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Geschichte der Stolpersteine in Göttingen

Flyer zu den Stolpersteinen herunterladen: →hier (PDF-Datei)

Erster Stolpersteinverlegung am 26. Mai 2012

Gedenken an Opfer der Nazi-Zeit

Übersicht

Am Samstag, dem 26. Mai 2012, verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig den ersten Göttinger Stolperstein auf einem Privatgrundstück. Der gemeinsamen Initiative von christlich-jüdischer Gesellschaft und Bonifatiusschule Göttingen ging ein einstimmiger Beschluss der jetzigen Haus- und Eigentümergemeinschaft Bühlstraße 4 voraus, die den Wunsch hatte, an die frühere Bewohnerin und Eigentümerin der Immobilie, Hedwig Steinberg, zu erinnern. Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 10 R 1 der Bonifatiusschule begaben sich auf Spurensuche: Die Klasse widmete dem Thema „Judentum in Stadt und Landkreis Göttingen“ eine ganze Projektwoche, unternahm Exkursionen und Recherchen, besuchte das Duderstädter Stolpersteine-Projekt und fand noch eine hochbetagte Zeitzeugin, die damals zusammen mit dem Ehepaar Steinberg im Haus gewohnt und deren tragisches Ende selbst miterlebt hatte. Günther Demnig Mit seinem Stolperstein-Projekt erinnert Gunter Demnig an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing in den Boden einlässt, in diesem Falle in den Zugang innerhalb der Grundstücksgrenzen. Göttingen ist die 745. Gemeinde, in der ein Stolperstein verlegt wurde. Inzwischen sind es gut 35000 Stolpersteine, von Rotterdam bis in die Ukraine, von Oslo bis nach Rom. Hedwig Steinberg war 1889 mit ihrem Ehemann, dem Rechtsanwalt Hugo Steinberg, nach Göttingen gekommen und wohnte seit 1915 in dem Dreiparteienhaus im unteren Ostviertel. Von dort wurde sie am 21. Juli 1942 deportiert, zunächst, wie viele andere Göttinger Jüdinnen und Juden, in das Sammellager Hannover-Ahlem, dann weiter nach Theresienstadt und Minsk, wo sich ihre Spur verliert. Sie gilt daher als verschollen, was auf dem Stolperstein mit drei eingravierten Fragezeichen angedeutet wird. Der vollständige Text lautet: Stolperstein für Hedwig Steinberg
HIER WOHNTE
HEDWIG STEINBERG
JG. 1867
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
MINSK
???

August 2015: Predigt zum Israelsonntag in St. Johannis, Göttingen, von Pastor i.R. Dirk Tiedemann

Die Gebote sind zumeist Verbote. Tu’s nicht!, sagen sie. Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht falsch Zeugnis reden. Tu’s nicht! Die Gebote, die meisten, sind negativ formuliert.

Bei einem Gebot zumindest ist das auffallend anders, bei dem Erinnerungsgebot. – Das ist keines der Zehn Gebote aus dem 2. oder 5. Buch Mose. Das ist eines, das einem in der Bibel, der jüdischen Bibel, unserem Alten Testament, immer wieder begegnet: das Erinnerungsgebot. Es besteht nur aus einem einzigen Wort: Gedenke! oder – im Deutschen sind´s dann zwei Worte - Erinnere dich!

Elefantengedächtnis. Ich weiß nicht, ob es das wirklich gibt. Jedenfalls – der Begriff sagt: Elefanten vergessen nicht. Menschen schon. Zu ihrem Leidwesen. Manchmal auch zu ihrem Glück; wenn sie Belastendes nicht mehr länger mitschleppen müssen, endlich vergessen können.

Gedenke! Erinnere dich! – Wie lange? Wie lange muss ich mich erinnern – als Deutscher, als Christ – an das, was Juden von Christen, von Deutschen angetan worden ist. Wie lange? – Fluch oder Gnade des Vergessens. – Wie lange müssen wir gedenken? Und wie gedenken? Erinnerung ist heikel.

Stichwort – das stand oft genug im Göttinger Tageblatt – Stolpersteine.

Die ersten sind gelegt, hier St. Johannis ganz nahe: für die Familie Katz in der Groner Straße, für die Familie Asser im Papendiek. Aber einfach war‘s nicht.

Erinnerung darf wohl – manchmal muss sie auch! – schmerzend sein, aber andere verletzen soll sie nicht. Und manche Juden fühlten sich durch die bloße Vorstellung von Stolpersteinen schon verletzt, Frau Tichauer vor allen: Durch diese Steine würden die Namen derer, an die erinnert werden sollte, mit Füßen getreten.

Deswegen der Göttinger Kompromiss: nur für diejenigen im Dritten Reich verfolgten Göttinger Juden wird ein Stolperstein gesetzt, deren Angehörige sich damit ausdrücklich einverstanden erklärt haben.

Gut. Aber zum Beispiel Georg Meyerstein. Aus seiner Familie hat keiner überlebt. Kann dann auch keiner mehr sein Einverständnis geben für einen Stolperstein mit seinem Namen? Fällt er der Vergessenheit anheim?

Gedenke! Einmal im Jahr erinnern sich die Christen – z.B. die, die am 11. Sonntag nach Pfingsten in die Kirche gehen – an ihr Verhältnis zu den Juden. Das ist schwierig. Schon zu denken schwierig. Denn – vielleicht haben Sie Paulus noch im Ohr (Epistellesung: Römerbrief, Kapitel 11) – sind die Juden nicht das auserwählte Volk? Oder waren sie es nur? Sind seit Christus die Christen die Erwählten – und die Juden als Gottes Volk enterbt?

Das Verhältnis von Juden und Christen. Schon das zu denken ist schwierig. Aber auf dem Hintergrund der Geschichte, die wir haben, ist das noch viel schwieriger! Juden und Christen in Deutschland – gedenke! Erinnere dich!

Wir haben das einmal versucht; ist schon über zwanzig Jahre her: Goldene Konfirmanden, Geburtsjahr 1926/7, haben sich erinnert, wie das war in Göttingen 1938/9 zwischen Juden und Christen. Welche Lieder sie damals, damals noch Kinder, gesungen haben, welche Spottverse:

Jude, Jude Itzenbiel / wohnte früher Stumpfebiel
weil ihn so die Christen hassen, zog er in´ Pandektengassen.

Pöff, pöff, pöff, da kommt ein Kinderwagen
pöff, pöff, pöff mit einem Jud´ beladen.
Pöff, pöff, pöff – wo will der Jude hin?
Er will wohl nach Jerusalem, wo alle Juden sind.
Schmeißt sie raus, die ganze Judenbande,
schmeißt sie raus aus unserm Vaterlande!
Schickt sie alle nach Jerusalem.
Hackt se beede Beene spitz,
sonst komm‘se wieder ‘rin!

Und (gesungen):

Sie ziehn dahin, daher,
sie ziehn durchs Rote Meer.
Die Wellen schlagen zu,
die Welt hat Ruh.

Frau Thiel, geb. Müller, konnte sich erinnern, wie sie zwei Tage nach dem Brand der Synagoge noch einmal nach Schulschluss dahin gegangen waren: „Die qualmte immer noch.“ Die Familie ihrer Klassenkameradin Lissy, die Assers – nachdem sie vorher in der Weender Straße, dann im Papendiek gewohnt hatten – waren schließlich in der Masch, im Gebäude der Synagoge untergekommen, hatten nun keine Wohnung mehr.

„Warum kommst du so spät?“ hatte Mutter Müller ihre Tochter gefragt. „Wir sind noch einmal bei Lissys Haus vorbeigegangen.“ – Da hatte sie sich eine Ohrfeige eingefangen, die einzige – jedenfalls die einzige, an die sie sich erinnern könne. „Unglück anderer ist nichts zum Angucken!“ hatte die Mutter zur Begründung gesagt.

Als am 17. März dieses Jahres für die Familie Asser die Stolpersteine gesetzt wurden, war von Lissys Klassenkameradinnen nur noch Erika Mischke dabei. Sie ist wohl die letzte noch Lebende.

Kann man Erinnerung vererben? Oder wird sie sozusagen natürlich gelöscht, wenn die Zeitzeugen sterben? – Eingetaucht in den Strom des Vergessens? – Und wenn – ist das gut so?

Die Griechen, die alten Griechen, waren der Meinung: Ja! In Athen – nach den Gräueln des Peloponnesischen Krieges – hat man das sogar von Staats wegen angeordnet: an Schlimmes, an vergangenes Unrecht durfte nicht mehr erinnert werden. Die Regierenden in Athen sahen sonst Zusammenleben und Zukunft gefährdet: nicht mehr davon reden, nicht mehr erinnern, Vergangenes vergangen sein lassen!

Liebe Gemeinde, das ist ernsthaft zu überlegen. – Aber ich ticke da eher jüdisch: Gedenken, meine ich, tut gut; auch wenn es wehtut. Erinnerung ist manchmal eine bittere Medizin; aber sie kann heilen helfen. Erinnerung ist der Boden, auf dem Hass wachsen kann, ja. Aber auch Frieden.

„Gebt einander ein Zeichen des Friedens!“ heißt es bei der Feier des Abendmahls. Und das tun wir dann. „Solches tut“, hat Jesus gesagt, „solches tut zu meinem Gedächtnis!

Gedächtnis, sein Gedächtnis macht Frieden möglich. Amen.