Über 150 Menschen – von jung bis alt – trafen sich am Freitag, den 12. Februar 2016 in der Göttinger Innenstadt. Sie begleiteten den Kölner Künstler Gunter Demnig, der an drei Stellen insgesamt 11 Stolpersteine für jüdische Opfer der Nazis verlegte.
In der Roten Straße 16 wurde der Familie Rosa und Siegfried Meyerstein gedacht, die in diesem Hause von 1917 bis zu ihrer Vertreibung und Ermordung 1941/42 wohnte. Schülerinnen und Schüler des Theodor-Heuss-Gymnasiums (THG) stellten die Familienmitglieder vor. Für die Stolpersteine für den 20jährigen Herbert, Sohn der Familie, und die Schwägerin von Rosa Meyerstein, Johanna Gans übernahmen sie die Patenschaft.
Schülerinnen und Schüler des Otto-Hahn-Gymnasiums haben sich mit dem Leben und Schicksal der Familie Paula und Hugo Meyerstein beschäftigt. Während Gunter Demnig vier Stolpersteine verlegte, berichteten die Schüler an der Oberen Masch 10, wie kompliziert das Leben für die Meyersteins war: finanzielle Probleme waren Dauerthema bei ihnen zuhause. Die Patenschaft für den Stolperstein für den 14jährigen Georg Meyerstein, der wie sein Vater 1942 in Auschwitz ermordet wurde, übernahmen die Schüler. Paula Meyerstein wurde wie ihr zweiter Sohn Ludwig im Ghetto Warschau umgebracht. Im Haus Obere Masch 10, das der Jüdischen Gemeinde gehörte, wohnten auch Fanny und Caesar Asser. 70jährig wurden beide über das Sammellager Hannover-Ahlem nach Theresienstadt verschleppt, wo sie 1943 umkamen. Zwei Stolpersteine erinnern jetzt an unsere jüdischen Mitbürger.
Caty und Frits Kaufmann waren aus den Niederlanden gekommen, um die Stolpersteinverlegung für ihre Großmutter Else Kaufmann an der Weender Landstraße 5 b mitzuerleben. In einer bewegenden Rede zeigte Frits Kaufmann Bilder seiner Großmutter, die 1942 zusammen mit den letzten verbliebenen Göttinger Juden nach Theresienstadt deportiert worden war und dort 1943 starb. Er warb dafür, dem Gedenken an die Untaten der Nationalsozialisten Raum zu geben und unsere Geschichte nicht zu vergessen.
Musikalisch umrahmten eine Schülerin und ein Schüler des THG die Verlegungen.
Auch im kommenden Jahr sollen Stolpersteine in Göttingen in das Straßenpflaster eingelassen werden, um dezentral in der Stadt der vertriebenen und ermordeten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger vor ihren ehemaligen Wohn- und Arbeitsstätten zu gedenken. Verantwortlich für das Stolpersteinprojekt in Göttingen ist die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V., die dabei mit dem Geschichtsverein und der Stadt kooperiert.
Heiner J. Willen, Vorsitzender der GCJZ
Fotos: Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Göttingen sofern nicht anders bezeichnet
Dr. Böhme baute sein Grußwort auf drei antisemitischen Texten aus der Nazizeit auf, die in Göttingen verbreitet waren:
Jude, Jude Itzenbiel wohnte früher Stumpfebiel. Weil ihn so die Christen hassen, zog er in’ Pandektengass’n. Pöff, pöff, pöff, da kommt ein Kinderwagen, Pöff, pöff, pöff, mit einem Jud’ beladen. Pöff, pöff, pöff, wo will der Jude hin? Er will wohl nach Jerusalem, wo alle Juden sind. Schmeißt sie ’raus, die ganze Judenbande, schmeißt sie ’raus aus unserm Vaterlande, schickt sie alle nach Jerusalem. Hackt se „beede Beene spitz“, sonst komm’ se wieder ’rin. Sie ziehn dahin, daher, sie ziehn durchs Rote Meer, die Wellen schlagen zu, die Welt hat Ruh’.
Rosa und Siegfried Meyerstein
Siegfried Meyerstein wurde am 15. Juni 1888 als Sohn von Magnus-Levy Meyerstein und Bertha Kaufmann in Bremke geboren, eines von fünf Kindern. 1913 kam er mit seiner Familie nach Göttingen, 1917 zog die Familie in das Haus Rote Straße 16. Siegfried heiratete 1919 die aus Rotenburg stammende Rosa Gans, wie er Jg. 1888. Zusammen hatten die beiden zwei Kinder, Heinz und Herbert, 1920 und 1922 geboren.
Siegfried übernimmt 1925 zusammen mit seinem Bruder die Viehhandlung des Vaters in der Mauerstraße 8, sie gründen die Firma „H.&S. Meyerstein“. Dabei handelt es sich um einen eher kleinen Betrieb, der aufgrund der starken (nichtjüdischen) Konkurrenz schon zwei Jahre später erste Verluste einfährt. In den darauf folgenden Jahren steigt die Verschuldung weiter, die Weltwirtschaftskrise ab November 1929 führt die Firma endgültig in den Ruin. Siegfried und Hugo müssen 1930 einräumen, die Schulden nicht mehr zurückzahlen zu können, und schließen im Januar des nächsten Jahres den gemeinsamen Betrieb.
Im Alter von 42 Jahren versucht Siegfried mit der „Viehhandlung Rosa Meyerstein“, die zwar auf den Namen seiner Frau läuft, de facto aber von ihm geleitet wird, einen Neuanfang. Der Ort bleibt derselbe. Rosa arbeitet im Geschäft und kümmert sich um die Buchführung, dabei ist es sicher von Nutzen, dass sie bereits eine Ausbildung an der Handelsschule abgeschlossen hat.
Da die Viehhandlung keine überregionale Bedeutung hat,ist die finanzielle Lage der Familie nach wie vor prekär. Rosa Meyerstein beginnt ab Ende 1931 aus der Not heraus, mit Haushaltswaren wie Waschmitteln zu handeln. Nachdem die Nazis 1933 an die Macht kommen, ist die Viehhandlung, so wie viele andere jüdische Geschäfte, zunehmend von antijüdischen Boykotten betroffen, 1935 müssen die Meyersteins den Laden aus finanziellen Gründen schließen.
Die Familie, sprich Siegfried, Rosa, die beiden Kinder so wie Magnus-Levy, Siegfrieds Vater, leben zu diesem Zeitpunkt in einer Fünf-Zimmer-Wohnung in normalen bürgerlichen Verhältnissen. Um den Unterhalt der Familie zu sichern, arbeitet Siegfried ab 1936 in verschiedenen Göttinger Baufirmen, hierbei muss man wissen, dass Juden unter den Nationalsozialisten eine feste Anstellung verweigert wurde, sodass Siegfried für einen sehr geringen Lohn von 4-5 Reichsmark pro Tag arbeitete, die Beschäftigungszeit schwankte zwischen knapp zwei Wochen bis über vier Monate. Damit wird der Hauswarenhandel von Rosa Meyerstein immer wichtiger, aber auch das reicht nicht, um die Familie zu ernähren, sie darf auch nur mit jüdischen Familien handeln. Magnus-Levy versucht ab März 1938 im Alter von 84 Jahren noch einmal in den Ziegen- und Ziegenfleischhandel einzusteigen, allerdings so erfolglos, dass ihm das Wohlfahrtsamt monatlich 38 RM zur Unterstützung zukommen lässt, aber nur bis Ende 1938. Denn Ende dieses Jahres tritt das Allgemeine Berufsverbot in Kraft und sowohl Rosa als auch Magnus-Levy müssen ihre Geschäfte aufgeben.
Siegfried Meyerstein wird im Zuge der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 verhaftet und kommt erst nach mehreren Wochen frei. Ab 1939 muss er immer wieder mit anderen Juden körperlich anstrengende Zwangsarbeit unter schlechten Arbeitsbedingungen leisten, so z.B. ab 1941 in der so genannten „Judenkolonne“ der Firma August Drege, in der er zusammen mit 14 anderen Juden als Tiefbauhelfer durch die Leine verursachte Hochwasserschäden in Rosdorf ausbessern muss. In der „Judenkolonne“ arbeitete nur die jüdische Bevölkerung, auch hier wurde die Ausgrenzung aus der Gesellschaft und sogenannten „Volksgemeinschaft“ besonders deutlich, Kontakt zu „arischen“ Arbeitern war ihnen verboten. Zu dieser Zeit ist die Familie Meyerstein aufgrund ihrer großen Not bereits auf Lebensmittelpakete ihres Sohnes Heinz angewiesen.
Anfang des Jahres 1941 verliert die Familie, d.h. Rosa, Siegfried und Großvater Magnus, ihre Wohnung in der Roten Straße und ist dazu gezwungen, zunächst in die Hospitalstraße 4 und dann in das Gemeinde-Wohnhaus Obere-Masch-Straße 10 zu ziehen, wo Magnus-Levy stirbt.
Knapp eine Woche, nachdem im März 1942 die „Judenkolonne“ der Firma August Drege aufgelöst ist, werden Siegfried und Rosa zusammen mit ihrer Schwester Johanna Gans am 26. März 1942 in das Sammellager Hannover-Ahlem gebracht und von dort aus über das Durchgangslager Trawniki in das Warschauer Ghetto deportiert. Sie sind nicht wieder zurückgekehrt, gelten als verschollen. Ihr letztes Lebenszeichen ist ein Brief an ihren Sohn Heinz im Juli desselben Jahres. Wahrscheinlich werden sie in Treblinka ermordet. Nach dem Krieg werden Siegfried und Rosa Meyerstein für tot erklärt.
Johanna Gans
Johanna Gans wird am 15. August 1890 als Tochter des Schlossermeisters Cappel Gans und seiner Frau Hedwig in Rotenburg an der Fulda geboren. Sie hat zwei ältere Geschwister, Willi und Rosa Gans.
Fast 48 Jahre lang lebt sie unverheiratet zusammen mit ihrer Mutter in ihrer Heimatstadt, wo sie als Näherin tätig ist. Johanna wird Zeitzeugin des Ersten Weltkriegs, der Weimarer Republik und der sogenannten „Machtergreifung“ 1933.
Im September 1938 stirbt ihr Vater. Am 9. November desselben Jahres erlebt sie die in Rotenburg besonders massiven Ausschreitungen gegen die Juden mit, muss mit ansehen, wie ihr Haus geplündert und zerstört wird, wie das Leben, das sie sich aufgebaut hat, in sich zusammenfällt. Johanna und ihre Mutter fliehen zusammen mit Johannas Tante, Karoline Piterson, im Dezember 1938 nach Göttingen, wo sie bei Johannas Schwester Rosa Meyerstein und ihrem Mann Siegfried in deren Wohnung in der Roten Straße 16 unterkommen.
Dort leben sie auf engstem Raum von einem geringen Einkommen, bis sie im Mai 1939 in das jüdische Gemeindehaus in der Weender Landstraße 26 eingewiesen werden, wo Hedwig am 6. April 1942 verstirbt. Den Tod ihrer Mutter erlebt Johanna allerdings nicht mehr, da sie bereits am 26. März desselben Jahres, zusammen mit ihrer Schwester Rosa und ihrem Schwager Siegfried, über Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki in das Warschauer Ghetto deportiert wird. Von dort aus bringt man Johanna Gans noch im selben Jahr in das Vernichtungslager Treblinka. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird sie für tot erklärt.
Herbert Meyerstein
Herbert Meyerstein wurde am 12. Juni 1922 hier in Göttingen geboren und wohnte mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Heinz Meyerstein, seinem Vater Siegfried Meyerstein und seiner Mutter Rosa Meyerstein, die als Rosa Gans geboren wurde, in der Roten Straße Nr. 16. Wie sein älterer Bruder besuchte Herbert Meyerstein die Voigt-Realschule und musste sie ca. 1934 zusammen mit Heinz aufgrund des dort herrschenden antisemitischen Klimas ohne Abschluss verlassen. Ab Mitte der dreißiger Jahre begann er im Alter von 13 Jahren eine kaufmännische Lehre bei der jüdischen Firma Schloss, die er nach der Pogromnacht im November 1938 abbrechen musste. Bereits ab 1933 erschwerte sich die finanzielle Situation der Familie, da Boykotte des jüdischen Viehhandels zunahmen. 1935 gaben sie den Viehhandel endgültig auf. Ab dem allgemeinen Berufsverbot 1938 war sowohl die neue Arbeit Siegfried Meyersteins als Bauarbeiter, als auch der Haushaltswarenhandel von Herberts Mutter verboten. Nach der Pogromnacht, in deren Zug Herberts Vater verhaftet wurde, lebte der sechzehnjährige Herbert zunächst mit seiner Mutter allein zusammen. Der Lebensunterhalt wurde durch kurzfristige schwere Arbeiten, die Herbert annahm, bzw. von den Lebensmittelpaketen des in die Niederlande emigrierten Bruders Heinz gesichert. So arbeitete Herbert gegen Ende des Jahres 1938 noch einige Wochen bei der Tiefbaufirma August Drege. Mit Hilfe seines Bruders verließ er Deutschland am 20. Juni 1939 endgültig und flüchtete mit gerade einmal 17 Jahren in die Niederlande.
Herbert lebte zunächst in Deventer bei einem Bauern, schließlich aber in Amsterdam bei einer jüdischen Familie. Am 15. Juli 1942 kam der Befehl zur Deportation aller holländischen Juden nach Polen. Herbert wurde nach Auschwitz deportiert. Aus Solidarität wollte sein Bruder Heinz ihn zunächst freiwillig begleiten, allerdings riet ihm sein nächstes Umfeld davon ab, da er nichts bewirken könne.
Am 29. August 1942, im selben Jahr in dem man seine Eltern ins Warschauer Ghetto deportierte, wurde Herbert im Alter von 20 Jahren in Auschwitz ermordet.
Im vergangenen Jahr haben wir im Papendiek Stolpersteine für Julius und Jenny Asser sowie ihre Kinder Kurt und Lissy verlegt.
Heute erneuern wir durch Verlegen von Stolpersteinen das Gedenken an Cäsar und Fanny Asser, die Eltern von Julius Asser und Großeltern von Kurt und Lissy Asser.
Cäsar Asser wurde 1872 in Altona, das seit wenigen Jahren preußisch war, geboren. Über Hannover kam er 1895 nach Göttingen. Er betrieb einen bescheidenen Rohproduktenhandel, der sich vor allem auf Altmetalle erstreckte. Die kleine Firma hatte ihren Sitz im Hinterhof einer Schmiede in der Johannisstraße und bestand im wesentlichen aus einem alten Schuppen. Da dieses Kleingewerbe nicht zum Lebensunterhalt reichte, arbeitete Cäsar Asser nebenbei seit 1895 auch als Totengräber der jüdischen Gemeinde.
Im Jahre 1898 hatte Cäsar Asser die ebenfalls 1872 geborene Fanny Lipschütz geheiratet, die aus Woidislaw in Polen stammte.
Das Paar bekam vier Kinder, Alexander, Julius, Erna und Paula. Alexander verstarb 1930 in Göttingen, Erna und Paula emigrierten mit ihren Familien 1937/38 nach Südamerika; Julius Asser, seine Frau Jenny und seine Kinder wurden im März 1942 deportiert – an sie erinnern die Stolpersteine vor dem Haus Papendiek 26.
Obwohl Cäsar Asser in seinem Lebensumfeld als fleißiger Mann galt, blieben die Lebensumstände seiner Familie ärmlich. Um 1927, als Cäsar Asser 55 Jahre alt war, trat sein Schwiegersohn Fritz Cohen, der Mann von Cäsar und Fannys Tochter Erna, in das Geschäft ein. Die wirtschaftlichen Verhältnisse zwangen die Familie, innerhalb von dreißig Jahren ein Dutzend mal in Göttingen auf der Suche nach günstigem Wohnraum umzuziehen. Seit 1933 bewohnten sie hier in der Oberen Maschstraße 10 ein bescheiden eingerichtetes Haus der Jüdischen Gemeinde, das auch als Altersheim diente. Als Cäsar Asser 66 Jahr alt war und sein Geschäft 1937 an seinen Schwiegersohn übergeben wollte, lehnte dies die mittlerweile längst nationalsozialistisch ausgerichtete Industrie- und Handelskammer ab, weil Fritz Cohen als Jude und angeblicher Kommunist politisch nicht zuverlässig sei. Schließlich sah sich Cäsar Asser gezwungen, im August 1938 seinen Handel einzustellen und das Geschäft abzumelden. Cäsar und Fanny Asser waren seit Oktober 1938 auf eine monatliche Unterstützung des Städtischen Wohlfahrtsamtes angewiesen, die aber dann wenige Monate später ausblieb, weil die Stadt sämtliche Sozialleistungen an jüdische Bürger einstellte.
Mit ihren begrenzten Möglichkeiten sprang die jüdische Gemeinde ein und sicherte notdürftig den Lebensunterhalt auf bescheidenstem Niveau.
Als organisatorische Vorbereitung auf die Deportation in den Osten wurden Cäsar und Fanny Asser im April 1942 zwangsweise in das Judenhaus der Weender Landstraße 26 einquartiert und mit dem zweiten großen Deportationstransport am 21. Juli 1942 zusammen mit etwa 50 noch verbliebenen meist älteren jüdischen Bewohnern Göttingens nach Theresienstadt verschleppt. Dort ist Fanny Asser am 3. Februar 1943 gestorben, Cäsar Asser starb 5 Monate später, am 3. Juli 1943. Beide wurden 71 Jahre alt.
Heute holen wir die Erinnerung an unsere früheren Mitbürger Cäsar und Fanny Asser zurück in unsere Stadt und an hierher ihren letzten selbstgewählten Wohnsitz.
Wir haben uns heute hier versammelt, um der Familie Meyerstein zu gedenken, welche wie viele europäische Juden Opfer der schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten wurde.
Die Geschichte der Familie Meyerstein ist darum von Leid geprägt, auch wenn sie - wie üblich - mit einem freudigen Ereignis beginnt: mit einer Eheschließung: Hugo Meyerstein aus der nahe gelegenen Ortschaft Bremke heiratete 1919 Paula Jaretzki, die aus Posen stammte. Er war damals 28 Jahre alt, seine Frau 29. In den darauffolgenden Jahren wurde das Paar mit der Geburt von vier gesunden Kindern gesegnet.
Leider wurde das Glück durch die schwierige finanzielle Lage der Familie und die politische Situation getrübt. So war Hugo Meyerstein nicht nur als Opfer der Weltwirtschaftskrise, sondern auch vor allem aufgrund des Boykotts gegen jüdische Geschäfte gezwungen, seine Selbständigkeit aufzugeben. Zu Beginn seiner Ehe besaß er noch eine Viehhandlung in der Roten Straße 33. Ihr Betrieb musste nach schwierigen Jahren im Januar 1937 endgültig eingestellt werden. Von nun an musste sich Hugo Meyerstein als Arbeiter bei verschiedenen Baufirmen verdingen. 1939 gehörte er als Zwangsarbeiter zur sog. „Judenkolonne“ der Hoch- und Tiefbaufirma August Drege.
In ihrer bitteren Armut sahen sich die Meyersteins immer wieder gezwungen, in erschwinglichere Wohnungen umzuziehen, bis sie schließlich in dem jüdischen Gemeindewohnhaus in der Oberen-Masch-Straße 10 ein dauerhafteres Obdach fanden. Hier stehen wir heute und erinnern an sie. Das Gebäudenebenan, ein neuerer Bau, dient zur Zeit als vorübergehende Aufnahmestelle für Flüchtlinge. Das Haus gibt also heute Schutzbedürftigen ein Dach über dem Kopf und bietet ihnen Sicherheit, eine Sicherheit, die den Juden damals grausam verwehrt worden ist.
Gewiss haben auch die Kinder des Ehepaars Meyerstein kein sorgenfreies Leben genossen: Die Judendiskriminierung der Nationalsozialisten erreichte in Göttingen von Anfang an ein erschreckendes Ausmaß. Es wird berichtet, dass der jüngere Sohn, Georg Meyerstein, am Tag nach der sog. „Reichspogromnacht” verängstigt und müde die Schule betrat, nur um als Jude von seinem Lehrer für immer des Unterrichts verwiesen zu werden. Wegen dieses Schulverbots wurde er ab 1940 mit anderen jüdischen Kindern aus Göttingen privat unterrichtet. Dieser Schulersatz wurde jedoch kurz darauf ebenfalls verboten und eingestellt.
Der ältere Sohn der Familie, Ludwig, war zur Zeit des Machtantritts der Nationalsozialisten kein Schüler mehr und musste in verschiedenen Städten und Zwangsarbeiterlagern schwerste körperliche Arbeit verrichten. Er wurde von dieser Zwangsarbeit, die er zuletzt in Bielefeld leistete, nur entlassen, um am Tag der Deportation wieder in Göttingen zu sein.
Wie die anderen jüdischen Göttinger wurde die Familie am 26. März 1942, als die sog. „Endlösung“ beschlossen war, auf dem Hof der Albanikirche versammelt und durch die Stadt zum Bahnhof getrieben, Anschließend wurden sie nach Hannover in das Durchgangslager Ahlem verschleppt und dann gemeinsam mit Tausenden anderen Juden in das Warschauer Ghetto deportiert. Hier verlieren sich die Spuren der Meyersteins. Vermutlich ist die Familie in Warschau oder in einem Vernichtungslager auf gewaltsame Art und Weise ums Leben gekommen. Grausam war dort der Hunger, die Kälte und die Erschöpfung, rücksichtslos der Ausstoß aus der Gesellschaft und unmenschlich die Erfahrung der Eltern, den Tod der eigenen Kinder machtlos miterleben zu müssen.
Betroffen vom Schicksal dieser Familie, entwickelte sich zu Beginn unserer Vorbereitung auf die Verlegung der Stolpersteine unter uns eine angeregte Diskussion. Wieso sollten ausgerechnet auf Betonwürfel montierte Messingplatten angemessen an die jüdischen Opfer des NS-Regimes erinnern? Welches Denkmal wäre denn angemessen? Wird es überhaupt jemals irgendein Denkmal geben, das den Todesopfern des NS-Regimes gerecht wird? Würden die Opfer selber, könnten sie uns sehen, unsere Bemühungen gutheißen?
Wir sehen in den Stolpersteinen einen Pfad, der durch ganz Europa reicht und nun auch seinen Abdruck mitten durch Göttingen hinterlässt. Stolpersteine sind eine spezielle, aber vor allem individuelle Art, an die Verstorbenen zu gedenken. Sie lassen uns aus unserem Alltag aufschrecken, den Kopf senken und die Grausamkeiten realisieren, von denen wir lasen und hörten. Die Stolpersteine rütteln wach beziehungsweise bewirken wortwörtlich ein „Wachstolpern”. Denn wir alle wissen zwar, was im Holocaust passiert ist, doch wissen wir auch, ob deportierte Juden früher in unserem Haus gewohnt, unsere Treppe genutzt und auf den Straßen gegangen sind, auf denen wir heute täglich gehen?
Stolpersteine geben also einen Namen und einen Ort zurück. So wird ein Gesicht der Vergangenheit geschaffen, das auch den einstigen Alltag der einzelnen deutschen Juden im Allgemeinen und nun speziell auch der Familie Meyerstein wieder aufleben lässt.
Der Nationalsozialismus hat sehr gezielt versucht, seine Opfer nicht nur zu verdrängen und zu ermorden, sondern sie auch aus dem Gedächtnis zu löschen. Dieses Denkmal ist ein Versuch, ihnen ihren Namen und ihr Haus zurückzugeben und dem Vergessen entgegenzuwirken: Hugo Meyerstein, Paula Meyerstein, Ludwig Meyerstein, Georg Meyerstein haben hier unter uns ihren Alltag bestritten.
Wir, die Schülerinnen und Schüler des Otto-Hahn-Gymnasiums, haben uns entschieden, Paten eines Stolpersteins zu werden. Wir haben den Stein von Georg Meyerstein ausgesucht, der zu Zeitpunkt seines Todes noch jünger war als wir heute. Das, was wir mit unseren 17 und 18 Jahren erleben, durfte er niemals erleben. Mit diesem Stolperstein wollen wir an seine genommene Jugend, an sein genommenes Leben erinnern. Hiermit bekommt Georg Meyerstein einen Ort des Gedenkens und einen kleinen Teil seines Lebens zurück.
Else Kaufmann wurde am 26. Januar 1877 in Salzwedel als Tochter der Eheleute Marianne und Bernhard Beschütz geboren. Sie heiratete im Jahr 1900 den Göttinger Arzt und Sanitätsrat Julius Kaufmann. Ihre Eltern starben in der Zeit des Ersten Weltkriegs in Göttingen.
Die Kaufmanns hatten drei Kinder:
Fritz, geboren 1901, war verheiratet mit Ilse Liebert. Er emigrierte 1934 nach Almelo in den Niederlande und starb dort 1952.
Klara - genannt Thea -, geboren 1902, war verheiratet mit Arthur Götting. Die Eheleute bewohnten das elterliche Haus auch nach dem Krieg. Klara Götting starb 1972 in Göttingen.
Hans, geboren 1911, war Medizinstudent und emigrierte 1936 nach Brasilien. Dort arbeitete in der von Deutschen gegründeten Kolonie „Roland“ (Rolandia) und später in Itapeva. Er starb im November 2006 in Sâo Paulo, Brasilien.
Die beiden ersten Kinder von Else und Julius Kaufmann kamen in der Prinzenstraße 2 zur Welt, 1908 kaufte die Familie das Haus Weender Landstraße 5b, an dessen Stelle wir heute stehen. Dort wurde Hans geboren.
Anfang der 1920er Jahre wohnte Elses Cousin Julius Philippson in Göttingen, der später im Internationalen Sozialistischen Kampfbundes aktiv am Widerstand gegen die Diktatur beteiligt war und im August 1943 in Auschwitz starb. Elses Mann Julius nahm 1928 an der Gedenkfeier für Leonard Nelson teil, dem Gründer des Kampfbundes. Eine Nähe der Familie zum ISK ist daher nicht unwahrscheinlich. Zudem hatte die Familie Kontakt zu dem jüdischen Porträtisten und Landschaftsmaler Hermann Hirsch in Bremke, ebenfalls ein Verwandter, der Else 1922 großformatig porträtierte.
1935 starb Elses Ehemann Julius, der als praktischer Arzt bis zuletzt seine Praxis in Göttingen betrieb. Ihre Tochter Klara, die 1929 nach Eckernförde gegangen war, kam 1937 zusammen mit ihrem Mann wieder nach Göttingen zurück, um ihrer Mutter zur Seite zu stehen.
Ein im August 1939 gestellter Antrag von Else Kaufmanns Onkel Robert Philippson aus Magdeburg zusammen mit seiner Frau Franziska zu ihr zu ziehen, wurde von der Stadt Göttingen mit der Begründung abgelehnt, dass man „grundsätzlich gegen den Zuzug auswärtiger Juden wäre”.
Ende der 1930er Jahre wurde das Kaufmann'sche Haus zu einem sog. „Judenhaus“ umfunktioniert. Eine ganze Reihe von Juden aus Göttingen und Umgebung mussten dort einziehen, sodass ab 1941 neben Else Kaufmann und dem Ehepaar Götting noch weitere neun Personen das Haus Weender Landstraße 5b bewohnten.
Else Kaufmann wurde am 21. Juli 1942 zusammen mit den letzten in Göttingen verbliebenen Juden deportiert. Sie wurde in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt und traf dort ihre Schwester Clara Marcuse und deren Tochter Trudi. Darüber hinaus war auch ihr Großonkel, der Geografieprofessor Alfred Philippson, dorthin deportiert worden. Im November 1942 trafen zudem noch ihr bereits erwähnter Onkel Robert und seine Frau Franziska im Konzentrationslager ein. Beide starben noch vor ihr. Else Kaufmann starb in Theresienstadt am 12. August 1943 an Herzversagen.
Bei Ankunft in unserem Hotel gestern abend sah ich einen Stadtplan. Darauf zu lesen war das Motto “Göttingen Stadt, die Wissen schafft” und dachte mir, dass auch dieses Wissen dazu gehört obwohl es keine Wissenschaft ist.
Zuerst möchte ich im Namen der Familie Herr Dr. Rainer Driever sehr danken, der sich soviele Mühe gegeben hat, um dieses für unsere Familie zu ermöglichen, sowie auch damals für Hermann Hirsch, auch ein Mitglied unsere Familie.
Erinnern und nicht vergessen
Dass wir als Familie hier stehen ist was besonders als man in Betracht nimmt, was in der Vergangenheit geschehen ist. Das hat damit zu tun, dass wir ausgezogen sind ohne Hass gegen Deutschland, was wir unserer Mutter zu Verdanken haben und auch dass euer Land seine volle Verantwortung genommen hat für was in der Nazizeit geschehen ist.
Liebe Menschen, wir sind hier heute zusammen, damit wir erinnern und nicht vergessen, dass die 6.000.000 Opfer des Holocaust Menschen waren wie du und ich.
Menschen die gespielt haben, Freundschaften geschlossen haben, in die Schule gegangen sind, sich verliebt haben, das Leben geschenkt haben an Nachwuchs, die geträumt haben, Hoffnungen hatten, (zeigen Bild von Grossmutter und Grossvater um 1900) die aber im letzten Teil ihres Lebens nur Angst und Elend gekannt haben.(Foto Grossmutter Else mit Sohn Fritz um 1935)
Als meine Frau und ich kurz nach die Wende in die ehemalige DDR fuhren, fuhren wir in Hamburg vorbei am Haus der Schwester meines Großvaters und ihrem Mann, die sich selbst das Leben genommen haben und machten eine Photo von dem Haus und schickten das an den Bruder meines Vaters, der im Exil in Brasilien lebte. Ich bekam als Antwort einen sehr emotionellen Brief: Denn hinter einem von diesen Fenstern hat seine Mutter ihm nachgeschaut als er an Bord ging und das war das letzte, was er von Sie gesehen hat.
Durch diese Stolpersteine bekommen diese Menschen eine bestimmte Identität.
Aber eine Identität ist noch kein Gesicht, ist noch keine Persönlichkeit. Das wurde Ihnen für immer genommen mit der Konsequenz, dass auch wir, die Enkelkinder wie meine Bruder und Schwester und unsere Kusinen in Brasilien nie die Möglichkeit hatten, sie kennen zu lernen. Aber in uns und durch uns lebt sie weiter, trotz ihres tragischen Tods in Theresienstadt. Unsere Großmutter Else Kaufmann-Beschütz.
Frits Kaufmann
Copyright © 2016 Göttinger Tageblatt — mit Genehmigung