischen Wissens des Philo-Verlags Berlin im Jahre 1934. Von 1927 bis 1935 waren zudem einzelne Objekte in Ausstellungen verschiedener Museen zu sehen.
Bereits früh waren die Hahns Ziel antisemitischen Terrors, am 15. Januar 1932 trafen Steine die Fensterscheiben des Wohnhauses von Max Raphael in der Merkelstraße. Am 11. November 1933 erfolgte auf eine Denunziation hin eine ergebnislose Durchsuchung des Stammhauses. Im April 1935 skandierte ein Trupp SA'ler vor dem Hahnschen Wohnhaus in der Merkelstraße Max Hahn verrecke.
Die Beraubung durch die Nazis und die Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben setzte 1934 ein - dem Hahnschen Unternehmen wurden dringend benötigte Kredite verweigert. 1937 kam es zu einem Vergleich zur Abwendung des Konkurs für die Gallus-Schuhfabrik, die seit 1926 zum Familienunternehmen gehörte. Bereits Ende September 1934 wurde das dazugehörige Schuhgeschäft Ecke Weender Straße-Theaterstraße geschlossen. Am 1. März 1939 wurden schließlich die Hahn'schen Unternehmen zusammen mit dem Hauptbetrieb, der Rohhäute und Fellgroßhandlung Raphael Hahn Söhne OHG, liquidiert.
Die Söhne von Nathan, Max und sein jüngerer Bruder Leo, besuchten die Kaiser-Wilhelm-Oberrealschule (Felix-Klein-Gymnasium) in Göttingen. Max arbeitete nach dem Schulabschluss in der väterlichen Firma, während Leo 1931 nach München ging, um Jura zu studieren. Nach einem kurzem Aufenthalt in seiner Heimatstadt gelang Leo im Januar 1938 die Emigration nach Palästina.
Die Kinder von Max-Raphael und Gertrud Hahn waren ab 1933 Mitglieder in der Deutsch-Jüdischen Jugend. Hanni besuchte ab 1932 die Städtische Oberschule für Mädchen (heute Hainberg-Gymnasium). Sie wurde 1938, zwei Jahre vor dem regulären Ende ihrer Schulzeit, mit ihren jüdischen Klassenkameradinnen der Schule verwiesen. Daufhin begann sie in Hamburg eine Ausbildung zur Kinderschwester. Ihr Bruder Rudolf war der letzte jüdische Schüler, der an der Kaiser-Wilhelm-Oberrealschule 1937 sein Abitur machte. Er begann in Hamburg bei der jüdischen Import-Export-Firma B. Luria & Co eine Lehre.
In der Nacht zum 10. November 1938 brannte auch in Göttingen die Synagoge. Das Hahnsche Wohnhaus in der Merkelstraße 3 wurde von SS-Männern verwüstet, Max Raphael und seine Frau Gertrud wurden verhaftet und im Göttinger Gerichtsgefängnis inhaftiert. Gertrud kam am nächsten Tag frei, Max Raphael blieb bis zum Juni 1939 inhaftiert. Auch das Haus seines Bruders Nathan wurde von der SS heimgesucht, Nathan, seine Frau Betty und ihr Sohn Max wurden verhaftet und ebenfalls inhaftiert. Auch Betty Hahn wurde bereits am nächsten Tag entlassen, Nathan kam nach neun Tagen wieder frei, sein Sohn Max nach 11.
Rudolf Hahn konnte sich von seinem Vater Max Raphael im Göttinger Gerichtsgefängnis nur noch in Gegenwart der Gestapo verabschieden. Kurz darauf, Ende Januar 1939, gelang ihm von Hamburg aus die Emigration nach England. Seine Schwester Hanni konnte ihm vier Monate später folgen.
Max Hahn zog nach seiner Haftentlassung zu seiner Verlobten Lili Glaser nach Hamburg. Er leistete dort Zwangsarbeit im Hafen, beide warteten auf eine Gelegenheit, in die USA auszureisen. Dies gelang über Lissabon im Juni 1941.
Hamburg war auch das Ziel von Betty und Nathan Hahn. Sie versuchten dort bereits ab Dezember 1939, ein Visum für die USA zu beschaffen - vergeblich. Von dort wurden sie am 15. Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Bereits im September 1942 erfolgte die Deportation in das Vernichtungslager Treblinka, wo das Ehepaar ermordet wurde.
Im Jahr 1939 versuchte Max Raphael Hahn erfolglos, seine eingelagerte Sammlung von Judaica wieder zu erlangen. Nach seiner erneuten Inhaftierung verließ er mit seiner Frau Gertrud nun ebenfalls Göttingen in Richtung Hamburg, um in der Nähe des Überseehafens Möglichkeiten für die Emigration zu suchen. Am 6. Dezember 1941 wurden beide von dort in das Lager Jungfernhof bei Riga transportiert. Gertrud starb entweder bereits auf dem Transport oder kurz nach der Ankunft in Riga am 9. Dezember. Max Raphael wurde spätestens im März 1942 ermordet.
Rudolf Hahn trat im Februar 1940 in die britische Armee ein, 1943 nahm er den Namen Roger Randolph Haydn an. Als Captain kehrte er 1946 nach Deutschland und Göttingen zurück. Er suchte weiter nach seinen Eltern. Im Mai 1946 schrieb er an seine Schwester Hanni, dass es keine Hoffnung auf ihre Rückkehr gibt. Parallel forschten die Geschwister nach dem geraubten Familieneigentum und strengten dessen Restitution an.
Roger Haydn heiratete 1947 und ließ sich mit seiner Frau Ann in Südafrika nieder. Er starb 1984 in Kapstadt. Seine Schwester Hanni heiratete im Dezember 1945. Die Familie Barton wohnte in Epsom, einer Vorstadt von London. Dort starb Hanni Hahn 1985.
Max Hahn arbeitete in den USA als Inspektor im Ingenieurswesen, danach als Einkaufsdirektor im Bergwerkswesen. 1966 gründete er seine eigene Firma in New Jersey. Er engagierte sich zudem in Fragen der Wiedergutmachungsgesetzgebung. Max Hahn starb 1992, sein Bruder Leo bereits drei Jahre früher in Israel.
Dear friends from the United States, from Canada and from Belgium – shalom.
Meine Damen und Herren,
Namens des Göttinger Geschichtsvereins, der zusammmen mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Kooperation mit der Stadt das Projekt „Stolpersteine für Göttingen“ trägt, begrüße ich Sie hier zur Verlegung der Stolpersteine für Lea und Max Silbergleit.
Wenige hundert Meter von hier erinnert ein Mahnmal an die Synagoge der jüdischen Gemeinde, die in der Pogromnacht des 9. November 1938 niedergebrannt wurde. Es besteht aus sich nach oben verjüngenden Davidsternen (Magen David). Sie sind um wenige Grad so gegeneinader gedreht, dass sich insgesamt der Eindruck einer großen züngelnden Flamme ergibt. Alle Opfer des nationalsozialistischen Systems, die wir heute durch die Verlegung von Stolpersteinen vor ihren Wohnungen und Geschäften ehren, waren Mitglieder dieser jüdischen Gemeinde.
An jedem 9. November wird am Platz der Synagoge unter Teilnahme einiger hundert Bürger an alle drangsalierten, entrechteten, vertriebenen und ermordeten jüdischen Menschen unserer Stadt erinnert und Kaddisch gesprochen.
Das Projekt der ‚Stolpersteine’ ist zu diesem zentralen jährlichen Gedenken komplementär: Durch ihre Verlegung im öffentlichen Raum vor der letzten selbst gewählten Wohnstätte holen wir nach und nach die Erinnerung an jeden Einzelnen der Verfolgten und Ermordeten in unsere Stadt und in unseren Alltag zurück. Um den Text der Steine, die in den Fußweg eingelassen sind, lesen zu können, muss man sich hinab beugen – sich vor den Opfern verneigen. Die Arbeitsgruppen, welche die Biographien rekonstruieren, die hinter den kurzen Textelementen der Steine stehen, kommen aus der Bürgerschaft, aus der Universität, nicht zuletzt aus den Schulen – kurzum aus der Zivilgesellschaft. Sie bringen die von ihnen erarbeiteten, hier öffentlich vorgetragenen und anschließend auf der Internetseite der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit dokumentierten Lebensbilder von neuem in unser kollektives Gedächtnis ein und lassen sie damit zu einem Bestandteil der Identität unserer Stadt werden. Was die Nationalsozialisten mit Gewalt, Vertreibung und Mord für immer ausrotten wollten, holen wir in die Erinnerung und in das Gedenken wieder zurück. Europaweit haben die Nachkommen der Tätergeneration zusammen mit dem Künstler Gunter Demnig mit mehr als 60.000 Stolpersteinen ein einzigartiges, stetig wachsendes Flächenmahnmal geschaffen und damit zugleich ein immer dichter werdendes Netz der Erinnerung. Dieses Flächenmahnmal, dieses Netz der Erinnerung wächst hier und heute um 18 Stolpersteine mit 18 Namen.
In Göttingen geschieht dies jeweils auf ausdrücklichen Wunsch und mit Zustimmung von Nachkommen und Verwandten der zu Ehrenden. Diese Angehörigen und Nachkommen sind aus den USA, aus Kanada, aus Belgien eigens zur Verlegung der Steine nach Göttingen gekommen. Dies zeigt uns, dass die Verlegung der Stolpersteine diesen Angehörigen und Nachkommen ein wichtiges persönliches Anliegen ist. Uns ist sie eine ethische Verpflichtung angesichts des finstersten Kapitels unserer Geschichte. Der heutige Tag, diese Feierstunde, dieser Teilnehmerkreis zeigen uns: Die Vergangenheit ist nicht tot – sie ist nicht einmal vergangen.
Stolpersteinenthüllung —Max und Lea Silbergleit—
Lea Silbergleit (geboren Blum) wurde am 22. März 1883 in Polen geboren. Sie kam 1905 aus Meseritz nach Göttingen und eröffnete hier im Papendiek 29 eine kleine Papierwarenhandlung; wohnte allerdings zunächst eine Straße weiter in der Johannisstraße Nr. 76. Dort lernte sie vermutlich auch ihren Ehemann Max Silbergleit kennen.
Max Silbergleit wurde am 21. August 1878 in Warschau geboren. Auch er kam 1905 nach Göttingen und wohnte dort im selben Haus, wie Lea Silbergleit. Im darauffolgenden Jahr heirateten die beiden schließlich und im Juli 1906 übernahm er ihren Betrieb. Er war gelernter Taschenmacher und Portefeuillearbeiter und erweiterte den Betrieb daher noch um eine Lederwarenhandlung. Noch im gleichen Jahr zogen Max und Lea Silbergleit in den Papendiek Nr. 29, direkt über ihren Laden, wo sie bis 1909 wohnten.
Das Angebot der beiden kam bei der Kundschaft sehr gut an und vergrößerte sich daher mit den Jahren immer mehr; 1909 wurde es schließlich in die Nummer 3 verlegt. Hier im Erdgeschoss befand sich das Papierwarengeschäft; die Lederwarenhandlung mit dem höherwertigen Sortiment wurde im 1. Stock eingerichtet. Dort wurde nicht nur die gelieferte Ware verkauft, sondern auch Produkte aus eigener Herstellung. Die ,,Anfertigung feiner Lederwaren“ war ein spezielles Angebot von Max Silbergleit, mit dem er sich stark von der Konkurrenz abgehoben hat. Durch seine guten Verbindungen in der Lederbranche wurde sein Betrieb ein Vertragsgeschäft für "Offenbacher Lederwaren", die er ab Mitte der 20er Jahre auch in seinem Laden verkaufte.
Über dem Geschäft, im zweiten und dritten Stock, befand sich die Privatwohnung der beiden, in der sie von 1909 bis (zu ihrer Deportation) 1942 wohnten. Im Jahre 1913 hat Max Silbergleit schließlich das komplette Haus gekauft, wodurch dann die Mietbelastung entfallen ist. Wie viele Menschen damals waren auch die Silbergleits gutbürgerlich eingerichtet, hatten ein Theaterabonnement und machten jedes Jahr zusammen mit ihren Geschwistern Paul und Rosa Silbergleit eine Bäderreise. Die Wirtschaftskrise im Jahr 1929 belastet die Umsätze der beiden allerdings sehr.
Sie überstehen die Krisenjahre nur durch ihr in den früheren Jahren erwirtschaftetes Vermögen. Durch den Göttinger SA-Aufmarsch (zwei Monate nach Hitlers Machtergreifung) am 28.März 1933 wurden viele jüdische Geschäfte schwer beschädigt. So auch das von Max und Lea Silbergleit; SA-Männer sind damals über die eingeschlagenen Schaufenster ins Ladenlokal eingedrungen und haben es ausgeplündert. Als Folge der antijüdischen Hetze ging der Umsatz in den folgenden Jahren auf fast die Hälfte zurück. Außerdem wurden sie sozial komplett isoliert und von der Gesellschaft ausgegrenzt.
Am 14. Juli 1933 trat das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen in Kraft, wodurch auch die Silbergleits 1935 ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlieren, die sie seit 1927 besaßen. Danach sinkt sein Betrieb bis zur Bedeutungslosigkeit herab. In der Reichspogromnacht vom 09. auf den 10. November 1938, in der in ganz Deutschland Gewaltmaßnahmen vom nationalsozialistischen Regime organisiert worden waren, wurde das Geschäft abermals beschädigt. In blindem Hass wurden das Geschäft und das Warenlager zerstört und die Privatwohnung der beiden mit Spitzhacken zerstört und geplündert. Am nächsten Tag wurden die noch verbliebenen Waren abtransportiert. Die zerstörten Fenster wurden vom Stadtbauamt zwar wieder repariert, allerdings mussten die Silbergleits die Kosten für die Instandsetzung übernehmen.
In Folge dieser Anschläge musste Max Silbergleit am 23. November 1938 sein Gewerbe abmelden. Die politische Situation ausnutzend übernahm der arische Konkurrent Kurt Sievert das Traditionsgeschäft der Familie Silbergleit. Ohne jegliche Entschädigung. Die beidem mussten nun mit ihrem restlichen Vermögen auskommen. Als ein halbes Jahr später das Geld knapp wurde, sahen sie sich genötigt ihr Haus zu verkaufen. Bis Oktober 1940 durften sie zur Miete weiterhin dort wohnen bleiben. Danach wurden die Zimmer im 2. Stock von dem neuen Eigentümer selbst genutzt, sodass den Silbergleits zum Schluss nur noch ein Zimmer mit Küche im 3. Stock zur Verfügung stand.
Am 26. März 1942 wurden die meisten noch verbliebenen Göttingen Juden deportiert. So auch Max und Lea Silbergleit. Zusammen mit ihren Geschwistern Paul und Rosa Silbergleit und vielen anderen Juden mussten sie sich auf dem Albani-Kirchhof versammeln, um dann vor aller Augen zum Bahnhof zu marschieren. Sie wurden zunächst in das Sammellager Hannover-Ahlem gebracht. Im Sommer wurde Lea nach Treblinka überstellt, ihr Mann folgte nur wenig später. Beide sterben noch vor ihren Geschwistern.
Sehr geehrter Herr Prof. Buergenthal, sehr geehrte Familie Buergenthal, meine sehr geehrten Damen und Herren,
an dieser dritten Station der heutigen Stolperstein-Verlegung begrüße ich Sie im Namen von Oberbürgermeister Rolf-Georg-Köhler, im Namen des Rates der Stadt Göttingen, aller Göttinger Bürgerinnen und Bürger und natürlich persönlich sehr herzlich! Über das Projekt der Stolpersteine im Allgemeinen und über die Verlegungen hier in Göttingen haben wir heute bereits viel erfahren. Dem kann und will ich nichts weiter hinzufügen. Als Dezernentin für Kultur unserer Stadt freue ich mich darüber, dass es nach längeren, intensiven, aber auch kontroversen Diskussionen über das Thema Stolpersteine gelungen ist, durch das Zusammenwirken aller Beteiligten einen Kompromiss zu finden. Jeder Kompromiss ist ein aufeinander Zugehen. Keine Seite kann ihre Interessen zu 100 % durchsetzen. Es ist ein gemeinsamer Weg in Wertschätzung und Achtung der Interessen des Anderen. Schön, dass das gelungen ist. Der Kompromiss macht es möglich, dass wir heute zu dieser würdigen Verlegung zusammenkommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da wir hier vor dem Wohnhaus der Familie Buergenthal stehen, erlauben Sie, dass ich die nachfolgenden Worte in englischer Sprache spreche.
We are standing in front of he house of the family Silbergleit. For this reason I am sending a warm welcome to our international guests, especially to the family of Professor Buergenthal. The city of Göttingen is thankful, proud and glad, having you as our guests and that you - are taking part in this ceremony to remember what happened to jewish citizens of Göttingen during the period of nationalsocialism.
For us, your father and grandfather, Professor Buergenthal is a very important person. Not only because he survived the unbelievable pain, the inhuman and horrible treatment of the Germans 75 years ago. But also because after the second world war he changed his pain and hate into forgivness and reconciliation, into dialog and tolerance. I am deeply convinced that this is the only way to stop antisemitism, racism and facism.
Hier in der Groner Straße 52 möchte ich Sie, sehr geehrter Herr Prof. Buergenthal, zusammen mit Ihrer Familie ganz besonders herzlich und dankbar begrüßen.
In diesem Haus wuchs Ihre Mutter Gerda gemeinsam mit ihrem Bruder Erich auf, hier lebten Ihre Großeltern Paul und Rosa Silbergleit, und hier durchlitt Ihre Familie die niederträchtige, menschenverachtende, brutale Verfolgung durch die Nationalsozialsten. Von hier aus wurden Paul und Rosa Silbergleit in den Tod deportiert. Dass Sie, sehr geehrter Herr Prof Buergenthal, sehr geehrte Familie Buergenthal, trotz dieser schrecklichen Verbrechen, die Ihrer Familie von Deutschen, von Göttingern angetan wurden, sich nicht für Hass, sondern für Versöhnung und Ausgleich eingesetzt haben und uns heute die Ehre Ihres Besuchs geben, erfüllt uns mit Demut und Dankbarkeit. Wir betrachten es zugleich als eine große Ehre für unsere Stadt!
Es freut mich besonders, dass an der heutigen Stolpersteinverlegung zwei Schülergruppen entscheidend mitgewirkt haben. Unter der Leitung ihrer Lehrer Frau Bury vom MPG und Herrn Dr. Goldmann vom FKG haben sie die Würdigungen von Lea und Max Silbergleit sowie der Familie Meininger erarbeitet. Ich kann mir denken, dass die Mitwirkung an diesem feierlichen Akt für Euch Schülerinnen und Schüler ein prägendes Erlebnis sein wird, weil sie Geschichte erlebbar macht. Ich bin sicher, dass diese Form der Erinnerungsarbeit der beste Weg ist, für die Zukunft derart schreckliche Verbrechen zu verhüten.
Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung!
Vielen Dank!
Stadträtin Petra Broistedt
Der Text auf den vier Stolpersteinen, die hier verlegt werden, lautet:
HIER WOHNTE ROSA SILBERGLEIT GEB. BLUM JG. 1886 DEPORTIERT 1942 GHETTO WARSCHAU / KIELCE ERMORDET IN TREBLINKA
HIER WOHNTE PAUL SILBERGLEIT JG. 1881 DEPORTIERT 1942 GHETTO WARSCHAU / KIELCE ERMORDET IN TREBLINKA
HIER WOHNTE GERDA SILBERGLEIT VERH. BUERGENTHAL JG. 1912 HEIRAT / UMZUG / POLEN 1941 GHETTO KIELCE 1944 AUSCHWITZ RAVENSBRÜCK BEFREIT
HIER WOHNTE ERICH SILBERGLEIT JG. 1914 FLUCHT 1938 USA
Der Kaufmann Paul Silbergleit wurde 1881 in Warschau geboren. Im Jahre 1910 kam er nach Göttingen, wo bereits seit fünf Jahren sein älterer Bruder Max Silbergleit wohnte, und heiratete im Jahre 1911 Rosa Blum, die 1886 in Meseritz in der Grenzmark Posen- Westpreußen geboren worden war und ebenfalls seit 1910 in Göttingen wohnte. Rosa Blum war die jüngere Schwester von Lea Blum, die 1906 Pauls Bruder Max Silbergleit geheiratet hatte. Rosa besaß ein Schuhgeschäft im Papendiek 7, das sie nach der Heirat gemeinsam mit ihrem Mann führte. Im Jahre 1912 wurde das Geschäft auf Paul Silbergleit umgeschrieben, der trotz des wirtschaftlichen Einbruchs durch den Ersten Weltkrieg bald wieder als selbständiger Kaufmann erfolgreich war. Im Jahre 1919 zogen Paul und Rosa Silbergleit mit Familie und Geschäft hierher in die benachbarte Groner Straße. Die mit acht Zimmern großzügig geschnittene Wohnung der Familie lag im I. und II. Obergeschoss, das Geschäft im Erdgeschoss. Das Geschäft lief so erfolgreich, dass die Familie einen gutbürgerlichen Lebensstil pflegen konnte, zu dem auch Theaterabonnements und Bäderreisen nach Marienbad und Kissingen gehörten. An dem wirtschaftlichen Erfolg war Rosa Silbergleit ganz wesentlich beteiligt; sie war sozusagen die Seele des Geschäfts, in dem 3-4 Angestellte beschäftigt waren, nachdem Paul Silbergleit schwer herzkrank geworden war.
Paul und Rosa Silbergleit bekamen zwei Kinder, die im Jahre 1912 geborene Gerda und im Jahre 1914 den Sohn Erich. Gleich zu Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden sie Opfer von massiven Ausschreitungen. In der Nacht zum 12. März 1933 wurden zum ersten Mal die Scheiben ihres Geschäfts eingeschlagen. Im Vorfeld des reichsweit organisierten Boykotts jüdischer Geschäfte zog dann am 29. März 1933 ein organisierter, etwa 200 Mann starker SA-Trupp durch die Stadt und gezielt durch diejenigen Straßen, in denen sich jüdische Geschäfte befanden. Unter den 31 Geschäften, die innerhalb kürzester Zeit planmäßig zerstört und deren Besitzer angegriffen, verletzt und gedemütigt wurden, befand sich auch das Schuhgeschäft von Paul und Rosa Silbergleit hier an dieser Stelle. Zwei Jahre später verloren Paul und Rosa Silbergleit durch das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Durch Schikanen und die organisierte Judenfeindschaft erlitten sie immer stärkere wirtschaftliche Einbußen und erfuhren zunehmend die gesellschaftliche Ausgrenzung. Schließlich mussten sie 1937 das Geschäft radikal reduzieren und in ein unscheinbares Seitengebäude verlagern und zudem ihre Wohnung drastisch verkleinern, um überhaupt weiterhin notdürftig existieren zu können. In der Pogromnacht des 9. November wurde ihre Wohnung systematisch verwüstet und ausgeplündert, Paul und Rosa Silbergleit wurden verhaftet und ins Polizeigefängnis gebracht. Am nächsten Tag räumte ein Trupp der SS ihr Warenlager aus; die rund 2000 Paar Schuhe wurden schließlich unter den konkurrierenden Schuhgeschäften verteilt, darunter die noch bis ins vergangene Jahr bestehende Firma Frohme und die noch heute bestehende Firma Keil. Paul und Rosa Silbergleit sahen sich gezwungen, das Geschäft aufzugeben und mussten schließlich auch ihr Haus verkaufen. Ihr Sohn Erich Silbergleit, der seid 1938 in den USA lebte, versuchte vergeblich, seine Eltern aus Deutschland heraus zu holen. Als sie endlich um die Jahreswende 1 941/42 ein Visum erhielten, war es zu spät. Mit Weisung vom 1. Oktober 1941 hatte Heinrich Himmler weitere Auswanderungen von Juden aus Deutschland untersagt.
Am 26. März 1942 wurden mit mehr als einhundert Juden aus Stadt und Kreis Göttingen auch Paul und Rosa Silbergleit zusammen mit Max und Lea Silbergleit über Hannover-Ahlem und Trawniki ins Warschauer Ghetto deportiert.
Die Tochter Gerda Silbergleit war von ihren Eltern schon 1933 nach Lubochna in der Tschechoslowakei geschickt worden, auch um die gerade 21 Jahre alte junge Frau vor öffentlicher Anpöbelei durch organisierte junge Nazis zu schützen. Sie trat eine Stelle in einem Hotel an, dessen Inhaber Mundek Buergenthal noch im selben Jahr ihr Mann wurde. Im Jahr darauf wurde ihr Sohn Thomas Buergenthal geboren. Als im Winter 1938/39 die sog. Hlinka-Garde, eine von Deutschland unterstützte faschistische Miliz das Hotel okkupierte, flüchtete die Familie über Kattowitz und Warschau schließlich, schon unter den Bedingungen des von Deutschland begonnenen Krieges, nach Kielce, rund 180 Kilometer südlich von Warschau gelegen. 1941 wurde der mehrheitlich von Juden bewohnte Bezirk der Stadt zum Ghetto erklärt. 1942 konnten Gerda und Mundok Buergenthal Gerdas Eltern Rosa und Paul Silbergleit aus dem Warschauer Ghetto zu sich nach Kielce holen und sie so vor der mörderischen Liquidierung des Warschauer Ghettos durch die SS retten. 1944 wurde das Ghetto Kielce auf Weisung der Gestapo aufgelöst und seine jüdischen Bewohner in die Vernichtungslager deportiert; Paul und Rosa Silbergleit wurden nach Treblinka gebracht und dort bald nach der Ankunft ermordet. Mundek Buergenthal, seine Frau Gerda und der zehnjährige Sohn Thomas wurden nach Auschwitz gebracht, wo Mundek Buergenthal ermordet wurde. Gerda und ihr Sohn überlebten unter unsäglichen Bedingungen – getrennt voneinander – Auschwitz, und sie überlebten schließlich sogar, getrennt voneinander, die Todesmärsche, Gerda nach Ravensbrück, wo sie am 28. April 1945 im Außenlager Malchow von der Roten Armee befreit wurde. Thomas Buergenthal überlebte als elfjähriges Kind den Todesmarsch nach Sachsenhausen, wo er ebenfalls im April 1945 befreit wurde. Erst eineinhalb Jahre später trafen Gerda Buergenthal und ihr Sohn Thomas im Dezember 1946 hier in Gerdas Heimatstadt Göttingen wieder zusammen. Fünf Jahre später wanderten sie in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, wo Thomas Buergenthal schließlich als Jurist mit dem Interessenschwerpunkt Internationales Recht und Menschenrechte eine beeindruckende Laufbahn einschlug. Sie führte ihn über verschiedene Hochschulprofessuren schließlich als Richter an den Internationalen Gerichtshof in den Haag, das hauptsächliche Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Heute lebt er mit seiner Familie in Washington D.C. Vor zehn Jahren ehrten ihn Stadt und Universität Göttingen durch Verleihung der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät und die Umbenennung des Hauses der Stadtbibliothek in „Thomas Buergenthal-Haus“. 1939 hatte sich in diesem Haus das Polizeigefängnis befunden, wo seine Großeltern Paul und Rosa Silbergleit nach dem Novemberpogrom inhaftiert worden waren. Im vorigen Jahr wurde ihm das Große Bundesverdienstkreuz verliehen für seine Arbeit auf dem Gebiet der Menschenrechte.
Thomas Bürgenthal und seine Frau Peggy sind mit Kindern und Enkeln nach Göttingen gekommen, um heute an der Ehrung ihrer Angehörigen durch die Verlegung der Stolpersteine an dieser Stelle für Paul und Rosa Silbergleit und ihre Kinder Gerda und Erich teilzunehmen.
Sehr verehrte Anwesende
Den Schulen kommt nach dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons in besonderer Weise die Aufgabe zu, Schülerinnen und Schüler auf gemeinsame Wertegrundlagen zu verpflichten, sie in die Gesellschaft funktional zu integrieren. In einer zugleich von großem Wohlstand, wachsender Ungleichheit und identitärer Krise geprägten Gesellschaft wie dem heutigen Deutschland, ist dies eine Aufgabe, deren Erfolg von Beobachtern in Zweifel gezogen wird. Zu vielfältig erscheinen die Deutungsangebote anderer kultureller Kontexte, zu verlockend die einfachen Erklärungsmodelle aus den selbstreferentiellen „Echokammern“ der Social Media. Verstärkt wird diese Problematik vor dem Hintergrund der uns allen vor Augen stehenden inneren Bedrohungen der westlichen Demokratien.
Auch der Geschichtsunterricht ist vom Problem gelingender Identitätsstiftung nicht nur verstärkt betroffen, seit Menschen in Deutschland vor Krieg und Verfolgung Zuflucht suchen, deren autoritäre Regierungen Antisemitismus immer wieder zum Bestandteil schulischer Erziehung machen. Viel mehr noch stehen wir im Geschichtsunterricht über die totalitären Anfänge des 20. Jahrhunderts vor der Frage, wie die immer größer werdende Spanne kompensiert werden kann, die uns von der Gründungserzählung der deutschen Nachkriegsdemokratie trennt. Deshalb sind Zeitzeugen bei Schülerinnen und Schülern wichtige Referenzpunkte möglicher Identifikation und wecken bei der jungen, nachwachsenden Generation den Mut, Fragen zu stellen. Nicht viele dieser für uns alle so wichtigen Zeugen leben mehr.
Für das heutige Projekt der Erinnerung an einige wenige Menschen, an ihre Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung, auch an das schließliche Überleben einiger von ihnen, sind Schülerinnen und Schüler zweier Göttinger Gymnasien in Archive gegangen oder haben in anderer Form Überreste zu den Biografien der Betroffenen ausgewertet. Dabei sind sie auf die Erkenntnis gestoßen, wie bedrückend wenig Überlieferung von einem Menschenleben bleiben kann, wie oft sich die Spuren im Nichts verlieren. Quellenfragmente und vorliegende Forschungsarbeiten unterschiedlicher Art haben die Schülerinnen und Schüler herausgefordert, sich in Ansätzen vorzustellen, welchen Erfahrungen jene Menschen ausgesetzt gewesen sein mögen.
Erinnerung ist damit angestoßen, und abstrakte Großbegriffe des Unterrichts wie Totalitarismus oder Diktatur sind im Auge der Lernenden in etwas transformiert worden, was Albert Camus als notwendige Voraussetzung empathischer Mitmenschlichkeit benannt hat: Die „Abstraktion“ der monströsen Zahlen ist aufgelöst worden in einige konkrete Schicksale und die erzählbaren Überbleibsel der mit ihnen verbundenen Geschichte.
Als Lehrer danken wir den Hinterbliebenen und ihren Angehörigen für die Offenheit der Begegnung in der Erinnerung an Ihren Verlust. Wir danken dem Arbeitskreis, der die heutigen Verlegungen der Stolpersteine begleitet hat, für die Ermutigung, Schülerinnen und Schüler in die Gestaltung des heutigen Gedenkens durch musikalische und textliche Beiträge einzubeziehen. Und wir geben der Hoffnung Ausdruck, dass das Engagement der Schülerinnen und Schüler anderen ihrer Generation Ermutigung sein kann, die Erinnerung an die Notwendigkeit der Bewahrung unserer Wertegrundlagen wirksam zu pflegen.
Dr. Justus Goldmann
Felix-Klein-Gymnasium, Göttingen
Wir erinnern hier an Aenne Meininger und ihre Familie. Wenige Fragmente sind erhalten von Ihr, Ihrem Mann Eugen und ihren beiden Kindern, Hilde und Franz-Josef. Letzte Postkarten und Briefe dieser Frau hat die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem gerade erst im Internet veröffentlicht – ein unglaublicher Zufall. Unter den ungezählten Opfern der Shoah wählte man wenige Menschen aus: Aenne Meininger ist darunter. Wir lesen dort einen Brief von 1942 zum Geburtstag ihrer Tochter Hilde, die einige Jahre zuvor jung verheiratet mit Robert Garti nach Bulgarien emigriert war.
Aenne schreibt aus einem französischen Internierungslager. Der Wehrmachtszensur unterworfen, verbirgt sie ihren Verwandten die Situation. Eine befreundete Internierte notiert einige Zeilen am Schluss: „Wir teilen alle das selbe Los und müssen uns eben gegenseitig trösten.“ Ob sie wussten, was ihnen bevorstand, bleibt in diesem Brief offen.
30 Jahre zuvor hatte Aenne Stern, eine aus gutbürgerlichem Haus stammende deutsche Jüdin aus Mainz, mit Eugen Meininger in Göttingen die Ehe geschlossen. Kaum 100 m entfernt von hier, im 1. Stock der Schillerstraße 6, begannen Sie ihr gemeinsames Leben. Eugen Meininger führte damals mit seinem Cousin Harry jene Viehhandlung weiter, die in der Düsteren Straße / Hospitalstraße 1873 von Vater und Onkel gegründet worden war. Bis heute kann man bei genauem Hinsehen in der baufälligen Fassade des Hauses die Inschrift „Gebrüder Meininger“ lesen.
Im Alter von 38 Jahren, 1917, erhielt Eugen Meininger den Gestellungsbefehl zum Kaiserlichen Heer. Er wurde Mitglied im Reichsbund jüdischer Frontkämpfer und machte sich nach Kriegsende gegen die antisemitischen Anfeindungen durch Freicorps und Dolchstoßlegende stark.
Der wirtschaftliche Niedergang infolge des Krieges wirkte sich insgesamt auch auf den Betrieb der Meininger-Cousins aus. 1926 teilte man die Vermögenswerte des Gesamtbetriebes, und Eugen übernahm aus der elterlichen Firma gleich hier um die Ecke, in der Lotzestraße 22, einige Stallungsgebäude zur Miete. Ebenfalls 1926, im Jahr der Geschäftsneugründung, erhielt Aenne die Vollmacht für die Betriebsführung; da ist ihr Sohn Franz-Josef 5 Jahre alt, und Hilde besucht die 7. Klasse des Lyceums, des heutigen Hainberggymnasiums. 1931 werden Franz-Joseph und Ludwig Meininger, sein Cosuin, in die Oberschule für Jungen aufgenommen, für die 1928 ein Neubau errichtet worden war – das heutige Felix-Klein-Gymnasium.
Franz-Josef, der unsere Schule vermutlich in derselben Jahrgangsstufe wie sein Cousin Ludwig besuchte, hatte bereits 1933 die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen der Machtübernahme der Nationalsozialisten erfahren: Im Oktober musste er mit seinen Eltern und seiner Schwester aus der gutbürgerlichen Wohnung in der Schillerstraße ausziehen.
Die Meiningers wohnen nun hier in diesem Haus, in der Lotzestraße 20a. So beginnt die völlige Zerrüttung des alteingesessenen Betriebes durch die antijüdischen Zielsetzungen der NS-Politik. Alex Bruns-Wüstefeld hat in zahlreichen Skizzen umrissen, wie Eugen Meininger um Ruf und Umsatz kämpft, wie ihm auf Anordnung der Stadt Göttingen 1934 schließlich wichtige und sehr alte Geschäftsbeziehungen zum Rosdorfer Rittergut untersagt werden.
Sein Vermieter Sax berichtet später, wie er Eugen Meininger damals erlebt habe: „Herr Meininger sagte mir, dass dies das Ende seines Viehhandels bedeute. Ihm wurde dabei so schlecht, dass er sich am Zaun festhalten musste und dann kaum noch seine Wohnung erreichen konnte. Er war völlig gebrochen.“
Lange überlebte Eugen Meininger diese Demütigung und wirtschaftliche Bedrohung nicht. Am 19. Mai 1935 entzieht ihm die Stadt Göttingen die Gewerbeerlaubnis.1 Am selben Tag stirbt er an einem Herzanfall hier in diesem Haus, in der Lotzestraße 20a.
Tochter Hilde, die einen jüdischen Zahnmedizin-Studenten bulgarischer Herkunft in Göttingen kennen gelernt hatte, heiratet Robert Garti im Herbst des selben Jahres und emigriert mit ihm wenig später in dessen Heimat. 1948 wandert die Familie von dort nach Palästina aus.
Ihr Bruder Franz-Josef, kaum 16 Jahre alt, beschließt vor dem Hintergrund der Entwicklungen den eigenen Bildungsweg am Gymnasium zu beenden, das in der gleichgeschalteten Presse für seinen hohen HJ-Anteil gelobt wird. Er geht im November 1936 als Mitglied des jüdischen Pfadfinderbundes ins brandenburgische Ahrensdorf. Dort befindet sich ein – von der Gestapo geduldetes – landwirtschaftliches Lehrgut der zionistischen Auswanderungs-Bewegung. Wenig später gelingt ihm der Weg nach Palästina; dort meldet er sich nach Kriegsbeginn zu einer jüdischen Brigade der britischen Armee im Mandatsgebiet. Bei Gründung des Staates Israel baut er einen Moshav mit auf, nördlich von Tel Aviv.
Aenne Meininger blieb allein in Göttingen zurück. Zunächst versuchte sie sich mit einem kleinen Ölhandel durchzuschlagen, den ihr Mann noch 1935 gegründet hatte. Sie zog 1936 ins heimische Mainz, kehrte aber ein halbes Jahr später wieder nach Göttingen zurück, wo sie in der Gotmarstraße 9 notdürftig unterkam.
Nun verlieren sich ihre Spuren bis zu den Briefen aus Yad Vashem immer mehr. Von Ihrer Enkelin erfahren wir, dass Aenne zwischen 1936 und 40 nicht nur ihre Familie in Bulgarien besuchte, sondern sogar ihre Schwester in den USA. Weshalb kehrte sie von dort nach Europa, nach Deutschland zurück?
Quellen-Fragmente zeigen, dass sie 1940 nach Paris geflohen war. Die aus der letzten Lebenszeit in Frankreich überlieferten Postkarten sind in sicherem Französisch von ihrer Handschrift verfasst. Auch Verweise auf Kontaktpersonen an unterschiedlichen Orten Frankreichs deuten darauf hin, dass sie vielleicht meinte, hier am ehesten der Verfolgung entgehen zu können. Mochte sie sich durch die Beherrschung der Sprache sicherer fühlen? Wir wissen es nicht.
Sehr bald wurde sie in Frankreich interniert. Die längste Zeit, zwischen 1940 und 1942, verbrachte sie vermutlich im südfranzösischen Lager Gurs. Yad Vashem dokumentiert die Postkarten, die sie ihren Enkeltöchtern nach Bulgarien schickt.2 In inniger großmütterlicher Liebe schreibt sie den kleinen Mädchen, als käme sie in wenigen Wochen mit Geschenken zu Besuch.
Nach 2 Jahren Internierung wird sie im August 1942 in ein neues Lager überstellt: Camp Les Milles, wo sie nur wenige Tage bleibt. Aus dieser Situation ist vom 1. September 1942 ihr letztes Schreiben überliefert: Sie berichtet ihrer Tochter von einer bevorstehenden Abreise, der Eile des Kofferpackens. Und immer wieder von der Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Als Postscriptum setzt sie hinzu: „Lebt recht, recht wohl. Ausgerechnet an Franzens Geburtstag gehe ich fort –“ So wurde sie ins Sammellager nach Drancy verbracht.
Bereits eine Woche später, am 7. September – einen Tag nach ihrem 53. Geburtstag – musste sie in die Waggons nach Auschwitz steigen.
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Gunter Demnig verlegt die Stolpersteine in der Groner Straße 52. Quelle: Hinzmann
Göttingen. Sie sei kürzlich bei der Lektüre eines Artikels über das Thema Stolpersteine auf einen schönen Gedanken gestoßen: Wer sie auf dem Boden betrachten wolle, müsse sich verneigen. „Ein schöner Gedanke“, sagte Trudy Barton. Sie ist aus Kanada angereist, um an der Verlegung der Steine vor dem Stammhaus ihrer Familie in der Weender Straße 70 teilzunehmen. Es ist ein kleines Familientreffen. Ihre Schwester Diana Kanter kam aus Belgien, ihr Cousin Michael Hayden ebenfalls aus Kanada in das frostige Göttingen. „Man braucht in unserer Familie schon einen Reisepass“, sagt Kanter lachend. Diesmal haben die Steine sie zusammengeführt.
Über dem Eingang des Hauses mit der Nummer 70 ist der Name Hahn bis heute deutlich zu lesen. Seit Mittwoch schimmert die Erinnerung an Max Raphael, Gertrud, Tana, Nathan, Betty, Max, Leo, Rudolf und Hanni Hahn außerdem auf dem Fußweg vor dem Gebäude. „Zur Erinnerung und zur Mahnung“, sagte einleitend Heiner Willen von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die die Verlegung zusammen mit der Stadt und dem Geschichtsverein vorbereitet hat. Und er zitierte aus dem Talmud: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Mit den Steinen werde man genau das verhindern. Während Demnig die letzten Arbeiten am Pflaster der Fußgängerzone vornahm, stellte Rainer Driever die Biografien der Hahns vor.
Neue Stolpersteine erinnern an vier Orten an die Opfer des Nationalsozialismus
Durch die Stolpersteine entstehe ein „imaginärer Stadtplan für das jüdische Leben“, sagte Willen. Diesem folgten die mehr als hundert Teilnehmer der Gedenksteinverlegung zum Papendiek und anschließend zur Groner Straße. Hier berichteten Schüler des Max-Planck-Gymnasiums und der Historiker Peter Aufgebauer über das Leben einer weiteren jüdischen Familie. Die Schwestern Lea und Rosa Blum hatten die Brüder Max und Paul Silbergleit geheiratet und betrieben in Göttingen Geschäfte für Papier- und Lederwaren beziehungsweise für Schuhe, solange es ihnen in Nazideutschland möglich war. Wie auch die Ehepaare Hahn wurden sie Anfang der 40er Jahre deportiert und schließlich ermordet. Sohn Erich gelang die Flucht in die USA, Tochter Gerda überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück und lebte mit ihrem Sohn Thomas Buergenthal später wieder in Göttingen.
Der stand am Mittwoch vor dem Elternhaus seiner Mutter und zeigte sich gerührt: „Es tut mir leid, dass sie das nicht erlebt. Es hätte ihr gefallen.“ Buergenthal ist in dieser Woche mit Teilen seiner Familie aus den USA in Deutschland zu Gast. „Wir haben durch diese Steine wieder eine Verbindung zu Göttingen“, sagte er. Über Buergenthal sagte Stadträtin Petra Broistedt in ihren Grußworten, ihm sei es gelungen, Hass in Versöhnung zu verwandeln. Das wurde wenig später allen Zuschauern deutlich, als eine Frau sich persönlich bei ihm entschuldigte. Sie sei ein Kind der Täter. Eine Göttinger Versöhnungsgeste.
Auf der letzten Station verlegte Demnig die Steine vor dem Wohnhaus der Familie Meininger in der Lotzestraße 20a. Schüler des Felix-Klein-Gymnasiums erzählten auch ihre Geschichte von Entrechtung, Flucht, Deportation und Ermordung. Während die Eltern Aenne und Eugen nicht überlebten, konnten ihre Kinder Hildegard und Franz-Josef nach Bulgarien und Palästina fliehen.
Willen zeigte sich zufrieden mit der Stolpersteinverlegung – ein Projekt, das von der Stadt getragen werde. „Wir sind mitten in der Stadt angekommen.“
Von Markus Scharf
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Gunter Demnig verlegt die Stolpersteine in der Groner Straße 52. Quelle: V.Büchi
Der Grüne Stadtverband Göttingen hat die Patenschaft für einen Stolperstein für Gerda Silbergleit vor der Groner Straße 52 übernommen. Dieser wurde am Mittwoch, 7. Februar 2018, gemeinsam mit 17 weiteren Stolpersteinen für Göttinger Jüdinnen und Juden, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, bei einem feierlichen Gedenkrundgang durch den Künstler Gunter Demnig verlegt. Für die Grünen Göttingen ist dies ein Beitrag zur lebendigen Gedenkkultur in Göttingen.
Dazu Valentin Büchi, Mitglied des Stadtvorstandes: „Die Übernahme einer Patenschaft für einen der Stolpersteine bedeutet nicht nur, dass wir uns an der Finanzierung des Projektes beteiligen. Sie bedeutet vielmehr, dass wir die Verbrechen des Nationalsozialismus, aber genauso die Opfer der NS-Verbrechen niemals vergessen werden. Hinter den schrecklichen Zahlen des Holocaust und der Terrorherrschaft des NS-Regimes stehen individuelle Personen mit einer eigenen Geschichte und Persönlichkeit, deren Andenken es zu bewahren gilt. Die Verlegung der Stolpersteine ist in unseren Augen ein wichtiger Beitrag und wir möchten allen Initiativen, Vereinen und Personen danken, die die Verlegung möglich gemacht haben. Wir hoffen, dass dies auch in Zukunft im Konsens mit allen beteiligten Akteuren möglich sein wird.“
Gerda Silbergleit wuchs in Göttingen auf, von wo sie jedoch 1933 auch vor dem Hintergrund vermehrter gewalttätiger Übergriffe auf Jüdinnen und Juden nach Lubochna in die damalige Tschechoslowakei emigrierte. Dort wurde auch ihr Sohn Thomas Bürgenthal geboren, der heute als herausragender Menschen- und Völkerrechtsjurist international bekannt ist. Gerda Silbergleit und ihr Sohn Thomas Bürgenthal überlebten den Terror des Nationalsozialismus, mehrere Konzentrationslager und tagelange Todesmärsche – während des Martyriums mehrere Jahre lang getrennt, fanden sie sich erst nach dem Ende der NS-Herrschaft 1946 in Göttingen wieder. Ihr Mann Mundek Buergenthal wurde 1944 im Konzentrationslager Flossenbrügge ermordet.
Dazu erklärt Marie Kollenrott, Mitglied im Stadtvorstand: „Das Grauen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik lässt einen zutiefst betroffen und sprachlos zurück. Doch umso wichtiger ist es, darüber zu sprechen. Gerda Silbergleit war nicht nur die Mutter von Thomas Buergenthal, der trotz oder gerade wegen all des erlittenen Leides sein Leben dem Kampf für die Menschenrechte widmete und am Aufbau des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes beteiligt war und später sogar Richter am Internationalen Gerichtshof wurde, sondern auch eine starke Frau. Wie Thomas Buergenthal in seiner bewegenden Autobiografie schildert, beeindruckte sie ihn immer wieder durch ihren Mut, ihre Klugheit und einen Einfallsreichtum, der Beiden selbst in den schrecklichsten Situationen das Leben rettete. So kann Gerda Silbergleit auch heute noch ein Vorbild für uns alle sein. Halten wir ihr Andenken in ihrer Heimatstadt Göttingen gemeinsam lebendig, wird ihr Mut niemals vergessen sein!“
Kontakt:
Marie Kollenrott, Mitglied im Grünen Stadtvorstand, E-Mail: marie.kollenrott(at)gruene-goettingen.de Valentin Büchi, Mitglied im Grünen Stadtvorstand, E-Mail: valentin.buechi(at)gruene-goettingen.de