Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Göttingen e.V.
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-- Göttingen
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Zur Geschichte des Jüdischen Lehrhauses Göttingen
Das Jüdische Lehrhaus Göttingen wurde im Jahr 2002 von Eva Tichauer Moritz gegründet.
Geboren wurde sie in Chile, wohin ihre Eltern in den 1930er-Jahren vor der Verfolgung durch
die Nationalsozialisten geflohen waren. Während ihrer Schulzeit arbeitete sie als Journalistin,
studierte dann Pädagogik und Spanisch. Wegen ihres politischen Engagements geriet sie
während der Pinochet-Diktatur in Gefahr und wurde 1975 auf Initiative der deutschen Regie-
rung zusammen mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern nach Deutschland ausgeflo-
gen. Hier war sie dreißig Jahre als Lektorin für Spanisch tätig, erst in Hamburg, dann in Göt-
tingen.
In Göttingen engagierte sie sich zunächst für die Lateinamerika-Vereine der Stadt, danach in
der Aids-Hilfe. Angeregt durch den Göttinger Oberbürgermeister Arthur Levi, machte sie sich
zur Aufgabe, das nach 500 Jahren Geschichte ausgelöschte Judentum in der Stadt wieder-
zubeleben. 1994 reaktivierte sie gemeinsam mit andern die (liberal ausgerichtete) jüdische
Gemeinde, deren Vorsitzende sie bis 2001 war. Aufgrund von Unstimmigkeiten über das Ver-
ständnis, was Judentum heute bedeute, gründete sie dann 2005 die konservative Jüdische
Kultusgemeinde Göttingen. Angelehnt an den Prinzipien der im 19. Jahrhundert entstande-
nen Masorti-Bewegung, sollte diese Gemeinde die traditionellen Werte und Bräuche des Ju-
dentums mit der modernen Welt verbinden.
Eine Herausforderung stellte für sie der Zuzug zahlreicher jüdischer sog. Kontingentflücht-
linge aus der ehemaligen Sowjetunion dar, die zunächst in dem Göttingen benachbarten
Grenzdurchgangslager Friedland eintrafen und dann zum Teil in Göttingen ihre neue
Wohnstätte bekamen. Es zeigte sich, dass diese Menschen dem jüdischen Glauben weithin
entfremdet waren und deshalb wieder die religiösen Fundamente errichtet werden mussten.
Diesem Ziel diente auch das, was Eva Tichauer Moritz ihr Herzensanliegen nannte. Im Jahr
1899 hatten die Brüder Löwenstein in der Innenstadt ein großes Geschäfts- und Wohnhaus
errichtet, in dem sie für sich und andere gläubige Familien eine Mikwe (ein rituelles Reini-
gungsbad) eingebaut hatten. 2014 wurde in diesem Haus das koscher betriebene „Restau-
rant Löwenstein“ eröffnet, die Mikwe restauriert und ein Betraum eingerichtet. Das Restau-
rant wurde dank Eva Tichauer Moritz‘ Initiative zu einer Begegnungsstätte der in Göttingen
lebenden Jüdinnen und Juden, auch solcher, die bis dahin ihr Judentum unerkannt lebten
und sich nun zu ihm bekannten. Hier fanden auch die Lernnachmittage statt sowie die Ge-
denkfeiern zum 9. November, bezeichnet als „Lange Nacht der Erinnerung“. 2022 musste
das Restaurant zum Kummer von Eva Tichauer Moritz schließen, und mit ihm ging ein be-
deutender Ort der Begegnung für die Göttinger Jüdinnen und Juden verloren. Die Jüdische
Kultusgemeinde hat heute noch hier ihren Sitz.
In dieser Zeit hat Eva Tichauer Moritz ein Projekt begonnen, mit dem sie Überlebende der
Shoah, die in Göttingen gelebt hatten, in deren neuen Heimatländern Israel, Chile, Argenti-
nien, den Niederlanden und den USA aufsuchte und per Video interviewte. So kam auch ein
ergreifendes Interview mit Thomas Buergenthal zustande, der als Zehnjähriger ins KZ depor-
tiert worden war, Shoah und Todesmärsche überlebte und in Göttingen seine hier geborene
Mutter wieder traf, danach in die USA emigrierte, dort Professor für Völkerrecht und dann
Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag wurde. Dieses Interview wurde am 9.
November 2023 vom Lehrhaus nach der Gedenkfeier am Mahnmal der ehemaligen Syna-
goge im Thomas-Buergenthal-Haus einer großen Zahl von Zuhörern vorgestellt.
Eva Tichauer Moritz war nicht nur eine energische, sondern auch streitbare Person. Einen
Konflikt hatte es in Göttingen über die Verlegung von sog. Stolpersteinen gegeben. Während2
Angehörige des liberalen Judentums sich für eine solche Verlegung aussprachen, wandte sie
sich scharf dagegen, dies mit der Begründung, hier würde die Erinnerung an die Ermordeten
„mit Füßen getreten“, und ebenso auch der Name Gottes (-el) selbst, der in vielen jüdischen
Namen enthalten ist. Diesen Streit verlor sie.
Ein anderer Streit ist dem Schreiber dieser Zeilen unvergesslich. Es war vor etwa 25 Jahren.
Da wurde in Hannoversch Münden eine Feier zum Volkstrauertag organisiert, dem Tag, der
früher „Heldengedenktag“ hieß. Die Verantwortlichen hatten dazu – ganz sicher in bester Ab-
sicht – Eva Tichauer Moritz als Rednerin einladen, dies in der Erwartung, sie würde als Ver-
treterin der Jüdischen Gemeinde in Göttingen eine Rede zur Versöhnung halten. Zu beiden
Seiten des Rednerpults waren die Honoratioren der Stadt postiert, dazu Abordnungen von
Schützenverein, Polizei und Bundeswehr. Die Feier fand an der Werra statt, die von einer ho-
hen Mauer abgetrennt war.
Eva Tichauer Moritz erzählte in ihrer Rede von den 33 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde
in der 30er-Jahren, erinnerte an die Judenpogrome im November 1938, an die Schändung
der Synagoge. Dann wies sie auf die Mauer am Werra-Ufer und erinnerte daran, dass die
noch in der Stadt verbliebenen 22 Jüdinnen und Juden sich an eben dieser Mauer hatten
aufstellen und auf ihre Deportation in die Konzentrationslager warten müssen. Und dann fuhr
sie mit harter Stimme fort: „Solange in dem Pavillon dort dieser Spruch noch steht“ – und sie
wies auf einen etwa 30 Meter entfernten Pavillon, errichtet zum Gedenken an die Gefallenen
des Ersten Weltkriegs. In diesem Pavillon war in vergoldeten Lettern der von Goebbels kre-
ierte und von Hitler übernommene Spruch zu lesen: „Sie starben, damit Deutschland lebe“ –
„solange“, so sprach Eva Tichauer Moritz unerbittlich, „solange dieser Spruch noch steht, so
lange wird es keine Versöhnung geben“.
Die ganze Festgesellschaft erstarrte. Alle Einsichtigen waren tief bewegt.
Eva Tichauer Moritz starb, 78 Jahre alt, am 15. März 2023 in Chile, nahe dem Ort, an dem
sie geboren war. Sie ist auf dem Jüdischen Friedhof in Göttingen beigesetzt.
Ihre Verdienste für das wiedererstandene jüdische Leben in Göttingen mit der Wiederbele-
bung der Tradition des Lehrhauses sind nicht hoch genug einzuschätzen.
Das Jüdische Lehrhaus Göttingen steht in der Tradition des von Franz Rosenzweig gegrün-
deten und von 1920 bis 1927 bestehenden „Freien Jüdischen Lehrhauses“ zu Frankfurt.
Wer war Franz Rosenzweig?
Franz Rosenzweig (1886 – 1926) ist hervorgetreten zum einen als Übersetzer der Gedichte
von Jehuda ha-Levi (1074 – 1141), einem der bedeutendsten Dichter und Philosophen des
spanischen Mittelalters; sodann, zusammen mit Martin Buber, großer Teile der Hebräischen
Bibel, Übersetzungen von unwiderstehlicher expressiver Sprachkraft. Zum andern ist er einer
der bedeutendsten Denker jüdischer Religiosität im 20. Jahrhundert. In seinem Hauptwerk
Stern der Erlösung von 1921, das dem Denken von Heidegger und Husserl an die Seite zu
stellen ist, knüpft er an Goethes Begriff der „Urphänomene“ an und fragt: ob das philoso-
phisch-wissenschaftliche Denken, wie es sich im Abendland entwickelt hat, auch die Wirk-
lichkeit in ihrer Ursprünglichkeit erfasse und den wesentlichen Fragen des Menschen gerecht
werde, Fragen, die um die Themen Gott, Welt, Mensch kreisen, und auf die die mystisch ori-
entierte jüdische Religiosität Antworten geben könne.3
Aus diesem philosophischen Denken ist das von ihm in Frankfurt 1921 gegründete Freie Jü-
dische Lehrhaus entstanden. Seine Ziele sind:
• Es will den in der Diaspora lebenden Jüdinnen und Juden helfen, ihre Religion leben-
dig zu bewahren.
• Die dem Judentum entfremdeten Menschen sollen hier die Gelegenheit zur Rückkehr
zu ihrem Glauben bekommen.
• Menschen, die selber keine Juden sind, aber vom Geist und der Kultur des Juden-
tums sich angezogen fühlen, sollen Angebote erhalten, diese Welt kennenzulernen.
Der Lehrhaus-Gedanke wurzelt in der zweitausendjährigen Tradition des Judentums, einer
Tradition, in der das ständige und gemeinschaftliche Lernen im Mittelpunkt steht: Lernen
durch Textanalyse, Dialog, Argumentation, Diskussion, in Spruch und Widerspruch. Der Leh-
rer will hier nicht nur dozieren, sondern will den Lernenden zum eigenständigen Lernen ver-
helfen und versteht sich auch selbst als Lernender in der Gemeinschaft. Dabei soll die Re-
duktion des Jüdischen auf die Privatkonfession des Einzelnen aufgehoben und eine kollek-
tive jüdische Identität wieder erzeugt werden - dies durch „Rückkehr zu jüdischem Lernen, zu
jüdischen Quellen, zu jüdischem Leben“ (Eva Tichauer Moritz).
Weitere Lehrhäuser gibt es in Deutschland noch in Bamberg, Bonn, Essen und Frankfurt
a.M., in München eine Jüdische Volkshochschule. Eine verwandte Institution ist die „Gesell-
schaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“. Der alle zwei Jahre tagende Evangelische
Kirchentag eröffnet episodisch ein „Jüdisches Lehrhaus“.
Die Eröffnung des Jüdischen Lehrhauses Göttingen erfolgte in einer Feier am 16. Juni 2002,
bei welcher der damalige niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel als Schirmherr
des Lehrhauses fungierte. Die Festrede hielt Thomas Buergenthal, Professor für Völkerrecht
in den USA und Richter am UN-Gerichtshof in Den Haag. Er wurde als Siebenjähriger in die
KZs deportiert, überlebte Shoah und Todesmärsche und fand 1946 in Göttingen seine hier
geborene Mutter wieder. Die Göttinger Stadtbibliothek trägt seinen Namen als „Thomas-Bu-
ergenthal-Haus“.
Eva Tichauer Moritz sel. A. und Sigmar Gabriel bei der Eöffnungsfeier
Foto ©: Cordula Tollmien
Seitdem finden bis heute alle ein oder zwei Monate Lernnachmittage statt, sonntags von
16.00 bis 19:00 Uhr. Diese finden immer regen Zuspruch, und oft sind über fünfzig Teilneh-
mer anwesend. Es werden unterschiedliche Themen behandelt, teils von auswärtigen, teils
von eigenen Referenten. Hier eine Auswahl:4
•
Die Bedeutung der jüdischen Feiertage wie Rosch Haschana, Sukkot, Jom Kippur,
Chanukka, Purim, Pessach
• Die Bewertung der Homosexualität im Judentum
• Die Erzählungen von der Sintflut und die Bedeutung Noahs
• „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“: Martin Bubers Bedeutung für das Bild vom
Menschen und die Psychotherapie
• Emmanuel Lévinas, Ethik und Religionsphilosophie
• Die Bedeutung Esters für die heutige Frau
• Heinrich Heine, Jude und Deutscher
• Mathematik in Göttingen: Emmy Noether und Paul Bernays
• „Auschwitz – Göttingen – USA. Stationen im Leben von Thomas Buergenthal“. Vor-
führung eines Video-Interviews mit Buergenthal am 9. Nov. 2022
• „Weiter leben“: das Leben der Ruth Klüger
• Wie reagieren auf den Antisemitismus in Deutschland?
• Jiddische Lieder zum Mitsingen und Lernen mit einer Klezmer-Band
• Jüdische Komponistinnen und Komponisten seit dem 19. bis zum 20. Jahrhundert,
insbesondere die verfemten wie Schulhoff und Ullmann, dies mit Vorführungen am
Klavier durch eine Studentin der Musikhochschule Hannover
• „Das Drama vom Geld und dem Juden“. Geldwirtschaft und Antisemitismus in Shake-
speares „Kaufmann von Venedig“
• Jüdische Dichterinnen und Schriftstellerinnen: Gückel von Hameln, Mascha Kaléko,
Hannah Arendt, Ruth Klüger
• Das jüdische Prag. Die Geschichte des Prager Judentums
• Kafka und das Judentum, insbesondere die Erzählung „Vor dem Gesetz“ in unter-
schiedlichen Interpretationen, von der Kabbala bis zu Derrida
• „Der Mensch muss weg!“ Eine Hommage von zwei Künstlerinnen für Georg Kreisler
mit Gesang und Klavierbegleitung
Im Jahr 2025:
• Das Jiddische: Klang, Poesie, Dialektik, Humor. In Deutschland fast ausgelöscht,
doch weltweit lebendig
• Der Dirigent Otto Klemperer
• Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft
• 9. November: Die Todesmärsche 1944/45. Die Verlagerung des Massenmords aus
den Todesfabriken auf die Straße
• Antisemitismus und Israel-Hetze in den Sozialen Medien
Als Ausblick diene der damals wie heute dringliche Aufruf von Franz Rosenzweig aus dem
Jahr 1917:
Das jüdische Bildungsproblem auf allen Stufen und in allen Formen ist die jüdi-
sche Lebensfrage des Augenblicks. Denn wahrhaftig, die Zeit zum Handeln ist
gekommen: „Zeit ist‘s zu handeln für den Herrn – sie zernichten deine Lehre.“
(Psalm 119, V. 126)
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Vorstand des Jüdisches Lehrhauses, Verf.: Hermann Engster
Sonntag, den 3. August 2025 , 18 Uhr -- Haus Ohrbeck Am Boberg 10 49124 Georgsmarienhütte
DIE BIBELWOCHE
Zur Jüdisch-Christlichen Bibelwoche treffen sich seit mehr als fünfzig Jahren Juden und Christen aus Deutschland, England und den Niederlanden, aus den USA, Israel oder anderen Ländern, Fach- leute und Interessierte, um gemeinsam biblische Texte auf dem Hintergrund der jeweiligen Tradi- tionen zu lesen. Bis 2003 fand die Bibelwoche im Hedwig-Dransfeld-Haus im rheinischen Bendorf statt, seither in Haus Ohrbeck bei Osnabrück.
BIBELWOCHE 2025
Im Mittelpunkt der diesjährigen Bibelwoche steht das Buch Daniel, Kapitel 7 bis 12. Alle, die sich für die Bibel und das jüdisch-christliche Gespräch interessieren, sind zu dieser außergewöhnlichen Begegnung mit Texten und Menschen herzlich eingeladen – langjährige Teilnehmer:innen ebenso wie neue Gäste.
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Katholische Bildungsstätte
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